32.
T
ine stöhnt genervt und umklammert den Kaffeebecher mit beiden Händen. Sie starrt aus dem Fenster des Lage- und Besprechungsraums in der Polizeibehörde. Die Lichter der Straßenlampen und der Häuser spiegeln sich von außen, die Deckenbeleuchtung, das Whiteboard und einige eingeschaltete Monitore sowie die verschwommenen Umrisse von Menschen von innen. Sie laufen hinter Tine hin und her. Im Glas sehen sie aus wie Geister. Nur ein Geist ist unbeweglich – der von der Polizistin, die Livs Zimmer bewachen sollte und es vergeigt hat.
Sie tut Tine etwas leid, denn irgendwie haben es ja alle vergeigt. Ihr gibt man nun die Schuld dafür, dass eine verhaftete Mordverdächtige aus einem bewachten Zimmer geflohen ist und eine Krankenschwester bewusstlos geschlagen hat. Die Frau ist zum Glück nicht schwer verletzt worden, und im Krankenhaus hat man sich sofort um sie kümmern können.
Aber alle hätten besser aufpassen müssen, findet Tine – sie inklusive. Man hätte damit rechnen müssen, dass Liv nach der Verhaftung eine Sicherung durchbrennen könnte und Fluchtgefahr besteht. Andererseits hätte man eben nicht damit rechnen können, dass sie aufersteht wie Lazarus, eine Schwester ausknockt und deren Sachen anzieht, um aus dem Zimmer an einer bewaffneten Polizistin vorbei zu fliehen, weil Menschen so etwas zu 99,9 Prozent nicht tun, wenn sie keine professionellen Schwerkriminellen sind.
Also: Dass es grundsätzlich passieren kann, daran haben sie ja auch gedacht, aber es saß halt nur eine einzelne Polizistin vor der Tür, doch es hätten zwei sein müssen. Und am besten vor der Tür draußen noch einen Streifenwagen, hat der Chef gesagt, als er Tine und Knud vorhin einen Einlauf verpasst hat. Ganz toll. Hinterher ist man bekanntlich immer klüger. Aber das hilft kein Stück weiter.
Trotzdem tut die Kollegin Tine leid, die auf dem Stuhl hockt, ihre Hände knetet und hin und her schaut, während alle um sie herumlaufen und -surren wie ein Bienenschwarm – denn sie wird sich ohne Zweifel sagen: Das tun alle nur meinetwegen, weil ich nicht gut genug aufgepasst habe. Die Kacke ist meinetwegen am Dampfen, und alle müssen ihren verdienten Feierabend aufgeben und eine Nachtschicht einlegen, weil ich so dämlich war, die Verhaftete entkommen und mich auch noch von ihr verarschen zu lassen.
Aber helfen, denkt Tine und fokussiert wieder auf die Welt auf der anderen Seite der Scheibe, kann ich der Kollegin nicht. Damit muss sie alleine klarkommen, ich habe andere Probleme.
Nämlich: Wo da draußen, zum Teufel, ist Liv Solberg unterwegs?
Ist sie nur geflohen, um sich der Verhaftung zu entziehen? Oder hat sie einen Plan?
»Das Warum ist doch egal«, hat Knud eben gemeint. Das sieht Tine anders. Sie denkt vielmehr, dass das Warum essenziell ist, um Anhaltspunkte für Livs Aufenthaltsort herauszufinden. Wenn jemand flieht, um sich in Sicherheit vor der Polizei zu bringen, wird er ganz andere Fluchtorte und -routen wählen als jemand, der ein Ziel vor Augen hat und sich zum Beispiel rächen will – oder herausfinden, ob er verrückt ist oder Opfer einer Intrige. Das wären die rationalen Motive. Die irrationalen sind problematischer.
Nach Tines Meinung gelten für Liv eher die rationalen Motive. Sie hat während der Vernehmungen den glaubhaften Anschein erweckt, dass sie absolut nicht weiß, was an dem Tatabend wirklich passiert ist. Sie scheint davon überzeugt, dass es ein Tagebuch gab oder dieses »Heimdall«-Projekt und dass ihre Freundin Vigga schwanger war. Dass Liv davon überzeugt ist – und im Übrigen auch davon, dass Magnus sie töten wollte und nicht sie ihn –, mag mit ihrer Amnesie und einem Trauma zusammenhängen. Aber, denkt Tine, das wird auch ihr Handeln bestimmen. Es sei denn, alles ist erstunken und erlogen, aber das glaubt Tine eher nicht. Es ist … alles ziemlich verrückt, denkt Tine, und ihre Sicht auf die Dinge hat sich seit Livs Flucht aus dem Krankenhaus tatsächlich ein wenig verschoben.
Für eine Lügengeschichte hat die Story, die Liv der Polizei aufgetischt hat, zu viele Passagen enthalten, die sozusagen unsicher waren. Das heißt: Wenn Liv über ein nicht existentes Tagebuch gelogen hätte, hätte ihr ja klar sein müssen, dass die Polizei ein solches Tagebuch nicht gefunden haben kann – denn es gibt ja offensichtlich keines. Es wäre folglich dämlich, darüber eine Lügengeschichte zu erzählen. Lügen sind nur dann sinnvoll, wenn sie die Wahrheit und belegbar sein könnten. Ein Tagebuch zu erfinden, das nach Livs Version das Motiv für Magnus gewesen wäre, Liv zu Tode zu stürzen …
Es ist quasi der Dreh- und Angelpunkt in Livs Geschichte, denkt Tine. Magnus hätte kaum eine Möglichkeit gehabt, es verschwinden zu lassen. Außerdem hat die Polizei alles abgesucht. Die Spurensicherung hat das Haus und das Areal von links auf rechts gezogen. Nirgends wurde ein Tagebuch entdeckt. Kein verbranntes Papier. Gar nichts.
Bleibt nur die Schlussfolgerung, dass Liv sich einbildet, es gäbe ein solches Tagebuch. Oder es war noch eine dritte Person im Spiel, aber … Nein, wahrscheinlicher erscheint im Moment, dass Liv es sich so intensiv einbildet, dass sie glaubt, es existierte wirklich – und damit machen Schein und Sein für sie keinen Unterschied mehr. Ihre Version der Wahrheit hält sie für die richtige Version – und so wird sie nach Tines Einschätzung auch handeln.
Sie trinkt einen Schluck Kaffee und dreht sich um. Sie schaut Knud dabei zu, wie er auf zwei Kollegen einredet und sich mit ihnen wieder die Videoaufnahmen der Überwachungskameras aus dem Krankenhaus ansieht und die Polizistin namens Marie hinzubittet, die verkrampft nickt und zum Whiteboard geht.
Tine folgt ihr.
»Also noch mal«, sagt Knud, und Marie gibt ihre Sichtweise des Geschehens erneut wieder.
»Ich wusste nicht, wie Liv Solberg aussieht«, sagt sie am Ende. »Echt nicht. Ihr habt mich nicht in das Zimmer geführt und mir kein Foto gezeigt, und ich bin auch nicht mit reingegangen. Okay, das war ein Fehler. Klar. Aber nicht meiner alleine. Die Krankenschwester habe ich auch nur kurz gesehen. Sie ist reingegangen. Ich habe kurz aufgeschaut. Dann kam sie wieder heraus. Es dauerte etwas, bis mir klar wurde, dass die Personen nicht dieselben waren. Ich habe doch nicht damit gerechnet, dass Liv die Frau bewusstlos schlagen und ihre Kleidung anziehen würde …«
»Waren Sie abgelenkt?«, fragt Knud.
Marie zuckt mit den Achseln, will etwas sagen, tut es dann aber doch nicht.
»Waren Sie …«
Tine geht dazwischen. »Wir müssen das nicht wieder und wieder durchkauen. Wir wissen, wie Liv entkommen ist. Wir müssen sie fassen. Das hat Priorität. Also überlegen wir lieber, wo sie sein könnte und was sie will.«
»Wir haben alles draußen, was Dienst und Räder hat«, sagt Knud. »Keine Spur von ihr. Fußstreifen, Zivile, Hunde, ich habe sogar einen Hubschrauber mit Wärmebildkamera angefordert. Sie kann nicht weit sein.«
»Nein«, sagt Tine, »kann sie nicht. Sie ist zu Fuß unterwegs, sie ist verletzt, sie hat kein Geld, keine Papiere und trägt Schwesternkleidung. Sie kann die Stadt nicht verlassen haben.«
»Per Anhalter?«, fragt Marie.
Knud schüttelt den Kopf. »Daran glaube ich nicht. Wir haben Fahndungsfotos herausgegeben, außerdem eine Fahndung per Radio. Wer nimmt denn eine Krankenschwester mit, die einen verwirrten Eindruck macht?«
»Vielleicht wirkt sie nicht verwirrt«, sagt Tine.
»Trotzdem.« Knud brummt.
Er ist nicht überzeugt, und Tine ist es auch nicht. Per Anhalter … Nein. Eher nicht. Heutzutage sind ohnehin kaum noch Anhalter unterwegs, und es gibt viel weniger Menschen als früher, die bereit sind, welche mitzunehmen. Erst recht nicht, wenn ihnen etwas merkwürdig erscheint. Und eine Krankenschwester am Straßenrand mitten in der Nacht? Eher merkwürdig. Okay, man könnte annehmen, dass sie Hilfe braucht, und deswegen stoppen.
Aber … Nein. Liv würde das Risiko nicht eingehen wollen, denkt Tine. Sie hätte nicht die Nerven, sich mit dem Daumen im Wind an eine Straße zu stellen, bis endlich jemand anhält – denn das könnte ein ziviler Polizeiwagen sein. Außerdem muss sie damit rechnen, dass nach ihr mit einem Foto gefahndet wird, was ja auch der Fall ist. Damit scheiden auch Taxifahrer aus, Busse, Bahn – alles, wo es Überwachungskameras gibt. Abgesehen davon hat sie kein Geld.
Knud und Tine sehen einander eine Weile schweigend an. Tine liest an Knuds Gesicht ab, dass er dasselbe denkt wie sie und gedanklich alle Möglichkeiten abklappert.
»Wenn sie noch in der Stadt ist oder zu Fuß unterwegs, ergreifen wir sie spätestens morgen früh«, sagt Knud. »Soweit wir wissen, hat sie keinerlei private Kontakte in Holstebro, und die Stadt ist nicht groß. Falls sie sich in irgendeinem Verschlag oder einer Garage verkrochen hat, spüren wir sie mit den Hunden auf. Sie hat eigentlich keine Chance.«
»Ich glaube nicht«, sagt Tine, »dass sie in der Stadt bleiben will.«
»Nein«, antwortet Knud. »Sie wird nach Kopenhagen wollen, nach Hause, um sich dort mit Geld, Kleidung und eventuellen Reisepapieren auszustatten beziehungsweise bei Bekannten Unterschlupf zu finden. Sie wird nach dem Vertrauten suchen.«
»Das meine ich nicht.«
»Was denn?«
»Du meinst, warum sie geflohen ist?«, fragt Marie und zuckt bei Knuds Seitenblick zusammen, der besagt: Sie ist geflohen, weil du Kuh nicht aufgepasst hast.
»Genau«, sagt Tine und nickt zu Marie. »Warum.«
»Weil sie sich der Verhaftung entziehen will, ganz einfach?« Knud vergräbt die Hände in den Hosentaschen.
»Ich glaube eher Folgendes: Falls sie uns keine Lügengeschichte aufgetischt hat, sondern wirklich davon überzeugt ist, recht zu haben, geht es ihr um mehr als nur um die Angst, verhaftet zu werden.«
»Tine.«
»Knud.«
»Tine, sie würde so oder so alles dransetzen, uns von ihrer Unschuld zu überzeugen. Wozu soll sie da weglaufen? Es wäre doch viel sinnvoller, uns mit der Hilfe eines gewieften Anwalts zu bearbeiten. Wenn ihr allerdings klar ist, dass das nichts wird – dann flieht sie eben. Ein klares Schuldeingeständnis.«
Tine zuckt mit den Achseln und blickt auf die Uhr. Kurz nach Mitternacht. Sie sagt mit einem Seufzer: »Tragen wir erst mal alles zusammen, was wir über ihr Privatleben wissen – Freunde, Bekannte, Kollegen, Familie, basteln uns einen Fahndungsplan für die Region über Holstebro hinaus und telefonieren mit den jeweils zuständigen Polizeidirektionen und betteln um Hilfe.«
»Gute Idee«, sagt Knud. »An die Arbeit.«