45.
W ir haben ja ein paarmal miteinander telefoniert, und ich begann, mir Sorgen um dich zu machen«, sagt Frederik. »Ich hatte Angst, dass die Situation dich zu sehr belasten könnte, denn es ist ja noch nicht so lange her, dass du deinen Zusammenbruch hattest. Du klangst am Telefon nicht gut, und auch deine Mails waren anders als sonst. Einige Nachrichten hast du ignoriert, was überhaupt nicht deine Art ist. Deswegen wollte ich vorbeikommen, um dich davon zu überzeugen, wieder nach Kopenhagen zu kommen und dich zurückzuziehen, bevor etwas Schlimmes passiert.«
»Ich kann ganz gut auf mich selbst aufpassen, Frederik«, kommentiere ich bitter.
Er schweigt, er braucht es auch nicht aussprechen: Das sieht man ja, wie gut du das kannst.
»Ich hatte das Gefühl, dass du nicht zugänglich bist. Und ich habe deinen Zusammenbruch miterlebt und weiß noch gut, wie du dich davor benommen hast. Ich sah die Gefahr, dass du dich emotional viel zu sehr in Viggas Verschwinden hineinsteigerst. Bei mir läuteten jedenfalls alle Alarmglocken. Deshalb habe ich mich ins Auto gesetzt und bin losgefahren.«
»Sie ist meine beste Freundin. Sie ist verschwunden. Sie ist wahrscheinlich umgebracht worden. Ihre Leiche ist nirgends zu finden. Da soll ich mich nicht in die Situation hineinsteigern?«
Frederik macht eine beschwichtigende Geste. »Kannst du jetzt bitte das Ding runternehmen?«, fragt er.
Ich lasse den Schraubenzieher sinken und halte ihn nur noch in Hüfthöhe in den Händen.
»Du hast mir beschrieben«, redet er weiter, »wo das Haus liegt. Es war einfach zu finden. Es war Abend, als ich ankam, überall brannte Licht. Deswegen hatte ich keine Hemmungen, wie ein Überfallkommando plötzlich vor der Tür zu stehen. Als ich ausstieg, fiel mir auf, dass die Haustür offen stand. Ich hab mir zunächst nichts dabei gedacht und die Klingel gedrückt, ohne hineinzugehen. Es kam keine Reaktion. Also habe ich noch mal geschellt. Nichts. Ich habe die Tür dann ein Stück weit geöffnet und ein ›Hallo‹ ins Haus gerufen. Immer noch keine Reaktion. Dann bin ich hineingegangen – und bekam einen riesigen Schock. Ich … Die Bilder werde ich mein Leben lang nicht mehr loswerden.«
»Du hast mich und Magnus gesehen?«
Frederik nickt. »Es war so viel Blut auf dem Boden, dass ich im ersten Moment gar nicht erkennen konnte, um wen es sich handelt. Abgesehen davon kenne ich Magnus ja gar nicht. Es hätte sonst wer sein können. Deswegen hatte ich in der allerersten Schocksekunde auch gedacht, es wäre ein Einbrecher oder so. Oder ein Mörder. Vielleicht Viggas Mörder. Ich dachte, es sei irgendetwas Verrücktes passiert und der Täter zurückgekommen, um sich zu rächen oder weiß der Teufel. Ich weiß nicht, es ging alles so schnell. Aber im zweiten Moment habe ich dich erkannt, und mir blieb fast das Herz stehen.«
»Wo habe ich gelegen? Wo Magnus?«
Frederik beschreibt es mir. Seine Beschreibung stimmt mit den Markierungen der Spurensicherung auf dem Küchenboden überein. Er schildert mir, wie er panisch wurde und welche Angst er um mich hatte.
»Erzähl weiter, Frederik. Bitte nur die reinen Fakten. Welche Gefühle du dabei hattest, interessiert mich im Moment wirklich nicht.«
Frederik sieht mich an, als hätte ich ihm eine geknallt.
»Es bringt mich nicht weiter«, erkläre ich. »Dass du Angst hattest und Panik und verwirrt warst, ist mir klar. Das hilft mir nicht.«
Er nickt. »Okay. Wenn du meinst. Ich hab dich am Boden gesehen, Magnus ebenfalls, und bin zu euch gerannt. Ich konnte nicht erkennen, ob du verletzt warst, aber es sah so aus: Überall war Blut an dir, auch an Magnus. Ich habe deinen Puls gefühlt. Er fühlte sich flach und schnell an, aber er war zu spüren. Bei Magnus … Es war offensichtlich, dass ihm Messerstiche zugefügt worden waren, und zwar am Hals. Ich habe ihm auch den Puls gefühlt. Aber da war keiner mehr. Ich habe versucht, dich irgendwie aufzuwecken, doch es gelang mir nicht. Dann habe ich die Polizei angerufen und in der Zwischenzeit überlegt, wie ich bei dir Erste Hilfe leisten kann. Eine Verletzung konnte ich nicht erkennen, und da wurde mir klar, dass es sich vielleicht gar nicht um dein Blut handelte. Ich habe dich in eine stabile Seitenlage gelegt. Du hattest ein Messer in der Hand. Und da … Da kamen mir entsetzliche Gedanken. Du mit einem Messer in der Hand – Magnus tot mit Messerstichen im Hals. Ich dachte, dass es einen Kampf zwischen euch gegeben haben könnte. Als ich dich auf die Seite gedreht hatte, sah ich eine Platzwunde an deinem Hinterkopf. Ich habe ein Küchenhandtuch genommen und es daraufgepresst, um die Blutung zu stoppen. Ein paar Minuten später dann Notarzt, Rettungswagen, die Polizei – es war ein totaler Irrsinn.«
Ich schlucke mehrfach. So wie Frederik die Situation schildert …
Es katapultiert mich einerseits zurück in meine Kindheit, aber auch ins Klinikum sowie ins Haus zu all dem trockenen Blut.
Das Messer in meiner Hand.
Beine in Hosen.
Schritte.
Blut.
Doch sosehr ich mich auch anstrenge: Ich kann keine der Situationen mit mir in Verbindung bringen. Es ist, als würde es um eine andere Frau gehen und ich nur danebenstehen und mir alles anschauen. Dabei weiß ich natürlich, dass es nicht um eine andere Frau geht, sondern um mich. Die Polizei erzählt mir, was ich getan haben soll. Aber es fühlt sich einfach nicht danach an, als ob ich das gewesen sein kann. Und ich denke mit einem Mal, wie leicht es ist, Menschen zu manipulieren – auch mich. Es ist wie bei den Erinnerungen an meine Kindheit, als man mich bei meiner ermordeten Mutter fand: Ich weiß nicht, welche Bilder echt sind und welche sozusagen implantiert – Erzählungen und Berichte anderer Menschen, die zu Bildern in meinem Kopf geworden sind, weil ich sie mir so lebhaft vorgestellt habe. Nichts davon fühlt sich real an, weil es mit keinerlei Gefühl verbunden ist. Es sind, wo ich darüber nachdenke, kalte Erinnerungen, die von Berichten stammen, die ich geglaubt habe, weil sie mir von glaubhaften Menschen wieder und wieder berichtet worden sind. Ich war viel zu jung, um das alles zu wissen.
Dennoch sehe ich alles im Detail, ich sehe meinen persönlichen Horrorfilm, aber fühle mich nicht damit verbunden. Genau wie jetzt. Denn auch jetzt bin ich gezwungen, das zu glauben, was mir die Polizei erzählt hat und was Frederik mir berichtet, denn ich habe keine Erinnerung an das, was in jener Nacht passiert ist. Und es fühlt sich auch hier so an, als hätte ich nicht das Geringste damit zu tun.
»Hat Magnus ein Buch bei sich gehabt?«, frage ich. Meine Stimme zittert.
»Ein Buch?«
»Ein Moleskineheft mit schwarzem Einband.«
Frederik denkt nach. »Nein«, sagt er dann. »Er hielt nichts in der Hand.«
»Lag irgendwo ein solches Buch? Ist dir etwas aufgefallen?«
Frederik schüttelt den Kopf. »Nein. Vielleicht ist es mir nicht aufgefallen, weil ich so verwirrt und entsetzt war. Aber ich glaube nicht, dass ich etwas wie ein Buch oder Heft gesehen habe.«
»Was ist weiter passiert?«
»Du bist mit einem Notarztwagen fortgebracht worden. Bei Magnus wurde der Tod festgestellt. Ich musste erst vor Ort bleiben und der Polizei alles erzählen. Dann kamen zwei weitere Polizisten in Zivil, denen ich noch mal alles erzählen musste. Ich bin mit ihnen zur Polizeistation gefahren, wo ich fast die ganze Nacht lang vernommen worden bin. Außerdem wurden mir Fingerabdrücke abgenommen, DNA-Proben und solche Dinge. Ich musste Kleidung und Schuhe abgeben. Ich bekam ersatzweise etwas zur Verfügung gestellt. Dann haben sie mir gesagt, dass ich gehen könne, mich aber zur Verfügung halten und am besten noch in der Stadt bleiben solle. Ich habe mich gefühlt, als wäre ich ein Tatverdächtiger.« Frederik lacht bitter. »Vollkommen irre. Warum sollte ich so etwas tun? Außerdem war ich ja im Auto. Ich war unterwegs. Das konnte zwar niemand bezeugen, aber sie haben den Bordcomputer ausgelesen und festgestellt, wann ich losgefahren bin, wann der Wagen dann wieder stoppte und wo. Zusätzlich haben sie mein Handy unter die Lupe genommen – das iOS zeichnet im Hintergrund auf, in welche Funkzellen und WLAN-Netze man sich zu welchen Uhrzeiten einwählt. Ich wusste das gar nicht. Meine Güte, die Technik überwacht uns vollständig, aber in diesem Fall war es gut für mich. Jedenfalls haben sie mir gesagt, dass für mich keine Probleme zu befürchten seien, und … Liv, was auch immer das bedeuten mag, aber: Du hattest ein Messer noch in der Hand. Die Polizei hat das Messer mit Sicherheit analysiert, und …«
»Ich weiß«, kürze ich ab.
»Dann wollten sie alles über dich von mir wissen. Über unsere Beziehung. Über dein Leben. Alles, was ich so weiß. Warum du an den Fjord gefahren bist. Alles über deine Freundschaft zu Vigga und Magnus.«
»Und du hast es ihnen erzählt?«
»Was sie wissen wollten und was ich weiß, habe ich ihnen erzählt. Ich … Nicht um dich zu belasten, okay? Ich wollte einfach die Wahrheit sagen. Auch, damit ich nicht selbst in Teufels Küche lande.«
Ich nicke langsam. Ich kann es Frederik nicht verübeln.
Er sagt: »Ich habe sie ebenfalls über dich ausquetschen wollen, wie es dir geht und was da eigentlich los war. Aber sie haben nichts rausgelassen. Ich durfte dich auch nicht im Krankenhaus besuchen. Ich bin fast verrückt geworden vor Sorge um dich, Liv. Aber am Ende war mir durchaus klar, dass die Polizei annahm, dass du Magnus getötet hast.« Frederik blickt mich durchdringend an. »Hast du?«
»Ich kann mich an nichts erinnern. Aber ich glaube es nicht. Ich glaube eher, dass er mich umbringen wollte.«
»Aber warum?«
»Ich hatte ein geheimes Tagebuch von Vigga gefunden. Darin standen einige Dinge, von denen Magnus nichts wusste. Für mich sprach auf einmal einiges dafür, dass er Vigga umgebracht haben könnte. Er wollte das Tagebuch unbedingt haben. Ich wollte es aber nicht hergeben. Da hat er mich die Treppe hinabgestoßen – oder ich bin im Gerangel zwischen uns beiden gestürzt. Und dann weiß ich nichts mehr. Ich bin im Krankenhaus zu mir gekommen – und war auf einmal tatverdächtig. Die Polizei scheint sogar zu glauben, dass ich für Viggas Verschwinden verantwortlich bin. Deswegen muss ich ganz genau wissen, was an diesem Abend geschehen ist, Frederik, und ich muss Viggas Tagebuch finden.«
»Und deswegen bist du geflohen?«
»Ja. Ich muss herausfinden, was passiert ist. Ich muss das Tagebuch finden, denn die Polizei glaubt mir nicht, dass es ein solches gibt. Wenn ich es finde, wird klar werden, dass es stimmt, was ich sage.«
Frederik blinzelt und nickt. Er muss die Informationen verdauen. »Was stand denn drin?«
»Zuerst muss ich dich etwas fragen. Und du musst die Wahrheit sagen.«
»Okay.«
»Schwör es mir.«
»Ich schwöre es dir.«
»Was es auch ist. Ich kann die Antwort vertragen. Schlimmer als jetzt kann es für mich nicht mehr werden. Also: Sag mir die Wahrheit.«
»Ja.«
»Hattest du was mit Vigga?«
»Was? Ich? Mit Vigga?«
»Ja oder nein?«
»Nein, verdammt!«
Ich schweige und beobachte Frederik.
»Wie kommst du denn darauf, meine Güte? Liv, also echt …«
»Auch nicht, als wir schon nicht mehr zusammen waren?«
»Nein!«
Er wirkt verärgert, dass ich ihm eine Affäre mit meiner besten Freundin unterstelle. Wütend ist er. Wut kann allerdings andere Gefühle überspielen. Ich weiß das sehr gut. Aber Frederik bleibt nach wie vor ein schlechter Lügner. Wenn er mit Vigga ins Bett gegangen wäre, hätte ich ihm das schon viel eher an der Nasenspitze angesehen. Schon vor Monaten. Dann hätte er sich mir gegenüber ganz anders verhalten. Und er wäre viel zu anständig, um mit meiner Freundin etwas anzufangen. Oder?
Wie Vigga das allerdings gesehen hat … Ihr gefiel Frederik ja von Anfang an. Falls er also mit einem Anruf bei Vigga ein Gespräch über mich und das Beziehungsende gesucht hätte … Dann trinkt man einen Kaffee, bei Vigga lief die Ehe schlecht, man tröstet sich gegenseitig – und dann …
Und dann: Was? Bin ich irre? Nein, irre bin ich nicht. Ich bin verzweifelt und halte alles für möglich.
»Gut«, sage ich schließlich.
Frederik rauft sich die Haare und starrt in die Luft, um sich wieder zu sammeln. »Du solltest dich der Polizei stellen, Liv. Wenn du Magnus nicht getötet hast, wird das am Ende herauskommen. Das alles hier führt doch zu nichts, und dieses Tagebuch … Ich habe nichts dergleichen gesehen, tut mir leid.«
»Das hast du schon gesagt.«
»Bist du sicher, also … Ohne dass ich dir etwas unterstellen will, aber …«
»Dann lass es.«
»… aber bist du sicher, dass es das auch wirklich gibt?«
»Natürlich.«
Frederik nickt langsam. Er deutet mit einem Nicken auf mich. »Sind das ihre Sachen, die du da trägst?«
»Wie kommst du darauf?«
»Die Polizei hat mir gesagt, dass du ihre Sachen tragen würdest, und sie hat mich gefragt, ob das früher schon mal vorkam. Ob du sozusagen besessen von ihr gewesen bist.«
Ich lache auf. Tine und Knud müssen mich für komplett wahnsinnig halten.
»Was stand in dem Tagebuch, dass du denkst, Magnus habe Vigga umgebracht?«, fragt mich Frederik noch einmal.
Ich erzähle es ihm. Alles. Dass Vigga eine Affäre hatte und schwanger war, es finanzielle Schwierigkeiten in der Firma gab und Magnus etwas sehr Schlimmes getan haben muss. Ich erzähle auch von »Heimdall«. Frederik hört zu und hält sich dabei vor Aufregung die ganze Zeit die Hand vor den Mund, schüttelt zwischendurch den Kopf und murmelt »Unfassbar« zwischen den Fingern hindurch.
»Und wo«, fragt er dann, »soll das Tagebuch sein?«
»Ich weiß es nicht. Deswegen solltest du mir alles genau erzählen. Ich war im Haus und habe alles durchsucht.«
»Du … Du warst noch einmal im Haus? Liv!«
»Ich habe alles abgesucht und nichts gefunden. Frederik?«
»Ja?«
»Warum stand die Haustür auf?«
»Das hat mich die Polizei auch hundert Mal gefragt.«
»Und was hast du hundert Mal geantwortet?«
»Dass ich keine Ahnung habe. Sie war offen. Das ist alles. Es kann alle möglichen Gründe haben, warum eine Haustür offen steht. Das ist alles reine Spekulation. Sie stand einen Spalt weit offen. So, als ob man raus- oder reingeht und die Tür nicht richtig schließt oder sie extra einen Spalt offen stehen lässt.«
Ich nicke. »Du musst mir helfen.«
»Und wie?«
»Ich habe ein Laptop und komme nicht ins System. Es gibt ein Kennwort. Vielleicht kannst du es knacken.«
»Da bin ich mir nicht sicher.«
»Versuch es.«
Frederik schnauft.
»Versuchst du es?«
Er macht eine »Was bleibt mir übrig«-Geste, sieht sich um und deutet dann mit der Stirn auf die Fischerhütte. »Lass uns da reingehen, Liv, falls die Tür offen ist. Man sollte uns hier nicht zusammen sehen, wenn jemand vorbeifährt – auch nicht, wenn man dich beim besten Willen nicht wiedererkennen würde, so wie du dich zurechtgemacht hast.«
Frederik geht zur Fischerhütte.
Doch die Tür ist mit einem neu aussehenden Vorhängeschloss zwischen zwei Metallbügeln verschlossen. Scheint so, als würde die Hütte doch noch benutzt.
Frederik ruckt an der Tür, die aus einigen verwitterten Bohlen zusammengeschraubt worden ist, aber nichts passiert. Bevor er es erneut probiert, hole ich Schwung und trete mit den schweren Doc-Martens-Stiefeln gegen die Tür. Frederik hüpft regelrecht zur Seite und geht mir aus dem Weg. Er will protestieren, hält aber dann doch den Mund. Ich hole erneut aus, trete wieder mit der flachen Sohle gegen die Tür, ein drittes Mal. Beim vierten Versuch bricht einer der Bügel. Die Tür springt nach innen auf.
Ich spüre, wie Frederik mich anstarrt, aber ich kümmere mich nicht darum und gehe hinein. Er folgt mir nach und zieht die Tür hinter sich zu.