41.
T
ine verflucht sich, dass sie sich nicht eher durchgesetzt hat und früher hierhergefahren ist. Es war dumm. Sie weiß, dass sie sich auf ihre Intuition verlassen kann. Aber immer wieder lässt sie sich ablenken oder von den Meinungen anderer überzeugen, obwohl sie insgeheim weiß, dass sie recht haben wird.
Aber nun ist es so. Liv ist ins Haus eingedrungen und hat alles auf den Kopf gestellt. Die Spuren sind eindeutig. Sie hat nach etwas gesucht und, wie es scheint, hier übernachtet, sich gestärkt und etwas anderes angezogen. Sachen von Vigga. Darauf deutet der Zustand des Schlafzimmers hin, wo sie die Bekleidung der Vermissten durchsucht hat.
Knud steht in der Küche, wo er ein Fenster ausgemacht hat, durch das Liv aller Wahrscheinlichkeit nach eingedrungen ist. Jemand von der Spurensicherung hatte es nicht richtig verschlossen und wird sich dafür verantworten müssen. Knud hängt am Telefon und fordert alle möglichen Dinge an, denn jetzt müssen Inventarlisten her, Fotos und Videos, um zu klären, was Liv genau im Haus verändert hat. Was sie gesucht oder gefunden hat. Welche Sachen von Vigga fehlen, damit man der Beschreibung der Flüchtigen ein Update verpassen kann.
Tine geht um den großen Blutfleck mit den Umriss-Markierungen auf dem Boden herum und dann die Treppe hinauf, um sich die oberen Räume noch mal genauer anzuschauen. Auf der Hälfte stoppt sie, dreht sich um und betrachtet alles von hier oben.
Tine stellt sich Liv als Kind vor, die auf der Treppe steht und ihre Mutter in einer Blutlache liegen sieht. Das Bild, das sich von hier oben aus bietet, muss dem in Livs Erinnerung sehr ähnlich sein. Eine erschreckende Übereinstimmung.
Zufällig?
Was, fragt sich Tine für einen Moment, was ist, wenn Liv weder gelogen hat noch geistig verwirrt ist? Was wäre, wenn alles stimmte, was sie gesagt hat? Und was sagen die Spuren im Haus dazu?
Tine lehnt sich mit der Hüfte an den Handlauf der Treppe. Sie stellt sich das mögliche Geschehen bildlich vor.
Liv kommt mit dem Tagebuch vom Dachboden, trifft auf Magnus, und es gibt eine Auseinandersetzung auf der Treppe, die in ein Handgemenge mündet. Liv erleidet gleichzeitig eine Höhenangst-Attacke und stürzt oder wird gestoßen, schlägt sich den Hinterkopf an einer Treppenstufe auf und ist bewusstlos. An der unteren Stufe wurden Spuren gefunden, die diese Aussage bestätigen können: Haare, Hautfetzen, ein wenig Blut. Die Umrisszeichnung auf dem Boden passt ebenfalls zu Livs Version: Es wäre sehr gut möglich, dass ihr Körper noch etwas gerollt oder gerutscht ist und auf genau die Art und Weise liegen blieb, die von der Spurensicherung auf den Fliesen festgehalten worden ist. Dort gibt es außerdem Blutspuren von Liv, die aus ihrer Kopfwunde stammen könnten, denn Kopfwunden bluten ziemlich stark. Die anderen Verletzungen könnte sie sich bei dem Sturz und dem Handgemenge mit Magnus zugezogen haben.
Vorausgesetzt, dass es sich so zugetragen haben könnte, denkt Tine: Was geschah weiter?
Tine beobachtet, wie Knud in der Küche weiterhin ins Telefon redet. Er macht eine Geste mit dem Finger zu ihr – Tine versteht sie nicht ganz. Will er sie wegschicken? Im nächsten Moment macht es »Ping!« in ihrer Handtasche. Dann nochmals und wieder. Sie hat drei Mails bekommen – könnten Dateien mit den Asservatenlisten sein, denkt sie und überlegt weiter.
Sie stellt sich vor, wie Magnus zu der bewusstlosen Liv läuft. Wenn er sie tatsächlich hätte töten wollen, dann hätte er es jetzt getan und ihre Leiche verschwinden lassen. Genau, wie er die Leiche seiner Frau Vigga hat verschwinden lassen – falls er der Mörder war.
Wenn er der Mörder seiner Frau war, dann hätte er sehr wahrscheinlich auch Liv umgebracht, um seine Tat zu verschleiern, denn nach Livs Version hat sie Magnus schließlich als Viggas Mörder überführt, und zwar auf Grundlage des Tagebuchs. Magnus hätte einfach Viggas Kopf noch mal auf den Boden schlagen müssen, bis ihre Hirnschale knackt. Ein schlimmer Unfall – fertig.
Hat er aber nicht getan. Vielleicht deswegen nicht, weil er keine Tat verschleiern musste. Oder deswegen nicht, weil gerade in dem Moment, als er zur Tat schreiten wollte, jemand vor der Tür stand, den Magnus dann hereinließ.
Warum hätte er jemanden hereingelassen? Ihm musste doch klar sein, dass es massive Schwierigkeiten mit sich bringen wird, wenn jemand die bewusstlose Liv in einer Blutlache vorfindet?
Er hat das in Kauf genommen, überlegt Tine, weil er sich entweder Hilfe von dem Besucher erhoffte und in Panik war. Oder der Besucher hatte einen Schlüssel und überraschte Magnus.
In beiden Fällen, denkt Tine, könnte es wegen der Aufregung über den Treppensturz von Liv zu einer weiteren Auseinandersetzung gekommen sein, in deren Verlauf der Besucher Magnus mit dem Messer tötet, das aus dem Messerblock direkt neben dem Kühlschrank stammt – in etwa dort, wo Knud nun steht. Dann fiel Magnus’ Körper neben den von Liv. Der Täter geriet selbst in Panik und drückte der Bewusstlosen die Tatwaffe in die Hand, um es so aussehen zu lassen, als habe Liv Magnus umgebracht. Dann rannte er Hals über Kopf hinaus – und nahm das Tagebuch mit. Die Tür schloss er nicht richtig hinter sich, und etwas später erschien Frederik, der Liv besuchen wollte – und fand ein Massaker vor.
Es könnte so gewesen sein, denkt Tine. Aber wer sollte dieser Mr X
sein, der hier plötzlich auftaucht – oder die Mrs X
? Wozu sollte der Täter ein Tagebuch mitgehen lassen? Warum Magnus töten?
Am Ende, denkt Tine, bleibt die Frage, wieso die Haustür offen stand – ob es Zufall war, ob Magnus nach draußen ging und beim Hereinkommen die Tür nicht richtig verschloss oder ob eine weitere Person beteiligt war. Doch wer, wenn nicht Frederik, der zwar hier auftauchte, aber dessen Fahrzeugdaten belegen, dass er zur infrage kommenden Uhrzeit noch nicht vor Ort gewesen sein kann?
Tine und Knud haben sich von ihm beschreiben lassen, welche Route er genommen hat, und in Auftrag gegeben, Verkehrsüberwachungskameras und andere Kameras überprüfen zu lassen, die auf dieser Strecke Frederik und sein Auto gefilmt haben. Es liegen noch nicht alle Daten vor, zwei aber schon: Frederik wurde an zwei Kreuzungen in Kopenhagen von Webcams aufgenommen. Die Bilder stimmen mit den Fahrzeugdaten überein, sein Navigationsgerät und der Bordcomputer wurden ausgelesen, und alles zusammengenommen verdeutlicht, dass seine Aussage darüber zutrifft, wann er zum Fjord aufgebrochen ist.
Er traf hier am Haus etwa eine Stunde nach der angenommenen Tatzeit ein. Er kann nicht eine Stunde früher hier gewesen sein und die Tat begangen haben. Dazu müsste er sehr schnell gefahren sein, was sich in den Daten seines Autos widerspiegeln müsste. Tut es aber nicht. Auch alle anderen Personen, die bislang im Fokus stehen, kommen nicht in Betracht. Blieben Personen übrig, die noch nicht im Fokus stehen.
Aber, denkt Tine, das ist alles hypothetisch. Liv hat ein Motiv. Liv hat psychische Probleme. Liv hat eine Amnesie oder gibt vor, sie zu haben. Liv wurde neben der Leiche gefunden. Livs Fingerabdrücke sind an der Tatwaffe. Liv hatte Magnus’ Blut am Körper. Liv ist außerdem flüchtig und entzieht sich als Hauptverdächtige der Verhaftung und hat eine Krankenschwester bewusstlos geschlagen. Wie sagt Knud immer? Der einfachste Weg ist meist der beste und richtige. Das stimmt. Zumindest so lange, bis sich ein neuer auftut oder man an eine Kreuzung kommt.
Tine atmet tief durch. Dann geht sie auf die Galerie und zieht das Telefon aus der Handtasche, um die eingegangenen Mails zu öffnen. Es handelt sich um PDFs von der Spurensicherung über die sichergestellten Asservate und die Inventarlisten sowie Fotos aus den einzelnen Räumen des Hauses. Bleibt nichts übrig, als Schritt für Schritt alles durchzugehen. Tine geht ins Badezimmer, um sich dort erneut umzusehen. Sie liest das entsprechende PDF, checkt die dazugehörigen Fotos.
Man muss keine Wissenschaftlerin sein, um festzustellen, dass Liv geduscht hat. Die Trennwand aus Glas ist noch feucht, ebenfalls der Ablauf der Dusche. Außerdem sind einige Dinge in Unordnung, stehen anders, als sie hinterlassen wurden. Tine schaut sich einen Schrank an, vergleicht ihn mit den Fotos, überfliegt eine Liste – und dann wird ihr klar, dass eine Packung Haarfärbemittel fehlt. Sie sieht sich um, betrachtet die Dusche genauer, wo ihr einzelne Haare auffallen und außerdem ein dunkler Rand am Ablauf, kaum zu sehen. Ein wenig so, als habe man etwas sehr Schmutziges ausgewaschen oder ein Glas mit dunkler Wasserfarbe ausgeschüttet. Oder sich die Haare nach dem Färben ausgespült.
Tine sieht sich weiter um. Sie bemerkt eine Schere, betrachtet sie, und auf dem Boden findet sie wiederum einige einzelne Haare. Sie sind schwarz. Sie schaut noch einmal auf das Foto vom Badezimmerregal, vergrößert den Ausschnitt. Die Packung Haarfärbemittel war für eine dunkle Tönung.
Sie hat die Haare gefärbt, denkt Tine.
Und sie hat sie geschnitten.
Sie trägt Kleidung von Vigga.
Das wird die Personenbeschreibung erheblich verändern.
Tine verlässt das Badezimmer, um Knud Bescheid zu sagen, der immer noch telefoniert, aufgebracht wirkt. Also geht Tine weiter, lässt das Schlafzimmer noch links liegen, denn das wird einige Zeit dauern, sich dort einen Überblick darüber zu verschaffen, was genau fehlt und was nicht.
Sie betritt das Arbeitszimmer. Auch dort sieht sie sich um, gleicht die Fotos von der Spurensicherung mit allem ab. Auf Anhieb fällt ihr auf, dass auf dem Schreibtisch zwei leere Ladedocks für externe Festplatten stehen. Sie schaut in einer Liste nach und sieht, dass die fehlenden Laufwerke nicht vermerkt sind. Sie sind auch nicht auf den Fotos der Spurensicherung zu sehen. Was bedeutet, dass sie vorher schon fehlten. Die Kollegen haben lediglich einige private Aktenordner aus dem Büro mitgenommen und außerdem Magnus’ Computer. Aber keine Festplatten. Was bedeuten kann, dass sie von Magnus weggeschafft wurden – oder dass jemand anderes im Haus gewesen ist, um sie mitzunehmen?
Tine öffnet die Schreibtischschubladen. In einer, stellt sie fest, hätte ein dienstliches Laptop der Firma Tekksolv liegen müssen sowie eine Akte. Beides ist verschwunden. Sie checkt noch einmal die Liste, auf der Laptop und Akte vermerkt sind. Auch die Akte ist eine dienstliche der Firma Tekksolv. Tine erinnert sich, dass Magnus’ Kompagnon Johann bei der Polizei darum gebeten hat, dass ihm einige Unterlagen herausgegeben werden sollen, die Magnus im Homeoffice verwendet hat. Welche genau, das hat er allerdings nicht beschrieben. Er wollte dazu eine Liste anfertigen – sich am liebsten persönlich umsehen, was er aber erst darf, wenn die Staatsanwaltschaft das Haus wieder freigibt, und das kann noch dauern.
Tine fragt sich, warum die Spurensicherung die Tekksolv-Sachen nicht mitgenommen hat, und vermutet, dass man Firmeneigentum nicht einfach so beschlagnahmen darf, wenn ein laufender Fall mit einer Firma nichts zu tun hat – und gesichert haben sie es ja trotzdem, sprich: einfach hier im versiegelten Haus gelassen, und wenn man es für die Ermittlungen brauchen würde, könnte man die Sachen immer noch holen.
Nur ist das Laptop jetzt weg. Genau wie die Akte. Hat Liv danach gesucht und beides mitgenommen? Oder eine andere Person?
Tine ruft sich noch einmal die Fotos vom Schreibtisch auf und sucht nach dem mit dem Inhalt der Schublade. Sie spreizt Daumen und Zeigefinger auf dem Handydisplay, um das Bild zu vergrößern. Sie dreht das Handy in der Hand, um lesen zu können, was auf der Mappe steht.
Auf der Mappe steht das Wort »Heimdall«.