34.
D
er Raum kommt mir vor wie eine Zeitkapsel. Das gesamte Haus ist eine. Darin ist konserviert, was vor einigen Tagen geschah. Meine eigene Geschichte ist hier eingefangen worden – nur mit anderen Akteuren.
Das Erste, was mir auffällt, ist der Geruch. Er ist vollkommen anders, als ich ihn in Erinnerung habe. Er ist leicht metallisch, toxisch. Es riecht nach Tod. Die völlige Abwesenheit von Geräuschen verstärkt den Eindruck. Im Dunkel erkenne ich, dass überall kleine Aufsteller herumstehen. Sie haben unterschiedliche Farben und Nummern. Es sind Markierungen der Spurensicherung. Genauso, wie es im Fernsehen an Tatorten zu sehen ist, und damit ist meine allerletzte Hoffnung zerstört, dass Knud und Tine nur einen extrem schlechten Scherz gemacht haben könnten oder ich mir alles nur einbilde und mich in einem erschütternd realistischen Traum befinde.
Ich schalte die Taschenlampe ein. Im nächsten Moment bohrt sich ein Eiszapfen durch mein Herz, als das Licht auf einer glänzenden Fläche reflektiert wird. Es sieht aus wie auf den Boden gegossener Lack. Aber das ist kein Lack. Das ist Blut. Magnus’ Blut. Ein ganzer See davon. Der Umriss seines Körpers ist mit hellem Klebeband auf den Fliesen fixiert. Dort stehen ebenfalls die farbigen, nummerierten Aufsteller. Sie stehen überall. Auf der Treppe, im Flur. Und dann sehe ich einen weiteren auf den Boden geklebten Umriss. Das muss meiner sein. Dort habe ich gelegen. Ja. Keine Frage. Aber ich kann mich beim besten Willen nicht daran erinnern.
Meine Knie geben nach. Ich muss mich an der Kochinsel festhalten und lasse die Taschenlampe sinken. Genauso muss es ausgesehen haben, als man Mama fand. Die gleiche Lache. Die gleichen Aufsteller. Klebestreifen auf dem Boden als letzte Anzeichen dafür, dass ein Mensch da gewesen ist. Wie bei den Atombombenopfern von Hiroshima, die nur einen Schatten auf dem Boden hinterlassen haben – ihre eigene Asche.
Das Blut.
Die Treppe.
Das Wimmern.
Ich sehe mich selbst als Kind im Blut meiner Mutter sitzen. Alles ist rot. Meine Hände. Ich sehe Beine, die in Hosen stecken. Ein Messer fällt klirrend zu Boden. Und ein Messer in meiner Hand. Mama, die sich nicht bewegt. Weinen. Blut. Mein Kopf dröhnt. Magnus liegt am Boden. Blut ist über mir. Ich liege ebenfalls am Boden. Krieche zu Mama. Krieche zu Magnus. Die Beine entfernen sich. Schnelle Schritte. Das Messer in meiner Hand. Es rutscht heraus. Alles ist dunkel. Dunkelrot.
Ich keuche auf, wische mir mit beiden Händen durchs Gesicht und über die Augen, um die Bilder zu verdrängen. Alles verschwimmt. Ist es Zufall, dass dieses Szenario so sehr an meine eigene Vergangenheit erinnert? Es wurde sogar ein Messer verwendet.
Für einen schrecklichen Moment frage ich mich, ob Knud und Tine doch recht haben könnten. Ob es stimmt, dass ich Magnus umgebracht habe und auf verrückte Art und Weise das Szenario nachempfunden haben könnte, das mein Lebenstrauma darstellt.
Oder wollte es jemand anderes genau aus diesem Grund so aussehen lassen? Vigga weiß, was in meiner Kindheit geschehen ist. Frederik weiß es. Ich bin mir nicht sicher, ob Vigga mit Magnus jemals darüber gesprochen hat. Es wäre möglich. Oder auch nicht. Ich betrachte die Umrisse auf dem Boden. Ich stürzte, fiel die Treppe herab, wurde bewusstlos – und kam knapp zwei Meter vor der letzten Stufe und halb in der Küche zum Liegen. Exakt dort, wo die Klebestreifen angebracht sind.
Dort sehe ich mich liegen.
Blut.
Magnus’ Körper.
Das Messer in meiner Hand.
Erneut verschwimmen meine Erinnerungen mit anderen Bildern in meiner lebhaften Fantasie. Oder kommt etwas in meiner Erinnerung zurück? Ich weiß es nicht. Warum habe ich ein Messer in der Hand? Ist es eines der Messer, mit denen Mama getötet wurde? Oder stelle ich es mir vor, weil Tine und Knud erzählt haben, ich hätte das Messer in der Hand gehabt?
Wieder schaue ich zur Treppe. Und ich beschließe, dass ich mich erst ausruhen sollte, bevor ich mich weiter umsehe. Ich muss etwas essen und trinken und eine weitere Tablette nehmen. Ich muss raus aus den Sachen, die mir nicht gehören und die schmutzig und verschwitzt sind. Ich muss mich waschen und Kaffee trinken, damit ich wieder klar werde und zu Kräften komme – oder eine Runde schlafen, aber: Nein, dazu habe ich keine Zeit. Einerseits bin ich nach wie vor angeschlagen. Andererseits hat mich die Radtour körperlich geschwächt, und mental …
Mental bin ich ein Totalschaden. Also drehe ich mich um und gehe zum Kühlschrank. Er ist noch ganz gut gefüllt. Ich nehme eine Flasche Cola, eine Packung Käse und Wurst und Butter. Ich stoße auf eine Packung Knäckebrot im Vorratsschrank, nehme mir ein Messer und verziehe mich damit ins Gästezimmer, denn ich kann unmöglich in der Küche essen und dabei auf die Blutlache starren.
Im Zimmer sind ebenfalls Pappaufsteller zu sehen. Die Bettdecke wurde abgezogen. Die Bezüge sind fort. Meine Reisetasche ist nicht mehr da. Gar nichts von mir. Die Polizei muss alles beschlagnahmt haben, was sie in die Finger bekam.
Ich werfe die Taschenlampe aufs Bett, trinke die Colaflasche zur Hälfte leer. Dann setze ich mich und mache mir ein paar Brote, die ich in kürzester Zeit aufgegessen habe. Ich spüle mit Cola nach, werfe noch zwei Ibuprofen ein und ziehe schließlich die Sachen aus, bis ich nur noch Unterwäsche trage. Am liebsten würde ich alles verbrennen. Wer weiß, vielleicht tue ich das auch noch, denn ich kann die Kleidung ja wohl schlecht hier liegen lassen. Das würde der Polizei sofort auffallen, wenn sie das Haus wieder betritt. Damit, denke ich, muss ich allerdings sowieso rechnen. Ich glaube zwar nicht, dass ich hier vermutet werde. Aber man kann ja nie wissen.
Schließlich fühle ich mich stark genug, das Zimmer zu verlassen. Ich gehe zurück in die Küche und schalte den Kaffeeautomaten ein. Es dauert, bis er betriebsbereit ist. In der Zeit suche ich einen Becher, stelle ihn unter die Maschine und drücke den Knopf für Espresso dreimal hintereinander. Der Automat sirrt, faucht und schnurrt. Ich trinke den heißen Espresso in kleinen Schlucken und wandere durchs Wohnzimmer. Ich stehe vor der Terrassentür, vor den riesigen Fenstern, und starre in die Nacht. Es kommt mir vor, als blicke ich in mich selbst – in die Schwärze, in das Nichts, und genauso fühle ich mich: dunkel und leer.
Ich merke kurz auf, als ich meine, eine Bewegung aus den Augenwinkeln wahrzunehmen. Ein kurzes Aufblitzen von etwas. Licht? Ich schaue nach rechts, aber da ist nichts. Ich warte, ob mir noch einmal etwas auffällt. Es geschieht nichts. Auch nach fünf Minuten nicht. Das Einzige, was sich ändert, ist, dass sich meine Augen an die Dunkelheit gewöhnen. Im Haus ist alles still. Totenstill. Ich höre nur den Wind durch das Glas und das leise Knacken der Scheiben im Rahmen, wenn ein Windstoß dagegenschlägt. Doch dann sehe ich wieder etwas aufblitzen – wie eine Taschenlampe oder das Licht von einem Leuchtturm. Es scheint mir näher. Ich halte die Luft an. Könnte das die Polizei sein, die mich hierher verfolgt? Der Streifenwagen, der an mir vorbeifuhr – haben die Polizisten mich doch erkannt? Oder dieses andere Auto, der BMW, hat dessen Fahrer jemanden benachrichtigt? Gott, ich sitze in der Falle. Es war so dumm von mir, hierherzukommen. Dann natürlich ist es nur eine Frage der Zeit, dass Tine und Knud mich hier suchen werden. Aber weglaufen kann ich jetzt auch nicht – einerseits habe ich noch nicht gefunden, wonach ich suchen will. Andererseits wäre draußen alles voll von Polizei und …
Ich starre weiter auf das Fenster. Ich sehe kein Licht mehr. Höre nichts außer meinem Herzschlag und meinem Atem. Ich warte wiederum fünf Minuten, überlege mir, was ich tun soll, falls jemand ins Haus kommt, denke über einen Fluchtplan nach. Ich frage mich, ob es vielleicht gar nicht die Polizei ist, sondern … Ich weiß es nicht – jemand anderes, der mich verfolgt? Aber es kommt niemand ins Haus. Es passiert gar nichts, und langsam beruhige ich mich.
Auf die Welt vor dem Fenster konzentriert, fällt mir plötzlich ein, dass in meiner Hosentasche noch die Kette mit dem Kreuz steckt, die Lotte mir gegeben hat. Ich darf auf keinen Fall vergessen, es herauszunehmen.
Als die Tasse leer ist, gehe ich die Treppe hinauf, um mir alles von oben anzusehen. Es ist eine grauenvolle Ansicht, wie aus einem meiner Albträume entsprungen. Von der Treppe herab auf diesen Tatort schauen. Für einen Moment wird mir schlecht und schwindelig. Dann sammle ich mich wieder. Ich strahle mit der Taschenlampe in die Küche, aber der Perspektivwechsel bringt mir keine neuen Erkenntnisse. Ich stelle mir erneut alles bildhaft vor, sehe wieder das Blut an meinen Händen – aber es sind nicht mehr die Kinderhände, die ich sonst sehe. Es sind meine Erwachsenenhände. Und die Beine, die in Hosen stecken. Sind das die Beine meines Vaters, die ich aus der Froschperspektive sehe? Seine Schritte? Das wäre neu. Oder habe ich mich vorher schon einmal an dieses Bild erinnert? An das Geräusch? Ich bin mir nicht sicher.
Schließlich gehe ich ins Schlafzimmer, wo Chaos herrscht. Die Polizei hat offenbar alles durchsucht. Die Schranktür steht offen. Die Kommodenschubladen sind hervorgezogen. Ich betrachte die Bilder darüber, die alten Fotos, die Vigga dort aufgehängt hat. Keines fehlt. Als ich mich herumdrehe, sehe ich mich selbst im Spiegel und erschrecke.
Ich sehe aus, als sei ein Panzer über mich gerollt. Ich wage es nicht, das Licht einzuschalten, sondern strahle mich selbst mit der Taschenlampe an, sehe die Pflaster auf meinem Körper, den Verband am Bein. Immer noch steckt der Zugang für die Infusion in meinem Handrücken. Ich bin blass, die Augen sind blutunterlaufen und haben Ringe. Mein Haar hängt mir vom Kopf wie trockene Algen. Ich trage Krankenhausunterwäsche – die, die ich anhatte, hat man mir wohl ausgezogen, um sie zu untersuchen.
Bei dem Gedanken komme ich mir noch schmutziger vor, als ich schon bin.
Ich scanne den Raum eher oberflächlich, denn ich nehme nicht an, dass ich Viggas Tagebuch hier finden werde. Wäre es hier gewesen, hätte die Polizei es entdeckt. Also gehe ich zurück auf den Flur und öffne die Dachluke. Selbst dort oben entdecke ich Markierungen der Spurensicherung. Und als ich zu dem Schränkchen gehe, sehe ich die herausgezogenen Schubladen. Das Tagebuch entdecke ich natürlich nirgends. Ich hatte es ja auch in der Hand, als alles geschah, aber … Aber wo ist es?
Ich verlasse den Dachboden, halte die Luft an und steige sehr vorsichtig die Leiter hinab. So langsam spüre ich die belebende Wirkung des Espresso und bewege mich über die Galerie hinweg in Magnus’ Arbeitszimmer, dessen Tür sperrangelweit offen steht. Ich gehe hinein, leuchte mit der Taschenlampe alles ab und sehe, dass einiges fehlt. Zum Beispiel erinnere ich mich an externe Festplatten. Staubige Umrisse auf dem Schreibtisch und lose Kabel deuten darauf hin, dass ich mich nicht irre. Jetzt sind die Festplatten weg, der Computer ebenfalls. Auf dem Schreibtisch steht eine Markierung, wo sich der Mac zuvor befand. Wo die Festplatten standen, gibt es keine.
Ich setzte mich auf Magnus’ Drehstuhl und ziehe die Schreibtischschubladen auf, breche und ignoriere die polizeilichen Siegel. In einer liegt ein Laptop, auf dem das Emblem von Magnus’ Firma klebt. Es liegt unter einer Mappe, auf die jemand von Hand »Heimdall« geschrieben hat. Und für einen kurzen Moment verspüre ich Genugtuung. Es gibt »Heimdall«. Die Polizei wollte mir nicht glauben, aber ich habe gewusst, dass ich mich nicht irre – und jetzt weiß ich ganz sicher, dass ich mir nichts einrede.
Die Mappe habe ich schon einmal gesehen. Oder war es eine andere? Heimdall, der Wächter von Asgard. Das allsehende Auge. Ich erinnere mich daran, was Knud dazu im Krankenhaus erklärt hat. An die Gespräche zwischen Magnus und Johann erinnere ich mich ebenfalls. Aber ich brauche das Tagebuch, keine »Heimdall«-Aktenmappen oder dienstliche Laptops.
Wobei ich mich frage: Warum hat die Polizei den Inhalt der Schublade nicht konfisziert, sondern die Schubladen nur versiegelt? Und wo sind die beiden Festplatten?
Ich nehme die Mappe heraus, lege die Taschenlampe auf den Tisch und schlage die Akte auf. Darin befinden sich Abrechnungen, Ausdrucke von Grafiken, die mir nichts sagen. Es gibt Satellitenbilder und merkwürdige andere Aufnahmen, die wie Ultraschallbilder wirken und Meterangaben aufweisen. Was soll das sein? Was hat das hier zu suchen? Auf den Blättern stehen technische Daten, irgendwelches Softwarechinesisch, und die meisten tragen den Kopf von Magnus’ und Johanns Firma. Einige zeigen auch ein staatliches Wappen, und ich sehe als Absender eine Adresse in Kopenhagen und eine Dienststelle im Verteidigungsministerium.
Wow, denke ich kurz. Magnus hat für die Regierung gearbeitet? Warum auch nicht. Ich habe das selbst schon getan, als es um den Anbau am Staatlichen Vermessungsamt ging. Okay, das ist nicht ganz das Verteidigungsministerium, aber immerhin.
Dennoch nutzt mir das nichts. Das Laptop könnte mir schon eher nutzen – falls es aufgeladen und nicht passwortgeschützt ist. Aber vor allem brauche ich das Tagebuch. Ich muss es finden, um meine Unschuld zu beweisen. Ich muss es außerdem finden, um mir selbst zu beweisen, dass ich nicht verrückt geworden bin und mir Dinge einbilde, die es gar nicht gibt. Ich glaube zwar nicht daran, aber ich bin verunsichert. Also schließe ich die Schublade wieder – und suche weiter.