43.
D er Bus stoppt mit einem Ruck an der Haltestelle, die mitten im Nirgendwo am Fjord liegt. Ich steige aus, wo mich der Wind in Empfang nimmt, der über das Wasser abseits der Straße streicht. Mit zischenden Bremsen setzt sich der Bus wieder in Bewegung. Ich sehe ihm hinterher, bis er verschwindet, setze die Sonnenbrille auf und schultere den Rucksack.
Die Straße zerschneidet das Marschland in beiden Richtungen pfeilgerade. Hier gibt es nichts als Landschaft, die von den Gletschern der Eiszeit flach geschmirgelt worden ist. Am Boden ist alles grün, nur unterbrochen vom tintenblauen Wasser und dem hellen Himmelsblau darüber. Nirgends ist ein Haus zu erkennen, kein Kirchturm, nicht einmal ein Windrad am Horizont. Man kann das nahe Meer riechen und schmecken und gleichzeitig den kabbeligen Wellen auf der schier endlosen Fläche des Ringkøbing-Fjords zusehen, die gegen die von Schilf und hohem Gras bestandenen Ufer schwappen. An dieser Stelle des Fjords mäandern sie ein wenig und münden in schmale Kanäle, die mit Moos überzogene Inseln umfließen, bei denen ich an die Panzer uralter Schildkröten denken muss.
Ich gehe in Richtung Osten, schaue am Ufer des Fjords entlang und entdecke schließlich, was sich in mein Gehirn eingebrannt hat. Ich erkenne die kleine Haltebucht, in der ich auf dem Hinweg gestoppt hatte. Unweit davon sehe ich die Fischerhütte, die umgedrehten Holzboote und die gestapelten Reetballen.
Ich verlasse die Straße und gehe querfeldein durch das Gras und die Büsche, die mir bis zu den Hüften reichen, und halte auf die Hütte zu.
Sie sieht »unserer« Hütte, dem alten Schloss von Vigga und mir und damit der Hütte auf dem Foto in Viggas Schlafzimmer, zum Verwechseln ähnlich. Sie besteht aus schwarz gestrichenem Holz, erinnert an ein auf den Boden gepflanztes Dreieck und hat ein Reetdach, das an beiden Seiten ganz herunterreicht. An der Stirnseite gibt es eine Tür mit einem weiß gerahmten Fenster. Links neben der Hütte liegen ein rot und ein weiß gestrichenes Holzboot kieloben. Dahinter scheint sich ein kleiner Anleger zu befinden, der in einen der Kanäle im Marschland und dann zum Fjord führt. Alles wirkt zugewachsen, auch die Boote sehen so aus, als seien sie seit Jahren nicht benutzt worden.
Frederiks Auto entdecke ich nirgends. Von Holstebro aus wird er länger bis hierher brauchen als ich mit dem Bus aus der Gegenrichtung. Das gibt mir die Gelegenheit, mich zu verstecken und aus der Distanz zu beobachten, ob er auch wirklich alleine kommt und ohne Polizei. Okay – wenn er mit Polizei kommt, wäre meine Chance, von hier zu entkommen, nicht überwältigend, aber immerhin gegeben.
Mit großen Schritten stakse ich am dicht bewachsenen Ufer entlang. Der Boden schmatzt unter den Sohlen der Docs. Ich biege etwas Schilf zur Seite, ducke mich darunter hinweg und verberge mich hinter einem Sanddornbusch, der gelb-orange Beeren trägt. Von hier aus habe ich einen guten Blick zur Straße und zur Hütte.
Ich warte und denke an den Kassenbeleg in der Jacke. Vigga hat Schwangerschaftstests gekauft. Für mich ist das wenig überraschend, denn ich habe in ihrem Tagebuch gelesen, dass sie ein Kind erwartet.
Knud und Tine haben mir im Krankenhaus gesagt, dass es keinerlei Indizien für eine Schwangerschaft gäbe, und signalisiert, dass meine Aussage ohne das Tagebuch nichts wert sei. Vielleicht ändert sich das mit dem Kassenzettel. Vielleicht kann er beweisen, dass ich recht habe. Andererseits belegt er lediglich, dass Vigga solche Tests gekauft hat und damit annahm, vielleicht schwanger zu sein. Der Kassenzettel sagt nichts darüber aus, ob einer der Tests positiv war. Trotzdem erscheint er mir wichtig.
Und er ist bislang das Einzige, das wenigstens ansatzweise belegen könnte, dass ich nicht gelogen und mir auch nichts eingebildet habe. Vigga dachte, sie sei schwanger, und kaufte drei Tests – und das ist immerhin die Hälfte der Wahrheit; deren andere fünfzig Prozent, die entscheidenden fünfzig Prozent, stellt die Tatsache dar, dass sie schwanger war – aber dazu brauche ich das Tagebuch. Falls es überhaupt noch existiert und nicht vernichtet wurde.
Wieder beschäftigt mich die Frage, warum es verschwunden ist. Und wieder gehe ich die Möglichkeiten durch:
Die Polizei hat es mitgenommen, verschweigt es mir gegenüber jedoch. Magnus hat es versteckt oder vernichtet. Jemand Drittes hat es an sich genommen, Frederik zum Beispiel. Aber wozu? Gibt es vielleicht etwas, das ich übersehe? Etwas, das mit »Heimdall« zu tun haben könnte? Ich denke an Johann. Johann muss etwas mit »Heimdall« zu tun gehabt haben, und Vigga hat immer wieder über »Heimdall« im Tagebuch geschrieben. Johann könnte es an sich genommen haben, weil er sich – weil er sich schützen will? Er hat der Polizei gesagt, er wisse nichts über »Heimdall«. Aber das Tagebuch würde belegen, dass das Projekt existiert und er darin verwickelt ist – was auch immer das bedeuten mag. Vigga hat ja Andeutungen gemacht, dass Magnus etwas Schlimmes getan hat – vielleicht zusammen mit Johann? Aber um an das Tagebuch zu gelangen, hätte Johann ins Haus kommen müssen. Die Polizei sagt, er habe ein Alibi, und außerdem war Frederik vor Ort, nicht Johann.
Und die vorletzte Möglichkeit trifft mich in diesem Moment wie ein Eispickel in die Stirn: Vigga ist nicht tot. Vigga ist zurückgekehrt, hat mich am Boden liegen sehen, in ihrer Kleidung. Sie hat Magnus damit konfrontiert, der wiederum sie mit dem Tagebuch konfrontierte. Die Sache eskalierte. Vigga brachte Magnus um, nahm das Tagebuch mit. Sie richtete alles so her, dass ich als Täterin dastand – aus Rache, weil sie annehmen musste, dass Magnus und ich etwas miteinander angefangen hatten und ich mich in ihr Leben schleichen wollte, so wie Tine und Knud es mir vorgeworfen haben.
Am Ende bleibt die Variante, dass ich mir nur einrede, es gäbe das Tagebuch. Aber der Kassenzettel in Viggas Jacke hat die Zweifel an mir selbst vertrieben. Ich habe es schwarz auf weiß, dass sie sich Tests gekauft hat.
Und ich kann nicht glauben, dass Vigga zurückgekehrt ist. Das kann nicht sein. Ich fühle vielmehr, und zwar hier an dieser Hütte stärker denn je, dass Vigga etwas Entsetzliches zugestoßen ist. Es muss um etwas anderes gehen – doch mir fällt beim besten Willen nicht ein, was.
Ich merke auf, als ich ein Auto zu hören glaube.