49.
O
les Autoradio läuft. Auf dem Rücksitz steht eine Reisetasche, neben der ich meinen Rucksack abgestellt habe. Er redet nicht viel, was ich angenehm finde, denn in meinem Kopf schwirren tausend Gedanken umher. Ich werfe immer wieder einen Blick aus dem Fenster, habe aber noch keinen Polizeiwagen gesehen, betrachte dann wieder meine Fingernägel. Ich spiele an der Kette mit dem Kreuz herum, die ich von Lotte habe. Wenn das hier alles überstanden ist und gut für mich ausgeht, denke ich, werde ich in jedem Fall Lotte besuchen und ihr die Kette zurückgeben. Und ihr Geld natürlich auch. Ich werde mich irgendwie erkenntlich zeigen – und sei es nur dadurch, dass ich einen Kuchen für ihre Kirchengemeinde backe. Ja, denke ich, auf eine solche Idee wäre ich früher kaum gekommen. Aber jetzt, nach alledem, was passiert ist, bin ich demütig geworden. Demütig und dankbar für jede Hilfe, die ich bekommen kann. Und sei es nur das Kreuz um meinen Hals, das mich beschützen soll.
Wir fahren in Richtung Osten, und nach weiteren fünf Minuten sehe ich auf der Gegenfahrbahn einige Polizeiwagen mit Blaulicht an uns vorbeifahren. Obwohl mich keiner der Fahrer beachten wird und erst recht nicht erkennen kann, wende ich das Gesicht schnell nach rechts zum Fenster und damit von der Gegenfahrbahn ab. Ich spüre Oles fragenden Blick, aber er sagt nichts dazu, stellt auch keine Fragen, sondern erzählt nur etwas über die Nordsee und wie sehr es ihm dort gefällt, dass er die Weite liebt, den Himmel und den Geruch. Ich erwidere beiläufig, dass es mir genauso gut.
Und mir kommt ein schrecklicher Gedanke.
Ich habe Frederik und die Polizei zu einem Tatort geführt, an dem womöglich Vigga umgebracht worden ist. Zu einem geheimen Ort. Die Polizei könnte daraus sehr belastende Schlüsse gegen mich ziehen. Vor ihren Augen wird ein anderer Film ablaufen als vor meinen. Sie werden mich sehen, die sich mit Vigga in der Hütte trifft, die einem gemeinsamen Versteck aus Kindertagen wie ein Ei dem anderen gleicht. Und dort bringe ich meine Freundin um, damit ich mich an ihren Mann heranmachen kann, den ich dann ebenfalls töte, weil er mich nicht will.
Vielleicht habe ich also einen entsetzlichen Fehler gemacht. Vielleicht geht das alles nach hinten los. Vielleicht … Vielleicht aber auch nicht, denn die Polizei wird die Hütte sehr genau untersuchen und dort alle möglichen Spuren finden. Ja, jetzt auch meine.
Doch was hätte ich anderes tun sollen? Die Polizei soll erfahren, dass ich mir das mit der Schwangerschaft nicht ausgedacht habe. Ich will, dass Viggas Mörder gefunden wird. Ich bin es ihr schuldig, dass alles dafür getan wird. Und verdächtigt werde ich ohnehin schon. Außerdem wird die Polizei erfahren, dass es »Heimdall« wirklich gibt und ich es mir nicht ausgedacht habe. Knud hat in meinem Krankenhauszimmer behauptet, dass Johann davon angeblich nichts wissen will. Nun wird Knud erfahren, dass das nicht stimmt.
Aber warum hat Johann nicht die Wahrheit gesagt? Früher oder später würde die Polizei doch auf »Heimdall« kommen – allein, wenn sie die Akte und das Laptop aus Magnus’ Arbeitszimmer untersucht hätten?
Und noch eines beunruhigt mich, obwohl es absurd ist, denn eigentlich sollte ich froh sein, falls es nicht so ist, aber dennoch: Was, wenn das in der Hütte gar nicht Viggas Haare und ihr Blut sind, sondern die von jemand anderem?
Wenige Minuten später erreichen wir die Autobahn. Ich nehme mein Handy hervor, blicke darauf und ärgere mich darüber, dass ich nicht die Möglichkeit habe, ins Internet zu gehen. In der Mittelkonsole des BMW liegt ein Smartphone.
»Suchen Sie etwas Bestimmtes?«, fragt Ole.
»Eine Adresse in Århus«, erwidere ich und zeige ihm schulterzuckend mein Prepaid-Modell.
Ole nickt und deutet auf sein Telefon. Er nennt mir den Entsperrcode und sagt, dass ich es ruhig benutzen soll, um nach der Adresse zu googeln. Was ich dann auch tue. Kurz darauf weiß ich, wo Tekksolv residiert. Ich nehme an, dass ich Johann dort antreffen oder zumindest erreichen kann – oder eben im Isbjerget. Ich blende den Internetbrowser wieder aus und betrachte das Smartphone. Das Hintergrundbild zeigt eine Aufnahme von der See. Dann lege ich es wieder in die Mittelkonsole zurück.
Fünf Minuten später sagt Ole, dass er an der nächsten Tankstelle kurz anhalten wolle, weil er zur Toilette müsse. Für mich ist das okay, denn ich muss ebenfalls mal. Er fährt rechts heran, und wir steigen aus. Sein Handy lässt Ole im Wagen liegen, was mich etwas beruhigt. Es bedeutet, dass er es nicht verwenden wird, um die Polizei anzurufen.
Auf der Toilette blicke ich auf mein eigenes Telefon. Es sind keine Anrufe oder Mitteilungen eingegangen. Von wem auch? Allenfalls von Frederik. Beim Händewaschen betrachte ich mich selbst im Spiegel. Nein, denke ich, beim besten Willen – auf einem Fahndungsfoto könnte man mich nicht erkennen. Allerdings hat Ole recht. Ich sehe wirklich so aus, als würde etwas mit mir nicht stimmen, und keinesfalls so wie eine Nordseetouristin. So läuft man nicht am Strand herum, schon gar nicht um diese Uhrzeit. Ich sehe vielmehr aus, als hätte ich die letzte Nacht in einem Rockklub verbracht, mich notdürftig und viel zu stark geschminkt, seit zwei Nächten nicht mehr geschlafen und sei auf Entzug. Ich muss mich wirklich zusammenreißen, um nicht noch mehr aufzufallen.
Dann gehe ich wieder nach draußen, wo Ole gerade die hintere Wagentür zuwirft. Er hat seine Jacke ausgezogen und über seine Reisetasche und meinen Rucksack gelegt.
»Spätestens in einer halben Stunde sind wir in Århus.«
»Prima«, sage ich. »Und vielen Dank schon einmal bis hierher.«
»Keine Ursache«, sagt Ole und betrachtet mich einen Moment zu lang, bevor er wieder einsteigt. Wir fahren weiter.