27.
I
ch öffne die Zimmertür und weiß, dass es keinen Weg zurück gibt. Ich betrete den Flur, spüre den Blick der Polizistin auf mir und schaue mit einem Lächeln zurück.
»Alles okay«, sage ich leise. »Schönen und ruhigen Abend noch.«
Die Polizistin betrachtet mich, nickt mir mit dem Handy in der Hand zu.
»Ebenfalls.«
Ich marschiere einfach weiter, schnell, aber nicht zu schnell, auf den Ausgang der Station zu. Die Sohlen der Clogs quietschen auf dem Boden. Nur noch wenige Meter bis zur Schiebetür, die mich von den Fahrstühlen trennt. Ich kann sie durch das Glas bereits sehen.
»Hallo?«, höre ich hinter mir eine Stimme durch den Flur hallen.
Das ist die Polizistin. Ich zucke zusammen, gehe aber einfach weiter, so als habe ich nichts gehört oder sei in Gedanken. In der Spiegelung der Glasscheiben vor mir sehe ich, dass die Beamtin aufgestanden ist, aber sich weit hinter mir befindet.
»Hallo?«, ruft sie wieder. »Bleiben Sie bitte mal kurz stehen?«
Mist. Verflucht. Sie hat den Braten nun doch gerochen. Wie konnte ich auch annehmen, sie würde es nicht tun? Für einige Augenblicke war sie überrumpelt, aber dann …
Und jetzt?
Was jetzt?
Geh weiter.
Einfach weiter.
Die Schiebetür öffnet sich automatisch. Ich biege nach rechts ab, wo sich das Treppenhaus samt Fahrstühlen befindet. Einer davon steht bereit. Ich schaue kurz über die Schulter und sehe, wie die Polizistin in meinem Zimmer verschwindet. Es ist klar, was sie dort finden wird und welche Schlüsse sie daraus zieht. Es ist ebenfalls klar, wie sie handeln wird: Alarm schlagen und mich verfolgen.
Mir bleibt nicht viel Zeit.
Ich drücke auf den Anforderungsknopf am Fahrstuhl. Mit einem Zischen öffnen sich die Edelstahltüren. Ich gehe hinein und drücke mit zitterndem Daumen auf das Symbol mit dem »E«.
Es dauert unerträgliche Sekunden, bis sich die Schiebetür schließt und sich die Kabine in Bewegung setzt. Das übliche Gefühl im Bauch, wenn ein Fahrstuhl nach unten fährt, fühlt sich gerade um ein Vielfaches verstärkt an. Mir ist schlecht vor Aufregung. Ich habe das Gefühl, mich übergeben zu müssen, schaffe aber, es zu unterdrücken. Die Fahrstuhltüren öffnen sich wieder und geben den Blick frei auf einen langen Flur, der ins Klinik-Foyer führt. Von dort aus geht es, an einer Cafeteria und dem Infotresen vorbei, nach draußen.
Ich trete aus der Kabine und gehe mit schnellen Schritten voran. Menschen sehe ich kaum, aber mein Blick ist ohnehin auf den Ausgang fixiert. Dazwischen schaue ich nach links und rechts, ob irgendwo eine Polizistin auftaucht, sehe aber keine. Doch ich bin mir sicher, dass sie hinter mir her ist.
Endlich bin ich draußen. Einige Patienten stehen vor der Tür und rauchen. Es ist warm. Mir selbst ist heiß. Ich meine, hinter mir schwere Schritte zu hören, drehe mich aber nicht um. Ich gehe eilig weiter die Treppe hinab.
Dann renne ich los.
Die verdammten Clogs behindern mich. Ich stoppe kurz, ziehe sie aus, blicke über die Schulter zurück und bilde mir ein, die Polizistin aus der Klinik kommen zu sehen. Ich nehme die Schuhe in die Hand und laufe barfuß weiter, eine Straße entlang, bis ich schließlich in einen Park einbiege und immer weiterlaufe.
Meine Lungen brennen. Mein Kopf dröhnt. Mir ist übel und schwindelig, aber ich bleibe nicht stehen.
Ich spüre Gras unter den Füßen, dann scharfen Splitt, den ich ignoriere. Ich habe keinen Schimmer, wo ich bin, aber ich renne. Renne um mein Leben, um meine Freiheit zu behalten. Ich biege nach links vom Weg ab, dränge mich durch Büsche und Unterholz. Äste schlagen mir ins Gesicht. Tannenzapfen und Steine stechen in meine bloßen Sohlen. Ich höre mich selbst weinen und wimmern und keuchen und sage mir, dass ich mich beherrschen soll.
Dann stehe ich auf einem Bürgersteig an einer Straße. Sie ist einsam, schwach beleuchtet. Ich höre ein Martinshorn in der Ferne – keine Ahnung, ob es von einem Krankenwagen stammt oder ob es eine Polizeisirene ist. Ich tippe auf die Polizei.
Schlagartig werde ich mir meiner Situation bewusst. Die Erkenntnis trifft mich wie ein Bus in voller Fahrt und drückt mich nach unten.
Ich bin auf der Flucht und werde als Mörderin gesucht. Ich habe eine Frau niedergeschlagen. Ich habe kein Geld, kein Auto, kein Telefon, keine Papiere. Ich bin in einer Stadt, die ich nicht kenne, und bin außerdem noch angeschlagen und verletzt. Ich habe nichts zu essen und nichts zu trinken und keine Ahnung, wie ich von hier aus an den Fjord und ins Haus in den Dünen gelangen soll. Ich habe nur mich und das Wissen, dass ich unschuldig bin, und hoffe, dort, am Fjord, den Beweis dafür zu finden.
Ich halte mich am Mast der Straßenlampe fest, aber meine Beine geben nach. Ich falle auf die Knie, spüre, dass sich mein Magen zusammenkrampft, und muss mich beinahe übergeben. Ich heule Rotz und Wasser und zucke zusammen, als mich jemand an der Schulter berührt. Ich blicke auf und sehe in das besorgte Gesicht einer älteren Frau. Sie hat einen Hund an der Leine.
»Geht es Ihnen gut? Was ist denn los?«, fragt sie.
Ich schluchze. »Ich bin überfallen worden«, höre ich mich lügen.
Ich blicke auf, kann die Frau aber nicht erkennen, weil ich genau in das Licht der Laterne schaue. Von der gegenüberliegenden Straßenseite kommt jemand. Es ist ein älterer Mann, weißhaarig mit einem ebenso weißen Bart. Er trägt einen dunklen Mantel und eine Brille.
»Ein Überfall«, höre ich die Frau sagen und rapple mich wieder auf.
»Wie geht es Ihnen?«, höre ich die Worte des Mannes. »Kann ich helfen?« Er berührt mich an der Schulter. Ich schüttle seine Hand ab. Solche Aufmerksamkeit kann ich gerade überhaupt nicht gebrauchen.
»Nein, danke …«
Ich massiere mir die Augen, blicke mich um. Lichtflecken tanzen auf meiner Netzhaut.
»Ich helfe ihr schon«, sagt die Frau.
»Sicher?«, fragt der Mann.
Beide scheinen nicht zusammenzugehören.
»Alles in Ordnung. Wir kommen klar. Suchen Sie im Park lieber nach dem Räuber«, sagt die Frau. Dann hakt sie mich unter und führt mich regelrecht ab.
»Kommen Sie!«, sagt sie zu mir.
Der alte Mann bleibt unter der Straßenlaterne zurück. Ich zucke kurz zusammen, als ich die Geräusche höre, als er mit der Fernbedienung sein Auto öffnet. Ich glaube, es ist ein BMW.