46.
D
rinnen herrscht diffuses Licht, das durch die beiden Fenster an den Stirnseiten hereinfällt. Die Hütte ist etwa zwei Meter hoch und vielleicht vier Meter lang. Das Dach wird in der Mitte von einem Balken getragen. Wenn man sich nach links und rechts bewegen will, muss man wegen der Schrägen den Kopf einziehen. Der Holzboden ist von einer undefinierbaren Farbe zwischen Braun und Grau. In einer Ecke stehen zusammengerollte Isomatten, die nagelneu aussehen. In einer anderen Ecke liegen zusammengeknüllte Netze mit Schwimmern aus grünlichem Styropor. Daneben gibt es einen schmalen, schäbigen Tisch und einen Hocker, der ziemlich marode wirkt. Auf der Tischplatte stehen niedergebrannte Kerzen. An dem Balken hängen verwitterte Taue und Stricke an Nägeln und Haken. Es riecht muffig, feucht und schwach nach Fisch und Brackwasser.
Ich stelle das Laptop auf dem Tisch neben einer der Kerzen ab, die in weißen Wachspfützen stecken, klappe ihn auf und fahre das Betriebssystem hoch. Frederik blickt mir über die Schulter, und mir wird bewusst, dass er mir problemlos eins über den Schädel ziehen könnte. Ich erwarte nicht, das er das tun wird, stelle mich aber dennoch wieder aufrecht und seitlich zu ihm hin, nehme die »Heimdall«-Akte aus dem Rucksack und lege sie neben den Computer. Mit einer Geste bedeute ich Frederik, dass er loslegen soll, aber er zögert.
Dabei ist er ziemlich gut mit Computern. Der Beste, den ich kenne, und ich kenne einige, die professionell mit IT beschäftigt sind. Doch das ist der Unterschied zu Nerds wie Frederik – die Profis machen es zum Geldverdienen, die Amateure aus Leidenschaft.
»Hast du eine Ahnung, was das sein könnte?«, frage ich und deute auf die Aktenmappe.
»Heimdall«, murmelt Frederik, nimmt den Hefter und blättert darin herum. Ich versuche, in seinem Gesicht zu lesen. Frederik nimmt sich die Blätter vor, einige intensiver, andere oberflächlich. Er deutet auf die bunten Grafiken. »Das sind Messungen. Es könnten topografische Daten sein. Darauf lassen die Maßangaben und Positionsdaten schließen.« Frederik zieht sein Smartphone aus der Hosentasche, tippt darauf herum, dann zeigt er mir eine App, die so aussieht wie Google Maps. Irgendwo mitten im Meer vor Bornholm ist ein roter Punkt zu erkennen.
»Das sind die Positionsdaten.« Frederik klingt nachdenklich.
»Mitten auf dem Meer?«
»Scheint so.«
Er betrachtet die Grafiken noch einmal. »Die topografischen Daten könnten Angaben über die Beschaffenheit des Meeresbodens sein. Das wäre stimmig, weil auf den Messblättern Angaben in Hertz nachzulesen sind. Das heißt, es kamen Ultraschallgeräte zum Einsatz. Andere Daten geben Radarpositionen von Objekten an.«
»Was sollen das für Messungen sein? Wozu? Was für Objekte?«
Frederik zuckt mit den Schultern, klappt die Aktenmappe zu und legt sie auf den Tisch, um das Laptop zu sich zu drehen. »Es könnten Messungen für Bohrungen sein oder Bodengutachten für Windparks. Allerdings sind dazu die Meerestiefen zu groß. Die Briefe in der Mappe lassen auf einen staatlichen Auftrag schließen. Vielleicht hat Magnus an einem neuen Programm zur Vermessung gearbeitet. Neue Geräte brauchen neue Software. Es kann um alles Mögliche gehen. Und die Radardaten – weiß der Geier. Vielleicht entwickeln sie auch Software für Meeresbiologen, die irgendwelche Wale oder Fischschwärme beobachten.«
»Weißt du, wer Heimdall ist?«
»Er ist der Wächter der Götter in Asgard. Nordische Mythologie.«
»Was hat der Meeresboden vor Bornholm mit dem Wächter der Götter zu tun?«
Frederik zuckt wieder mit den Schultern und macht sich am Laptop zu schaffen. Er startet ihn neu, macht irgendwelche Klammergriffe, worauf sich schwarz-weiße Fenster öffnen. Er tippt etwas hinein, startet das Laptop erneut und wiederholt das Spiel.
Dabei sagt er: »Es könnte auch eine Überwachungssoftware sein. Der Name würde das nahelegen. Aber spielt das eine Rolle für dich, Liv? Ich meine: Wir alle arbeiten an Projekten, die Außenstehenden kryptisch vorkommen würden. Es hat nichts mit deiner Situation zu tun.«
Wer weiß, denke ich. »Lass das meine Sorge sein. Was machst du da?«
»Ich versuche, den Passwortschutz zu umgehen. Erinnerst du dich daran, als du dein Windows-Passwort mal vergessen hattest?«
Natürlich. Gigantische Katastrophe, und Frederik hat mich gerettet.
»Da habe ich das Gleiche getan. Allerdings darfst du nicht erwarten, dass du jetzt gleich an Magnus’ Account kommst oder so. Dazu müssten wir sein Passwort hacken, und ich nehme an, dass das Laptop eines Softwareingenieurs ziemlich gut abgesichert ist. Aber wer weiß …«
»Wer weiß – was?«
Frederik schiebt die Hände in die Hosentaschen und starrt auf den Bildschirm. Er schweigt, bis die Windows-Oberfläche erscheint. Auf der rechten Seite liegt ein Ordner, der »Heimdall« heißt.
»Bingo«, sagt Frederik. »Ich habe eben in der Registry ein paar Einträge gemacht, die den Passwortschutz deaktivieren, und …«
»Danke«, kürze ich ab und drehe den Computer zu mir, öffne den Ordner mit einem Doppelklick. Diverse PDFs tauchen auf, die ich der Reihe nach öffne. Frederik schaut mir zu.
»Das sind ebenfalls staatliche Dokumente, Anweisungen, Parameter für technische Dinge, die mir jedoch nichts sagen«, murmelt Frederik.
Mir sagen sie auch nichts. Erst recht nicht die Dokumente und Tabellen mit endlosen Zahlen, die in Kyrillisch geschrieben sind. »Ist das Russisch?«
»Scheint so. Wer weiß? Keine Ahnung. Du glaubst«, fragt Frederik leise, »dass das hier etwas mit allem zu tun haben könnte, was passiert ist? Dass Heimdall eine Rolle spielt bei dem Mord an Magnus?«
»Wenn es eine spielt, dann belegt es, dass ich mit Magnus’ Tod nichts zu tun habe. Und ich habe definitiv nichts damit zu tun.«
»Aber Liv, dadurch, dass du geflohen bist, machst du dich in jedem Fall noch viel verdächtiger.«
»Und du dich ebenfalls, indem du mir hilfst und mich nicht der Polizei meldest.«
»Du solltest dich stellen.«
»Nein.«
»Liv …«
»Du solltest jetzt verschwinden, Frederik.«
»Und du?«
Ich stelle mich aufrecht hin, denke nach. Dann greife ich in die Innentasche meiner Jacke, um den Kassenbon herauszunehmen, der belegt, dass Vigga Schwangerschaftstests gekauft hat. Aber ich gefriere praktisch in der Bewegung.
Mein Blick bleibt an dem Pfeiler in der Hütte hängen, vor dem Frederik steht. An einem Haken, der daraus hervorsticht. Ich schaue zu Boden, ans Ende des Pfeilers. Ich kann nicht mehr atmen. Mein Herz scheint auszusetzen. Ich schaue zu den Isomatten, den Kerzen, dann zurück zum Pfeiler und dem Haken.
»Liv?«, höre ich Frederik wie durch Watte. »Liv? Was ist denn mit dir?«
»Geh, Frederik«, sage ich, bekomme endlich wieder Luft, muss blinzeln und sehe ihn an. »Geh jetzt.«
Frederik zögert. »Und … Und du?«
»Hast du fünfhundert Kronen für mich?«
Frederik sieht mich an, als wäre ich verrückt. Dann zückt er die Brieftasche und gibt mir ein paar Scheine. Ich stecke sie ein.
»Liv«, sagt er, »Liv, gibt es irgendetwas, was ich tun kann?«
»Ja«, sage ich. »Das gibt es. Du fährst zurück nach Holstebro in dein Hotel. Wenn du da bist, rufst du die Polizei an und schickst sie hierher. Du sagst, ich hätte das gesagt.«
»Aber …«
»Sie werden Fuß- und Fingerabdrücke von uns beiden finden …«
Und nicht nur das. Nein, absolut nicht nur das. Noch sehr viel mehr.
»Du sagst ihnen, ich hätte dich angerufen und herbestellt, um mit dir darüber zu sprechen, wie du mich gefunden hast. Du musst also nicht lügen. Du kannst ihnen alles erzählen. Auch über Heimdall.«
»Aber die werden mir den Hals umdrehen, wenn ich sage, dass ich dich getroffen habe, ohne die Polizei anzurufen.«
»Ja. Aber du hast mich gefragt, wie du mir helfen kannst, Frederik. So kannst du mir helfen. Deine Entscheidung.«
»Was sollen sie …«
»Das überlass der Polizei. Und jetzt geh, Frederik. Du steckst schon tief genug mit drin. Wirklich.«
Frederik zögert wieder. Schließlich nickt er.
»Und … Und was machst du?«
»Mir fällt schon was ein. Abgesehen davon weißt du es besser nicht. Denn dann würdest du eventuell doch für mich lügen, wenn die Polizei dich danach fragt, und das will ich nicht. Geh, Frederik.« Ich versuche ein Lächeln. »Wir sehen uns bald. Ganz bestimmt.«
Frederik schluckt. Er macht Anstalten, mich zu umarmen, aber zögert – immerhin habe ich vorhin mit einem Schraubenzieher auf seinen Kehlkopf gezielt und bin eine flüchtige Mordverdächtige.
Schließlich sagt er: »Okay, ich mache es so, wie du gesagt hast.«
Er verlässt die Hütte, geht zum Auto und fährt weg. Ich sehe ihm durch das Fenster hinterher. Er wird etwa eine halbe Stunde brauchen, bis er wieder im Hotel ist.
Als ich seinen Wagen nicht mehr sehe, drehe ich mich um, um die Haare an dem rostigen Haken und die getrockneten Blutstropfen auf dem Boden genauer anzusehen.