26.
M
ir kommt ein Gedanke. Es könnte sein, dass die Polizistin zusammen mit der Schwester hereinkommen wird. Das war zwar bisher nie der Fall, aber die Lage hat sich mit meiner Verhaftung verändert. Ich stehe unter Mordverdacht. Man will mich in die Klinik einer JVA bringen. Vielleicht ist es aus Sicherheitsgründen erforderlich, dass ich nicht mehr ohne Polizeischutz versorgt und verarztet werden darf. Es könnte ja sein, dass ich der Schwester oder einem Arzt etwas antue. Das Herz schlägt mir bis zum Hals. Dann fällt mir ein: Das medizinische Personal war bereits einmal bei mir, nachdem Knud die offizielle Verhaftung ausgesprochen hatte. Das kann etwas bedeuten, muss aber nicht. In jedem Fall sollte ich vom schlechtesten Fall ausgehen.
Mein Herz schlägt noch schneller, als ich Schritte auf dem Flur höre und Geräusche vor der Tür. Stimmen. Der Türgriff bewegt sich, wird nach unten gedrückt. Eine Krankenschwester kommt herein. Sie lässt die Tür offen stehen. Ich schaue an ihr vorbei auf den Flur und sehe rechts neben dem Eingang zu meinem Zimmer die Polizistin sitzen. Sie ist allein, hat schwarze Haare und dunkle Haut, trägt eine Uniform. Unsere Blicke treffen sich, als sie in das Zimmer herein- und der Pflegerin hinterherschaut. Dann wendet sie sich ab und blickt auf ihren Schoß, auf dem ein Smartphone liegt. Vielleicht spielt sie oder verschickt Textnachrichten. Jedenfalls macht sie keine Anstalten, aufzustehen und ebenfalls hereinzukommen. Es scheint ihr zu reichen, dass die Schwester die Tür offen stehen lässt.
Aber ich sehe, dass die Tür sehr langsam wieder zufällt. Sie scheint nicht korrekt in den Angeln zu hängen, verzogen zu sein, oder es gibt einen Luftzug. Die Polizistin daddelt weiter auf ihrem Telefon herum.
»Wie geht es Ihnen?«, fragt die Schwester mit einem künstlichen Lächeln und kommt näher.
»Schlecht«, sage ich.
Die Schritte ihrer Gummiclogs quietschen auf dem Boden. Entweder scheint es sie nicht zu interessieren, dass ich inzwischen von einem Opfer zu einer mutmaßlichen Täterin geworden bin, oder sie weiß es nicht oder sie überspielt es gekonnt. Sie hält ein Tablett in den Händen, auf dem eine Teetasse und ein abgedeckter Teller stehen. Außerdem sehe ich ein Döschen mit Pillen. Die Schwester hat ein Blutdruckmessgerät und ein Schreibbrett unter den Arm geklemmt und wirkt von der Statur her recht schmal. Sie hat meine Haarfarbe, trägt die Haare zum Dutt gebunden und dürfte in meinem Alter sein, ist aber ganz bestimmt kleiner als ich und hat eine randlose Brille auf der Nase sitzen. Aus der Seitentasche ihres weißen Kittels baumeln die Schläuche eines Stethoskops.
»Schlecht?«, fragt sie und stellt das Tablett auf dem Tischchen ab, das an meinem Bett befestigt ist. Neben die noch fast volle Mineralwasserflasche. »Soll ich einen Arzt rufen?«
»Nicht nötig«, erwidere ich und reibe mir die Schläfen.
»Kopfweh?«
Ich nickte. »Kopfweh – und insgesamt geht es mir schlecht. Emotional.«
»Mir würde es auch schlecht gehen, wenn ich eine Polizistin vor der Tür sitzen hätte«, sagt die Schwester und ringt sich ein Lächeln ab. »Sie sollen morgen in die JVA verlegt werden, habe ich gehört.«
»Ja. Falls ich transportfähig bin. Ich habe das Gefühl, dass ich das wohl sein werde.«
Ich sehe, dass hinter ihr die Tür langsam und leise ins Schloss fällt. Die Polizistin scheint es nach wie vor nicht zu bemerken oder nicht zu interessieren.
»Das wird der Stationsarzt beurteilen«, sagt die Schwester. Ich finde sie nett. Deswegen tut mir leid, was ich gleich tun werde, falls ich mich traue.
»Nehmen Sie die Tabletten gegen die Schmerzen. Wer hat Ihnen die Infusion aus dem Zugang gezogen?«
Ich zucke mit den Schultern. »Ist wohl nicht mehr nötig.«
»Waren Sie das selbst?«
»Kann sein, dass sie mir im Schlaf herausgerutscht ist. Ich weiß es nicht.«
»Das rutscht nicht raus.«
Ich zucke wieder mit den Schultern.
»Na ja, ich mache das gleich. Erst mal messen wir den Blutdruck, Puls, Sie kennen das ja.«
Ich nicke, kremple meinen Ärmel hoch und strecke der Schwester den linken Arm hin, in dem auch der Zugang sitzt. Sie legt die Manschette um meinen Oberarm, pumpt sie auf. Über sie hinweg blicke ich wieder zur Tür. Sie ist nach wie vor geschlossen. Keine Polizistin in Sicht. Ich presse die Zähne aufeinander, hebe die rechte Hand etwas an und lege sie auf dem Tischchen neben dem Tablett ab. Die Schwester beugt sich etwas über mich, prüft den Blutdruck und greift nach dem Stethoskop in ihrer Kitteltasche.
Und ich greife nach dem Hals der Mineralwasserflasche und hasse mich. Aber ich habe keine Wahl. Es trifft immer die, die mit nichts etwas zu tun haben. Zum Beispiel mich. Und in wenigen Sekunden auch meine Krankenschwester. Sie betrachtet die Anzeige des Blutdruckmessgeräts und will irgendetwas mit dem Stethoskop anfangen.
Sie sagt: »Ihr Puls rast. Vielleicht sollten wir doch den Arzt holen.«
»Nicht nötig«, erwidere ich.
Meine Finger schließen sich um das Glas. Dann schwinge ich die Flasche mit einer kräftigen Bewegung durch die Luft. Mit einem schrecklich hohlen Geräusch trifft sie auf den Hinterkopf der Frau. Sie gibt einen leisen Seufzer von sich und sackt auf meinem Bett zusammen, als habe man die Luft aus ihr herausgelassen. Der Oberkörper liegt über meinen Beinen. Die Flasche ist ganz geblieben – vermutlich, weil sie noch sehr voll ist.
»Es tut mir leid, tut mir so leid …«, flüstere ich wie ein Mantra und begutachte den Hinterkopf der Frau.
Ich sehe kein Blut. Keine Platzwunde. Ich hoffe, ich habe sie nicht schwer verletzt. Ich bete, dass ich es nicht getan habe und dass sie nur Kopfschmerzen und eine dicke Beule davontragen wird. Ich halte die Hand vor ihren Mund, spüre ihren flachen Atem. Meine zitternden Finger greifen nach ihrem Handgelenk. Der Puls ist da. Gott sei Dank, denke ich.
Immer wieder blicke ich zur Tür. Sie ist weiterhin geschlossen. Ich ziehe meine Beine unter ihr fort und zerre die Schwester an den Schultern auf das Bett. Ich streife das Blutdruckgerät von meinem Oberarm. Dann beginne ich, ihr die weiße Kleidung aus- und mir anzuziehen. Ich streife die Gummiclogs von ihren Füßen und fühle mich dabei wie eine Leichenschänderin, wie ein entsetzlicher Ghul. Dann schlüpfe ich hinein. Ich nehme ihr die Brille ab und setze sie mir auf, binde mir die Haare wie sie zusammen und sage etwas, damit die Polizistin vor der Tür auch weiterhin Stimmen aus dem Zimmer hört. Ich schnappe mir die Pillendose, stecke sie ein, nehme das Blutdruckgerät und das Stethoskop und ziehe die Bettdecke über die Pflegerin.
Ich drehe mich zur Tür, höre mich selbst schwer atmen und knirsche mit den Backenzähnen. Ich will das Zimmer nicht verlassen. Ich will hier drinnen bleiben, denn hier ist es sicher. Hier passiert mir nichts. Ich will zurück ins Bett schlüpfen, mir die Decke über den Kopf ziehen und dieses Zimmer niemals wieder verlassen. Aber es ist zu spät. Ich schließe die Augen.
Reiß dich zusammen.
Du schaffst das.
Augen zu und durch.
Ich balle die Fäuste und lasse die linke Hand, in der der Zugang steckt, in der Kitteltasche verschwinden. Dann setze ich mich in Bewegung.