48.
T ine und Knud rasen mit Vollgas über die Bundesstraße. Tine ist flau im Magen, was an der schnellen Fahrt liegt und daran, dass sie immer noch nichts gegessen hat. In Kombination mit einem Anruf von der Leitstelle insgesamt also kein Wunder. Sie waren gerade dabei, der eintreffenden Verstärkung Instruktionen zu geben und die Spurensicherung mit der erneuten Inventarisierung des Tatorts zu beauftragen, als sich die Zentrale meldete: Liv war aufgetaucht. Und nicht nur das: Sie hatte sich mit einem maßgeblichen Zeugen getroffen. Der Ort, an dem das Treffen stattgefunden hatte, war außerdem bekannt.
Knud nimmt ihr das Wort aus dem Mund, als er ruft: »Ich könnte kotzen!«, und mit dem Handballen vor Wut aufs Lenkrad schlägt.
»Die Kollegen sind schon losgefahren, um Frederik abzuholen und in die Mangel zu nehmen«, sagt Tine.
So oder so muss sie ebenfalls mit ihm sprechen. Aber Hauptsache, der Kerl wird erst einmal einkassiert, samt Handy, um es auszulesen und Telefonnummern sicherzustellen. Vielleicht kann man die herausfinden, die Liv verwendet hat, und sie anpeilen.
»So ein Irrsinn!«, flucht Knud weiter. »Da telefoniert der Kerl, der die Leiche und die Hauptverdächtige gefunden hat, in aller Seelenruhe mit der Hauptverdächtigen, die zudem festgenommen und flüchtig ist – und trifft sich mit der an einer beschissenen Fischerhütte! Sind die denn alle verrückt geworden?«
»Reg dich ab, Knud«, sagt Tine, obwohl sie ebenfalls stinkwütend ist, und wirft noch ein Minzbonbon ein. »Sieh es positiv: Immerhin haben wir jetzt eine weitere Spur von ihr.«
Sie schaut aus dem Seitenfenster. Ein Bus saust an ihnen vorbei. Dann ist der Blick wieder frei auf die glatte Oberfläche des Fjords.
»Nein«, sagt Knud. »Ich rege mich nicht ab.«
»Frederik sagt, er hätte keine Ahnung gehabt, dass Liv im Krankenhaus von uns verhaftet wurde und sie flüchtig ist.«
»Der lügt! Wahrscheinlich hat er ihr noch geholfen!«
»Dann hätte er uns wohl kaum angerufen, um uns auf ihre Spur zu bringen. Die beiden kennen einander sehr gut. Er hat sich um sie gesorgt.«
»Ja, aber dann trifft er sich mit ihr? Und wundert sich nicht darüber, dass sie jetzt ganz anders aussieht und was dieser subversive Treffpunkt soll? Und schickt uns dann dorthin – in ihrem Auftrag? Weil sie ihn darum gebeten hat? Als Fluchthelfer, oder was? Vielleicht ist das alles nur ein Ablenkungsmanöver, um uns beschäftigt zu halten.«
»Frag ihn doch selbst, warum er uns angerufen hat«, erwidert Tine und knackt das Minzbonbon mit den Backenzähnen. »Woher soll ich denn das wissen?«
»Das war rhetorisch.«
»Aha.«
»Der hat sich jetzt aber mal ganz tief in die Scheiße geritten!«
Das hat er in der Tat, denkt Tine. Auf der anderen Seite scheidet Frederik in ihren Augen damit vollständig als Tatverdächtiger aus. Es war zwar schon klar, dass er zur Tatzeit nicht im Haus gewesen sein konnte, dennoch war es Tine die ganze Zeit über merkwürdig vorgekommen, dass ausgerechnet er, als Livs Ex, zu diesem speziellen Zeitpunkt mehrere Hundert Kilometer Fahrt in Kauf nimmt und dann auch noch auf eine offene Haustür stößt, um punktgenau das Massaker zu entdecken und seiner Ex gewissermaßen das Leben zu retten. Wer weiß, ob sie sonst überlebt hätte. Es war großes Glück, dass sie ihr Herzversagen erst im Rettungswagen erlitten hat, wo es unmittelbare medizinische Hilfe gab, und nicht schon früher.
»Jedenfalls«, sagt Knud im Ausatmen, »ist die aktualisierte Personenbeschreibung von Liv draußen. Frederik hat den Kollegen eine gegeben, die sich mit unseren neuen Annahmen deckt: kürzere Haare, schwarz gefärbt. Sie trägt jetzt außerdem eine Lederjacke und Schnürstiefel und hat einen Rucksack dabei.«
Tine nickt. »Weißt du, was komisch ist?«
»Hier ist so ziemlich alles komisch, Tine.«
Tine ist in der letzten Dreiviertelstunde, in der sich die Ereignisse überschlugen, noch nicht dazu gekommen, Knud ihre Beobachtung mitzuteilen.
»In einer versiegelten Schublade im Schreibtisch befanden sich ein Laptop und eine Akte.«
»Ich weiß.«
»Die Akte und das Laptop sind verschwunden. Der Siegelbruch ist nicht dokumentiert – also waren das nicht unsere Leute. Wahrscheinlich hat Liv beides mitgenommen.«
»Das hast du schon gesagt. Was also ist so komisch?«
»Es war eine Tekksolv-Akte. Von Magnus’ Firma. Ich habe sie auf einem Foto der Spurensicherung gesehen und es vergrößert. Die Akte war mit ›Heimdall‹ beschriftet. Das fand ich komisch. Die Beschriftung.«
Knud denkt nach.
»Von ›Heimdall‹ hat Liv mehrfach geredet. Und wie du dich bestimmt erinnerst, haben wir auch mit Johann darüber gesprochen. Er hat gesagt, dass er von ›Heimdall‹ nichts wisse oder ihm das nichts sage – den Wortlaut müsste ich nachlesen.«
»Stimmt.« Knud nickt. »Und er hat darum gebeten, Firmenunterlagen aus dem Haus zu bekommen.«
»Ja. Und wenn es eine Tekksolv-Akte gibt, die mit dem Projektnamen beschriftet ist, müsste es ihm eigentlich schon etwas sagen. Es sei denn, Magnus hat auf eigene Faust an etwas gearbeitet. Außerdem fehlen zwei Festplatten, aber die müssen vorher schon weg gewesen sein. Ich habe das überprüft. Entweder Magnus hat sie vor seinem Tod entfernt – oder es war jemand anders, zum Beispiel im Anschluss an den Mord an Magnus.«
»Vielleicht hat Liv die Festplatten?«
Tine zuckt mit den Schultern. »Möglich. Wissen wir aber nicht. Allerdings können wir recht sicher davon ausgehen, dass sie die Akte und das Laptop hat.«
»Hm«, macht Knud. »Was will Liv mit der Akte und dem Laptop?«
»Etwas beweisen – sich selbst oder uns«, sagt Tine, während Knud in einer Haltebucht am Rande der Straße stoppt, wo schon zwei Streifenwagen parken. Tine sieht die Fischerhütte am Rand des Fjords, die kieloben liegenden Boote sowie zwei Kollegen in Uniform, die in etwas Abstand zur Hütte stehen und sie sichern.