31.
D
er Wagen kommt aus Richtung Ringkøbing. Mir bleibt fast das Herz stehen. Sie werden mich garantiert stoppen, denn ich bin auf einer Bundesstraße unterwegs, an der es keinen Radweg gibt, und ich glaube, das darf man nicht. Instinktiv halte ich die Hand nach rechts und biege in die Straße ab, die an dieser Stelle einmündet.
Tu so, als sei es ganz selbstverständlich.
Du bist auf dem Heimweg.
Alles ganz normal.
Benimm dich so, als würdest du nach Hause fahren wie jeden Abend. Sie sollen denken, dass du hier wohnst, damit sie nicht auf die Idee kommen, dich zu kontrollieren. Sei ganz natürlich. Dein Haus. Dein Feierabend. Den Polizeiwagen siehst du gar nicht. Und selbst wenn, dann ist ja nichts Schlimmes daran, einen Polizeiwagen zu sehen, man sieht dauernd welche, das hat nichts mit dir zu tun.
Nichts. Mit. Dir.
Ich höre das Motorengeräusch hinter mir, was nur bedeuten kann, dass die Streife ebenfalls abgebogen ist. Rasch halte ich die Hand nach rechts und biege in die geschotterte Einfahrt eines Wohnhauses ab. Dort brennt Licht. Ich steige aus dem Sattel, schiebe das Rad über den Kies und bemerke einen Lichtreflex hinter mir. Ich schaue über die Schulter zurück, gehe aber weiter. Der Polizeiwagen fährt langsamer. Jemand sieht mir von der Beifahrerseite aus hinterher. Da bin ich mir ganz sicher. Meine Beine wollen nachgeben, aber ich schiebe das Rad noch einige Meter und stelle es dann am Haus ab und tue so, als würde ich in meiner Jacke nach dem Schlüssel suchen. Ich gehe zur Haustür.
Der Polizeiwagen fährt weiter.
Ich sende ein Stoßgebet zum Himmel. Ich schwitze. Mein Atem rast. Es hört sich an, als würde der Polizeiwagen in eine Einfahrt setzen, um zu wenden.
Ich mache zwei Schritte zur Seite, wo sich eine Garage befindet. Das Tor steht offen. Mit zwei weiteren Schritten bin ich drin und presse mich an die Wand und neben einen SUV, damit mich die Polizisten nicht sehen, falls sie noch einen Blick in die Einfahrt werfen. Sie sollen denken, dass ich inzwischen im Haus bin.
Es riecht nach Benzin und Abgasen. Ich halte mir selbst den Mund zu – auch um mein Wimmern zu unterdrücken. Ich nutze den Ärmel der Jacke, die einmal Lottes Tochter gehörte, wie einen Schalldämpfer für meinen Atem. Das Motorengeräusch klingt, als würde der Streifenwagen zurückkommen und langsam fahren. Wieder sehe ich einen Lichtreflex, der von der Einfahrt her kommt. Dann ist er fort. Der Wagen beschleunigt und fährt zurück zur Kreuzung. Schließlich verschwindet sein Geräusch in der Nacht.
Ich schluchze auf und warte eine weitere Minute. Dann noch eine. Ich blicke zum Haus hinüber, zu dem dort abgestellten Fahrrad. Es scheint mich niemand bemerkt zu haben. Die Bewohner sehen wahrscheinlich fern oder sind schon im Bett, haben aber die Außenbeleuchtung angelassen.
Ich versuche, einen Blick in den Wagen zu werfen, sehe keine Uhr. Dafür sehe ich in der Garage ein Regal, in dem sich verschiedene Sachen befinden: Gartengeräte, Werkzeug … Ich greife nach einem spitzen Schraubenzieher und stecke ihn ein. Zur Not, denke ich, kann ich mich damit zur Wehr setzen. Außerdem ist da eine Taschenlampe. Ich probiere sie aus, und sie funktioniert. Ich schalte sie sofort wieder aus. Im Lichtschein habe ich eine Latzhose gesehen. Sie ist grün, vermutlich für die Gartenarbeit. Ich nehme sie aus dem Fach und ziehe sie an, um damit meine weiße Krankenhaus-Hose zu verstecken. Brauchbare Schuhe sehe ich leider nicht, denn die Gummiclogs mögen noch so bequem sein, aber ich werde garantiert Blasen bekommen. Das spüre ich jetzt schon. Im Regal steht eine Flasche Sprudel. Ich schraube sie auf. Mineralwasser. Ich nehme einen Schluck. Es scheint okay zu sein. Also stecke ich die Flasche in die Jackentasche.
Schließlich verlasse ich die Garage und nehme mein Fahrrad. Ich schiebe es zurück auf die Straße, sehe mich um und setze mich wieder in den Sattel, um mich zur Kreuzung rollen zu lassen.
Mein Hintern tut inzwischen etwas weh. Die Waden spannen. Zwei Hinweisschilder zeigen an, dass es links zurück nach Holstebro geht – von dort bin ich gekommen. Rechts geht es nach Ringkøbing. Es sind noch dreißig Kilometer bis zu der Stadt. Aber bis nach Ulfborg nur noch acht. Ringkøbing liegt im Südwesten. Die Nordsee ist im Westen. Von Ulfborg aus, denke ich, sollte ich zur Küste gelangen. Und von dort aus ist es dann nicht mehr weit.
Ich frage mich, ob ich es riskieren kann, weiter auf der Bundesstraße zu radeln. Die Alternative wäre, abseits, aber parallel der Straße zu Fuß zu gehen. Das wird in den verdammten Schlappen nicht klappen, und ich kann wohl kaum barfuß laufen. Das wäre noch schlimmer. Also biege ich nach rechts in Richtung Ulfborg ab und fahre weiter.