44.
D
as Motorengeräusch schält sich aus dem Sausen des Windes und dem rhythmischen Rauschen der Wellen. Ich biege einige Zweige zur Seite und öffne ein Sichtfenster im Gestrüpp. Zunächst sehe ich nichts weiter als die Straße, schließlich einen roten Punkt und ein Blitzen, das von den Reflexen der Sonne auf Glas stammen muss. Frederik fährt einen roten Ford. Ich bin eher für dezentere Töne zu haben, aber Frederik meinte damals, wenn er sich schon keinen richtigen Ferrari leisten könne, dann wenigstens ein Fahrzeug in der entsprechenden Lackierung. Ich weiß bis heute nicht, ob er das ernst gemeint hat oder ob es ein blöder Witz sein sollte.
Tatsächlich erkenne ich kurz darauf seinen Wagen, der das Tempo verlangsamt, um schließlich in die Haltebucht einzufädeln und dort stehen zu bleiben.
Einige Momente lang geschieht nichts. Dann öffnet sich die Tür, und Frederik steigt aus. Er bleibt neben dem Wagen stehen und sieht sich um, fasst in die Tasche seines Blousons und holt etwas heraus. Er schaut darauf und lässt es anschließend wieder in der Tasche verschwinden. Vermutlich hat er sein Handy gecheckt, weil er mich nirgends sehen kann, und wollte wissen, ob eine Mail von mir eingegangen ist oder ein Anruf. Er schaut sich weiter um, wirft einen Blick auf die Uhr. Dann setzt er sich in Richtung Fischerhütte in Bewegung. Sie liegt etwa fünfzig Meter abseits der Straße.
Er braucht nicht lange, bis er angekommen ist und hinter dem Gebäude und damit aus meinem Sichtfenster verschwindet. Ich warte ab und spähe weiterhin auf die Straße. Sehe nach links. Nach rechts. Es kommt kein anderes Auto. Keine Polizei, wie es scheint. Natürlich ist es möglich, dass sie irgendwo auf der Lauer liegen und Frederik überwachen. Aber ich wüsste nicht, wo. Hier gibt es nichts in Sichtweite, wo man Autos verstecken könnte. Und wenn sie mich schnappen wollten, hätten sie bereits zugreifen können, denn ich kann nirgendwohin fliehen. Also nehme ich an, dass er tatsächlich alleine gekommen ist.
Ich öffne die Schnappverschlüsse des Rucksacks, nehme den Schraubenzieher heraus und schiebe ihn in die Seitentasche der Jacke. Schließlich gehe ich um den Busch herum und auf die Fischerhütte zu.
Frederik kann ich noch nicht sehen. Er mich demzufolge ebenfalls nicht. Meine Boots streifen durch das hohe Gras. Ich spüre, dass sich zwischen dem Schraubenziehergriff und meiner Handfläche ein glitschiger Schweißfilm bildet. Ich gehe langsam um das Haus herum. Dann sehe ich Frederik, und er sieht mich. Ich halte Sicherheitsabstand. Die Überraschung ist ihm im Gesicht abzulesen.
»Liv?«
»Hallo, Frederik.«
Er betrachtete mich von oben bis unten, begutachtet mein verändertes Äußeres. Er hingegen sieht aus wie immer und trägt den hellen Twill-Blouson, den er von einer New-York-Reise mitgebracht hat. Seine Lieblingsjacke.
»Wow, du siehst … anders aus.«
»Ich weiß.«
»Liv, du musst mir erklären, was hier los ist.« Frederik macht einen Schritt auf mich zu. »Warum …«
Ich ziehe den Schraubenzieher aus der Jacke und halte ihn wie ein Messer, ziele damit auf seine Kehle. Die Spitze ist nur einen Fingerbreit von seiner Haut entfernt.
»Bleib stehen«, flüstere ich. »Keinen Schritt weiter!«
Er bleibt stehen, und zwar wie angewurzelt, hebt die Hände leicht an.
»Liv …«, flüstert er. »Ich … ich verstehe nicht, was hier abgeht …«
In seinem Gesicht lese ich Entsetzen, Überraschung, Irritation und Angst.
»Erklär es mir!«, sage ich.
»Was?«
»Erklär du mir, was hier los ist, Frederik, ich weiß es nämlich nicht.«
»Warum hast du dir die Haare gefärbt und geschnitten?«
»Das
interessiert dich?«
Er schließt die Augen, fährt sich mit der Hand übers Gesicht und schüttelt dann den Kopf. »Nein. Ja. Ich meine: Ich kann es mir denken. Natürlich. Du bist vor der Polizei abgehauen. Die suchen dich.«
Davon gehe ich aus. Trotzdem versetzt es mir einen Stich. Die suchen dich.
Es gibt einen Unterschied zwischen Wissen und Gewissheit haben.
»Du weißt, was passiert ist?«, frage ich ihn.
»Nicht wirklich, ich meine: Ich kann mir meinen Teil denken. Du bist aus dem Krankenhaus abgehauen, und jetzt suchen sie dich überall. Es gibt Hinweise im Radio, ein Foto im Internet. Die Polizei hat mit mir gesprochen und mich befragt, ob ich eine Ahnung habe, wo du sein könntest, und ob ich etwas von dir gehört habe und …«
»Was hast du geantwortet?«
»Nein zu beidem – bis vorhin hatte ich ja nichts von dir gehört. Abgesehen davon war ich vollkommen überrascht und überwältigt, dass du abgehauen bist. Warum nur, Liv? Das bringt dich in extreme Schwierigkeiten!«
Jetzt muss ich lachen. »Ach ja? Als ob ich nicht schon bis zum Kinn in Schwierigkeiten waten würde.«
»Es ist Wahnsinn!«
»Aber nicht zu ändern«, erwidere ich. Nach wie vor halte ich den Schraubenzieher auf Frederiks Hals gerichtet.
Wenn er sich jetzt auf mich stürzen würde – ich weiß nicht, ob ich in der Lage wäre, mich zu wehren und ihn zu verletzen. Er wird das bestimmt nicht tun, niemals. Aber … Aber ich weiß überhaupt nichts mehr.
»Wie hast du mich aufgefunden?«
»Hat dir das die Polizei nicht erzählt? Als ich dich fand, dachte ich, du seist tot. Überall war so viel Blut. Ich hatte schreckliche Angst.«
»Ich will es von dir hören. Von Anfang an. In allen Details.«
Frederik atmet tief durch und lässt die Hände sinken. Mit der freien Hand streiche ich mir die Haare aus dem Gesicht. »Sag es, Frederik. Jetzt. Ich muss es wissen.«
»Nimmst du bitte den Schraubenzieher runter?«
»Nein.«
»Aber Liv, ich …«
»Nein. Und jetzt sag es. Erzähl!«
Frederik nickt und blickt nach unten. Dann sieht er mich wieder an und erzählt es mir.