47.
M
ir wird schlecht, als ich den Haken betrachte. Das, was ich zuerst für eine rostige Kruste gehalten habe, erscheint mir jetzt wie getrocknetes Blut mit Geweberesten. Daran kleben einige Haare. Sie sind lang und schwarz. Vielleicht blauschwarz, denke ich. So blauschwarz wie meine, nachdem ich Viggas Färbemittel verwendet habe. Der Haken befindet sich in der Höhe meines Kopfes. Die Blutstropfen auf dem Boden sehen so aus, als seien sie vom Haken herabgetropft.
Das Entsetzen kriecht mir durch die Adern wie Gewürm.
Außerdem sehe ich, dass die Staubschicht auf den Dielen verwischt ist. Es sieht aus wie eine breite Schleifspur. Sie führt auf der einen Seite zur Tür. Auf der anderen …
Mit drei großen Schritten bin ich bei den Isomatten. Mit zitternden Händen entrolle ich sie. Und jetzt sehe ich Staub auf der Unterseite der einen Matte. Blut erkenne ich darauf nicht.
Ich lasse sie fallen, gehe zurück zu dem Pfeiler und sehe mich erneut in der Hütte um. Wie in einem Film laufen die Bilder vor meinen Augen ab.
Vigga, die sich hier mit jemandem trifft. Ein geheimer Ort, wo sie sich mit ihrem Liebhaber versteckt. Kerzenlicht und ein aus Isomatten improvisiertes Bett. Einerseits schäbig, aber auch romantisch, und für Vigga ist es wie unser altes Schloss aus Mädchentagen – ein Raum, in dem sie sich sicher fühlt, wo sie nicht gesehen wird wie in einem Hotel und was zumindest bequemer und nicht ganz so billig ist wie der Rück- oder Beifahrersitz eines Autos, das in der Nacht in einem verlassenen Feldweg parkt. Und hat sie es nicht genau so im Tagebuch beschrieben – ein verrückter Ort, kein Hotel, aber ein ganz sicherer Ort, wenngleich schäbig, aber auch romantisch.
Und dann kommt es an diesem geheimen Ort erst zum Sex und dann zu einem tödlichen Streit.
Mein Film im Kopf läuft weiter. Vigga wird gestoßen. Ihr nackter Körper torkelt durch den Raum, fällt zu Boden auf eine der Isomatten, und … Nein. Falsch. Am Haken war Blut. Auf dem Boden unter dem Haken. Auf den Matten war nichts. Der Film spult zurück und läuft nochmals ab. Anders. Dieses Mal schlägt ihr Hinterkopf gegen den Balken. Der rostige Haken bohrt sich durch die Schädeldecke ins Gehirn. Ihr Körper bleibt daran hängen oder fällt zu Boden. Er wird auf eine der Matten gelegt und hinausgeschleift, um in einen Kofferraum gewuchtet und versteckt zu werden, wo ihn niemand jemals findet. Und ihre blutige Kleidung: in einem Mülleimer unterwegs entsorgt.
Ich höre mein eigenes Aufwimmern und spüre das Brennen in den Augen, als Tränen hineinschießen. Ich halte den Mund mit der Hand zu und beiße mir auf die Unterlippe. Ja, denke ich, so könnte es gewesen sein. Deswegen habe ich Frederik fortgeschickt, damit er der Polizei Bescheid sagt. Sie wird die Hütte untersuchen und feststellen, ob das Blut und die Haare von Vigga stammen.
Und sie wird noch etwas finden. Ich nehme den Kassenbeleg aus der Apotheke und platziere ihn auf dem Tisch. Außerdem nehme ich drei Blätter aus der Akte – einen der Briefe vom Ministerium, auf dem das Wort »Heimdall« vermerkt ist, sowie zwei weitere Blätter mit technischen Diagrammen.
Ich fasse nach dem Rucksack, stecke die Akte und das Laptop hinein, verlasse die Hütte und gehe Richtung Straße. Meine Gedanken fahren Achterbahn.
Wer hat Vigga umgebracht?
Ich denke immer noch, dass es Magnus war. Er könnte Vigga auf die Schliche gekommen sein, hat sie in der Hütte überrascht – und dann führte eines zum anderen. Aber warum ist dann Magnus umgebracht worden? Warum wurde es so dargestellt, als hätte ich Magnus ermordet? Also noch mal anders: Was wäre, wenn Vigga von ihrem Liebhaber ermordet wurde? Auch das erklärt allerdings nicht den Mord an Magnus und warum er mir in die Schuhe geschoben werden soll – und es erklärt nicht, ob und was »Heimdall« damit zu tun hat. Aber da sind die fehlenden Festplatten. Sie waren vorher da. Das weiß ich ganz sicher. Vielleicht hat Magnus sie irgendwann vor seinem Tod entfernt – oder … Oder sein Mörder hat sie mitgenommen, nachdem er Magnus ermordet hatte. Aber wer würde das tun? Und warum?
Ich muss mit Johann reden, denke ich, als ich an der Bushaltestelle angekommen bin. Ich weiß, wo er lebt, zumal jeder das Isbjerget kennt in Århus, und ich weiß, wo der Komplex zu finden ist. In welcher Wohnung er dort lebt … Nun, ich werde es herausfinden.
Tine und Knud haben gesagt, dass er ein Alibi für die Tatnacht hatte. Auch Frederik hat das. Aber ich muss trotzdem weitermachen. Johann ist der Einzige, der mir einfällt, mit dem ich über »Heimdall« reden kann und mit dem Vigga vielleicht eine Affäre gehabt hat. Ich weiß nicht, wie er auf mich reagieren wird. Ich sollte in meiner Situation wohl eher vom schlechtesten Fall ausgehen – nämlich davon, dass er mich nicht nur abweisen wird, sondern mich vielleicht sogar angreift, um mich zu überwältigen und die Polizei anzurufen.
Ja, denke ich, darauf muss ich vorbereitet sein. Wenn es anders läuft, umso besser. Ich fasse in meine Jackentasche und spüre dort den Schraubenzieher, mit dem ich vorhin auf Frederik gezielt habe. Möglicherweise werde ich dasselbe noch einmal tun müssen, wenn ich vor Johann stehe. Zu meiner Sicherheit.
Ich blicke auf die Uhr an meinem Handy und betrachte dann den Fahrplan. In einer Viertelstunde sollte der nächste Bus kommen. Damit könnte ich nach Herning fahren und dort in einen Zug steigen. Aber ich habe kein gutes Gefühl dabei, hier so lange herumzustehen. Was, wenn der Bus Verspätung hat oder womöglich ganz ausfällt?
Ich blicke wieder auf, als ich höre, dass sich ein Auto nähert. Mache mich bereit, um wegzulaufen, falls es ein Polizeiwagen ist. Aber es ist keiner. Es ist ein dunkler Kombi. Er verlangsamt das Tempo, und ich erkenne, dass es sich um einen BMW handelt. Durch die Windschutzscheibe sehe ich, dass nur eine Person darin sitzt. Der Wagen stoppt neben mir. Ich spüre, dass alle meine Muskeln angespannt sind. Wenn ich jetzt weglaufe, mache ich mich erst recht verdächtig. Die Seitenscheibe surrt herunter. Ich erkenne einen älteren Mann am Steuer. Irgendwie kommt mir der Mann bekannt vor. Seine Augen sind glasklar und haben fast die Farbe von meinen. Ich schätze ihn auf Mitte oder Ende sechzig.
Ist es der Tourist, den ich vorhin im Café der Bäckerei gesehen habe? Ich frage mich, was er von mir will. Denkt er womöglich, er könne mich sozusagen aufgabeln? In meinem etwas abgerissenen Look wirke ich vielleicht wie jemand, der für Geld einiges machen würde. Oder hat er mich doch von einem Fahndungsbild wiedererkennt? Nein, dann würde er nicht anhalten. Er würde die Polizei anrufen – oder hätte es schon längst getan.
»Kann ich Sie mitnehmen?«, fragt er.
Ich stutze. Denke nach. »Mein Bus kommt in einer Viertelstunde.«
»Ist nur ein Angebot. Wohin müssen Sie denn?«
»Århus«, sage ich und denke im selben Moment, dass ich es besser nicht gesagt hätte.
»Ich fahre nach Århus«, erwidert er mit einem freundlichen Lächeln. »Mein Kurzurlaub an der Nordsee ist zu Ende.«
Ich trete von einem Bein aufs andere. Denke nach. Eine Viertelstunde oder länger hier herumstehen, mich mit öffentlichen Verkehrsmitteln bewegen, am Bahnhof in Kauf nehmen, dass ich von Überwachungskameras aufgenommen werde, mein letztes Geld ausgeben, falls es überhaupt noch für ein Bahnticket reicht … Unauffälliger und praktischer wäre es durchaus, mich mitnehmen zu lassen.
Ich frage: »Habe ich Sie eben im Café gesehen?«
»Da war ich, ja.«
»Warum halten Sie hier an und wollen mich mitnehmen?«
»Ich fahre nicht gern allein«, antwortet er. »Sie machen den Eindruck, als ob Sie Hilfe benötigen könnten.«
Ich stocke. »Wie kommen Sie darauf?«
Der Mann zuckt mit den Schultern. »Sie wirken so. Das habe ich schon im Café gedacht. Sie sehen nicht aus wie der übliche Nordseetourist. Sie passen nicht ins Bild, und gerade eben dachte ich: Ach, da steht doch die junge Frau, so mitten im Nirgendwo?«
Ich ringe mir ein Lächeln ab. In meinem Leben bin ich nur zwei- oder dreimal per Anhalter gefahren. Schlechte Erfahrungen habe ich nicht gemacht. Bis nach Århus dürfte es allenfalls eine Stunde sein, schätze ich. Es ist helllichter Tag, und von dem hilfsbereiten Mann scheint keine Gefahr auszugehen.
»Okay«, sage ich schließlich. »Danke für Ihr Angebot. Ich fahre gerne mit.«
Ich öffne die Tür und setze mich auf den Beifahrersitz, schnalle mich an.
»Ich bin Ole Sörensen«, sagt der Mann.
»Vigga«, antworte ich wie aus der Pistole geschossen und spüre, dass ich frösteln muss, als ich den Namen sage, weil mir auf Anhieb kein anderer einfällt. »Vigga Soderström.«