36.
T ine steht vor dem Waschbecken und betrachtet ihre geröteten Augen. Sie lässt das Wasser laufen, wirft sich etwas davon ins Gesicht, zieht ein Papiertuch aus dem Spender und tupft es ab. Keine Schminke da, die verschmiert werden könnte – gestern Abend nach dem Duschen hatte sie weder Zeit noch Muße dazu. Sie ist sofort zu ihrer Dienststelle gefahren, und dort ist sie jetzt immer noch. Die ganze Nacht durch, in der es keinen Fahndungserfolg gegeben hat. Liv ist auf der Flucht, verschwunden wie ihre Freundin Vigga, und bei der Morgenbesprechung würden Knud und Tine ohne Frage noch einen Einlauf vom Chef bekommen. Eine Abreibung, die sich gewaschen hat.
In Erwartung dessen haben sie sich hier die Nacht um die Ohren gehauen. Einfach, um Präsenz zu zeigen. Dabei konnten sie nicht viel tun, außer ein paar Dinge koordinieren und darauf warten, dass einer der Streifen etwas auffiel. Sie hätte sich auch zu Hause ins Bett legen können und darauf warten, dass das Handy klingelte und irgendwann einen Erfolg vermeldete. Aber sie und Knud waren der Meinung, dass sie besser Initiative zeigen sollten, wo ihnen schon eine Mordverdächtige durch die Lappen gegangen war – selbst wenn diese Initiative darin bestand, herumzusitzen, Dinge zu koordinieren, die andere auch koordinieren konnten, und so zu tun, als steuerte man etwas Wichtiges zur Fahndung bei, und in Kauf zu nehmen, dass dieses Verhalten allen anderen wahrscheinlich auf die Nerven ging.
Tine trocknet die Hände, knüllt das raue Papier zusammen und wirft es in den Mülleimer, nimmt ein Pfefferminzbonbon aus der Handtasche und schiebt es in den Mund. Ein schlechter Ersatz für die Zahnbürste. Ihr Magen ist vom vielen Kaffee übersäuert. Sie geht zurück ins Büro, wo Knud in den noch dunkelgrauen Morgenhimmel starrt. Er sieht aus, als würde er mit offenen Augen schlafen. Er zuckt kurz, als Tine den Raum betritt, um sich dann geschäftig wieder den Papieren auf seinem Schreibtisch zu widmen.
Tine nimmt ihren dünnen Parka von der Garderobe. »Komm«, sagt sie zu Knud, »fahren wir.«
Knud mustert Tine und scheint vergeblich zu versuchen, den Sinn ihrer Worte zu ergründen.
Tine zieht die Jacke an. »Ich will hier nicht mehr herumsitzen und auf meine Hinrichtung warten. Lass uns etwas Nützliches tun.«
»Das wäre?«, fragt Knud.
»Ich bin nach wie vor der Meinung, dass Liv ein Ziel hat. Ich glaube nicht, dass sie uns eine Lügengeschichte erzählt hat. Ich bin der Meinung, dass sie von der Wahrheit ihrer Aussagen überzeugt ist – auch, wenn es nicht stimmt. Sie hat ihre eigene Wahrheit und wird nach Indizien dafür suchen. Und ich glaube, dafür kommt nur ein Ort in Betracht.«
»Das Haus?«
»Das Haus.«
Knud fährt sich müde mit der Hand durchs Gesicht. »Aber wie soll sie denn da hinkommen?«
»Weiß ich nicht«, erwidert Tine, schultert die Umhängetasche und sucht nach dem Autoschlüssel. »Wenn ich Liv wäre und davon überwältigt, dass ich jemanden getötet haben soll, von dem ich eigentlich annahm, dass er mich umbringen wollte, würde ich unbedingt wissen wollen, ob ich verrückt bin oder alle anderen um mich herum. Ich würde den Tatort sehen wollen. Ich würde nach dem Tagebuch suchen und anderen Dingen, die beweisen, dass ich mich nicht täusche. Auch wenn es gar kein Tagebuch gibt.«
»Das hatten wir schon, Tine.«
»Also, kommst du mit? Ich fahre auf jeden Fall zum Haus.«
»Wir können eine Streife vorbeischicken, damit du beruhigt bist.«
»Wir hätten dort bereits eine postieren lassen sollen, die das Haus überwacht.«
»Es ist besser, wenn die diensthabenden Kollegen auf der Straße sind und nach der Flüchtigen suchen. Denn selbst, wenn du mit dem Haus recht haben solltest, müsste sie ja über die Straße …«
»Also«, schneidet Tine Knud das Wort ab, »wenn du weiter diskutieren willst, dann nicht mit mir.«
Sie dreht sich um und geht raus, um sich abzumelden und zum Parkplatz zu gehen. Sie atmet kurz auf, als sie hinter sich Geräusche hört: die untrüglichen Schritte von Knud, die sich selbst dann nach schwerem Schlurfen und Schleichen anhören, wenn er rennt.