37.
A
ls ich die Augen wieder öffne, ist es bereits Tag. Ich schrecke auf. Mein Kopf dröhnt. Es dauerte einige Momente, bis sich mein Blick klärt und ich begreife, wo ich bin und dass ich innerhalb von Sekunden eingeschlafen sein muss. Jedenfalls bin ich nicht im Gefängnis, und das ist schon eine Menge wert.
Trotzdem springe ich regelrecht aus dem Bett, obwohl mir alles wehtut, laufe in die Küche und sehe auf der im Herd eingebauten Digitaluhr, dass es halb acht Uhr morgens ist. Bei Tageslicht sieht das Grauen im Haus noch viel entsetzlicher aus als bei Dunkelheit im Taschenlampenlicht. Das Blut überall auf dem Boden, die Hinterlassenschaften der Spurensicherung, das Chaos, das ich hier verbreitet habe. Die Erkenntnis kommt über mich wie ein Tsunami.
Ich bin eine gejagte Mordverdächtige, die zum Tatort zurückgekehrt ist.
Ich muss weg.
Aber wohin?
Im nächsten Moment werde ich etwas ruhiger. Wenn die Polizei bis jetzt nicht hier war, wird sie so schnell auch nicht auftauchen. Vielleicht wiege ich mich aber auch in falscher Sicherheit. Wahrscheinlich tue ich das. Doch ich werde nichts ändern können. Und meine Panik weicht einem gewissen Fatalismus.
Ich drücke daher auf das Kaffeetassensymbol am Vollautomaten. Während die Maschine schnurrt, mache ich mir noch ein paar Käsebrote. Mittlerweile stört es mich nicht mehr, dass ich dabei auf die Körperumrisse und das getrocknete Blut sehen muss. Ich habe mich offenbar daran gewöhnt. Während ich den Kaffee trinke und esse, treffe ich einige Entscheidungen.
Auch wenn ich niemandem mehr vertrauen kann: Ich muss mit Frederik reden. Ich muss wissen, was er gesehen hat, als er mich und Magnus hier auffand. Ich muss auch mit Johann reden, um zu erfahren, was er weiß und was er nicht weiß. Ich muss wissen, warum die Haustür offen stand, und ich muss wissen, was es mit »Heimdall« auf sich hat – denn es geht nicht mehr nur um das Tagebuch. Okay, es kann meine Unschuld beweisen, aber: Es geht auch ganz entscheidend um das, was in dem Tagebuch stand. Außerdem muss ich hier verschwinden sowie mein Erscheinungsbild verändern.
Ich drücke zwei Tabletten aus dem Blister und schlucke sie mit etwas Mineralwasser runter. Dann gehe ich die Treppe hinauf und ins Badezimmer. Ich weiß, wo ich finde, was ich brauche. Es ist alles in einem Schrank neben der Duschkabine. Ich nehme zunächst ein Erste-Hilfe-Set heraus, öffne es und lege alles, was ich benötigen werde, am Waschbeckenrand parat.
Als Erstes löse ich die Pflaster vom Zugang, der mir im Krankenhaus gelegt wurde. Es tut nicht sehr weh, als ich die Kanüle herausziehe, aber es ist unangenehm und blutet ein wenig, weswegen ich ein Pflaster draufklebe und den Rest im Badezimmermülleimer entsorge. Ich untersuche meinen restlichen Körper und löse einen Verband am Bein. Darunter kommt eine genähte Platzwunde zum Vorschein, die nicht sehr groß ist. Ich drehe den Rasierspiegel etwas, sodass ich meinen Hinterkopf betrachten kann, von dem ich vorsichtig das große Pflaster abziehe. Auch darunter kommt eine genähte Wunde zum Vorschein. Die Stiche kann ich nicht zählen, aber sie dürfte einige Zentimeter lang sein. An der Stelle muss ich mit dem Schädel auf der Kante einer Treppenstufe aufgeschlagen sein. Um die Naht herum sind mir die Haare in der Fläche eines Bierdeckels rasiert worden. Aber die längeren Haare darüber verdecken die Wunde.
Ich löse zwei weitere Pflaster vom Schienbein und vom Knie, die wie die anderen bereits mit einer Mischung aus etwas Blut und Wundflüssigkeit durchgesuppt sind, bevor ich die Dusche anstelle, um mich gründlich mit klarem, heißem Wasser abzuspülen. Es ist herrlich, ich könnte stundenlang so verharren, aber schon im nächsten Moment könnte die Polizei herkommen.
Also stelle ich die Dusche aus und trockne mich vorsichtig ab.
Ich kämme die nassen Haare glatt. Dann nehme ich die Schere aus dem Erste-Hilfe-Set und schneide sie ab. Strähne für Strähne fällt ins Waschbecken. Die Deckhaare lasse ich hinten etwas länger, damit sie auch weiterhin die kahle Stelle am Schädel verdecken. Den Pony lasse ich ebenfalls lang, die Nackenhaare und die an den Seiten schneide ich kurz. Schließlich wische ich die Büschel zusammen und werfe sie in den Mülleimer. Aus dem Schrank nehme ich eine Packung Färbemittel. Vigga benutzt es, um sich die grauen Haare nachzufärben.
Blauschwarz steht auf der Packung – und ich hoffe, dass es gut decken und sich mit meinem aschblonden Haar gut vertragen wird. Ich nehme ein Zahnputzglas, lese den Beipackzettel durch und setze die Mischung an, die schrecklich chemisch riecht. Ich streife die Latexhandschuhe aus der Packung über und schmiere mir die Paste in die Haare, wobei ich darauf achte, die rasierte Stelle und die Wundnaht auszulassen. Die umliegenden Haare pappe ich mit der Färbepaste zusammen.
Das Zeug muss eine halbe Stunde lang einwirken. Die Zeit nutze ich, um meine Wunden mit Desinfektionsspray zu behandeln und Pflaster draufzukleben – auch zwei Blasenpflaster, die ich wegen der Gummiclogs für meine Füße brauche.
Dann gehe ich in Magnus’ Arbeitszimmer, öffne die versiegelte Schublade und nehme das Laptop und die »Heimdall«-Akte heraus, gehe ins Schlafzimmer und lege beides auf dem Bett ab. Ich betrachte mich nackt im Spiegel. Dann tue ich, was getan werden muss, obwohl ich es hasse. Ich suche einen Slip und ein Trägerhemdchen aus Viggas Unterwäsche und ziehe beides an.
Ich finde ein Paar gemusterte, eingerollte Wollsocken und lege sie zum Laptop. Außerdem nehme ich eine Jeans, schaue nach der Größe – dürfte passen – und ziehe sie an. Sie ist einen Hauch zu weit, aber ein Nietengürtel schafft Abhilfe. Ich finde einen dünnen, schwarzen Pullover aus Kaschmir, lege ihn zu den Strümpfen, und im Schrank sehe ich ganz unten einen Aufbewahrungsbeutel für Stiefel, und darin befindet sich ein Paar knöchelhohe Doc Martens 1860 aus weichem Leder, die auf den Herbst warten. Ich brauche sie deutlich eher und bin froh, dass Vigga eine Nummer größer als ich trägt – zusammen mit den Wollsocken dürften die Docs wohl passen.
Ich werfe den Beutel zum Bett und sehe mich nach weiteren brauchbaren Dingen um. Meine Blicke streichen wieder über die alten Fotos über Viggas Kommode. Die Fischerhütte …
Wieder muss ich an unsere Kindheit denken. Wir beide als Prinzessinnen in unserem Schloss. Viele Geheimnisse haben wir in unserem Schloss ausgetauscht, in dem es immer erbärmlich nach Fisch und Tang roch. Wir kauften ein Deospray, um den Geruch zu vertreiben.
Später, als wir so um die vierzehn Jahre alt waren, habe ich in der Hütte meine erste Zigarette geraucht. Vigga hatte welche von ihren Eltern geklaut, und wir husteten uns die Seele aus dem Leib, gaben uns aber alle Mühe, cool dabei auszusehen. Einmal kam ich zur Hütte und roch die Zigaretten schon von Weitem. Ich machte die Tür auf – und sah Vigga mit Lars dasitzen, beide mit hochrotem Kopf und Kippen in der Hand. Mir war klar, dass sie sich zum Knutschen getroffen hatten, obwohl Vigga es später vehement bestritt.
Ich war ziemlich sauer darüber, dass sie unser geheimes Schloss mit jemand anderem teilte. Es war ein Vertrauensbruch, und außerdem hatte sie mir bis dahin nie etwas von Lars erzählt. Nicht ein einziges Mal – und das Blöde war, dass mir Lars gefiel. Er war größer als die meisten anderen Jungs, sah gut aus und war kräftig. Außerdem hörte er Nirvana sowie andere Bands aus Seattle, auf die ich zufälligerweise ebenfalls stand, und lief meist in Holzfällerhemden herum, was ich mochte. Aber ihm gefiel Vigga offenbar besser als ich. Nun, ich war das gewohnt: Vigga kam immer besser an als ich.
Viel verletzender fand ich, dass sie Geheimnisse vor mir hatte, worüber wir dann ausgiebig sprachen, bis zwischen uns alles wieder gut war. Doch wie früher wurde es nie wieder, was wohl normal ist – Freundschaften entwickeln sich, Menschen entwickeln sich, man wird erwachsen, und die Hormone machen einen in der Pubertät gelegentlich zu einer hirnlosen und überemotionalen Marionette. Aber wie sagt man: The first cut is the deepest
. Und Vigga und Lars in unserer Hütte – das war mein first cut
hinsichtlich unserer Freundschaft. Dann, dass sie mir Magnus quasi weggeschnappt hat, der nächste Schnitt. Schließlich der Riss wegen Frederik …
Ich setze mich auf den Bettrand, ziehe die Socken an, danach die Boots und starre weiter auf das Foto. Ich stehe auf, prüfe den Sitz der Stiefel und bin zufrieden. In ihrem Tagebuch hat Vigga über ihre Affäre geschrieben. Mit einer Liebschaft trifft man sich an geheimen Orten. Es kommt darauf an, ob der andere auch verheiratet ist. Dann kann man nicht in dessen Wohnung. Es gibt Treffen im Hotel, im Wald oder im Auto, das an einem Feldweg geparkt ist. Wenn der Liebhaber nicht weit entfernt lebt, trifft man sich eher in Hotels, die zwar auswärts liegen, aber doch schnell erreichbar sind. Am besten in wechselnden Hotels. Oder man mietet ein Ferienhaus. Lebt derjenige in einer entfernteren Stadt, wird es problematischer. Man muss Ausreden erfinden, falls man nicht regelmäßig auf Dienstreisen ist und ständig woanders übernachtet.
Ich gehe zurück ins Badezimmer, beuge mich über die Dusche und spüle mir das Färbemittel aus den Haaren. Eine tiefschwarze Suppe sammelt sich im Abfluss, und ich nehme mir vor, die Verpackung und die leeren Tuben nicht hier im Haus zu entsorgen. Wenn die Polizei sie findet, weiß sie, was ich getan habe. Das gilt auch für meine abgeschnittenen Haare, weswegen ich beschließe, den Inhalt des kleinen Eimers in eine Plastiktüte zu kippen und mitzunehmen – am besten auch das Handtuch, mit dem ich mir nun den Kopf trocken rubble.
Ich spüle die Dusche gründlich durch. Dann nehme ich ein großes Pflaster, lupfe die Haare im Nacken und pappe es auf die Naht. Die Haare lasse ich wieder fallen und betrachte mich im Spiegel. Ich bin fast zufrieden. Ich durchsuche Viggas Schminkutensilien, trage mehr auf, als ich es sonst tun würde, knallroter Lippenstift und viel Eyeliner, und schaue wieder in den Spiegel.
Ich erkenne mich selbst kaum wieder. Mit der asymmetrischen Punkfrisur und in den Docs sehe ich aus wie die Schwester von Lisbeth Salander, bloß ohne Tätowierungen. In einem Fach im Schrank sehe ich eine ordentlich zusammengefaltete Plastiktüte. Ich kippe den Inhalt des Mülleimers hinein, knote die Tüte zusammen und gehe zurück ins Schlafzimmer, wo ich mir den Pullover überziehe und mir das Laptop mit der Mappe nehme. Da schaue ich noch einmal zur Kommode und den alten Fotos.
Die Hütte. Unser Schloss.
Ich erinnere mich an die Hütte, die ich am Fjord gesehen habe, als ich herkam und einen kurzen Stopp einlegte. Es gibt sicherlich mehr als eine am Fjord – aber diese glich unserem Schloss so augenscheinlich. Das muss auch Vigga aufgefallen sein. Jedes Mal, wenn sie daran vorbeifuhr. Ich denke daran, wie sie mit Lars geknutscht hat. Wäre eine solche Hütte am Fjord ein geheimer Ort für Treffen mit einem Liebhaber?
Vielleicht für einen Teenager. Aber nicht für Vigga.
Langsam gehe ich die Treppe hinunter, hole das Geld von Lotte aus dem Besucherzimmer und stopfe die Scheine in die Jeans. An der Garderobe sehe ich eine schwarze Lederjacke von Vigga, die ich überziehe. Sie ist eng, aber passt. Etwas steckt in der Innentasche. Ich sehe nach und finde, außer einigen Einkaufsbelegen, ein Etui, in dem eine Sonnenbrille steckt. Außerdem fällt mir ein Rucksack auf, mit dem ich zurück in die Küche gehe. Ich stopfe den Müllbeutel hinein, das Laptop und die Akte sowie meine restlichen Tabletten, eine Flasche Wasser und eine Rolle Kekse. Außerdem packe ich den Schraubenzieher dazu – scharfe Messer finde ich nämlich nirgends mehr. Wahrscheinlich sind alle konfisziert worden, um sie zu untersuchen.
Jetzt schaue ich mich nach dem Telefon um, das in der Ladestation im Flur steckt. Ich muss mit Frederik sprechen. Ich weiß nicht, ob er mit mir reden wird, weil er ja ein wichtiger Zeuge ist und ich eine Verdächtige bin. Aber es führt kein Weg daran vorbei. Ich muss den Abend so genau wie möglich rekonstruieren, und Frederik hat wichtige Informationen. Ich muss außerdem wissen, ob er irgendeine Rolle spielt. Falls er lügen sollte, werde ich es merken. Frederik ist ein unfassbar schlechter Lügner.
Ich will gerade zum Telefon gehen, als mir ein Lichtreflex auffällt, der durchs Küchenfenster blitzt. Es ist nicht die Sonne. Es sind die Tagscheinwerfer eines Autos, das langsam auf der Straße zwischen den Dünen fährt.
Es ist ein Polizeiwagen.