51.
I
ch beiße mit Heißhunger in den Cheeseburger und trinke die Cola fast in einem Zug. Mir wird klar, wie ausgehungert ich bin und nah am Verdursten, was kein Wunder ist. Das kleine Burger-Restaurant, an dem Ole mich abgesetzt hat, liegt dem Tekksolv-Gebäude gegenüber. Es ist inzwischen später Nachmittag. Der Himmel hatte die Farbe von Milch mit einer Tendenz ins Graue. Es sieht nach Regen aus.
Ich zerknülle das Papier, in das der Burger eingewickelt ist, und denke darüber nach, dass Johann und Magnus und Tekksolv sich mit Sicherheitssystemen für Server oder digitalen Zahlungsverkehr befassen, die Firma verschiedene Patente besitzt, die ebenfalls mit Sicherheit, Codierung und Verschlüsselung für den Businessbereich zu tun haben. Davon habe ich keine Ahnung, aber das Unternehmen hat in den letzten Jahren ohne Zweifel jede Menge Geld abgeworfen. Allerdings scheint das jetzt – laut Viggas Tagebuch – nicht mehr so zu sein. Und aus diesem Grund soll Magnus etwas getan haben, das Vigga unerträglich fand. Und was ist mit Johann? Was weiß er? Das werde ich hoffentlich bald erfahren.
Tekksolv residiert in einem beige gestrichenen Altbau an der Vester Allé nahe am Musikhuset, dem Konservatorium von Århus. Außerdem ist das ARoS nicht weit entfernt, das Kunstmuseum, in dem es vorwiegend Werke dänischer Künstler zu sehen gibt. Auffallend ist der Panoramarundweg, der auf das Museumsdach gepflanzt worden ist. Es sieht so aus, als wäre dort ein ringförmiges Ufo gelandet. Spektakulär ist nicht nur die tolle Aussicht, die man von dort aus auf die Stadt hat. Es ist vor allem die in den Spektralfarben gehaltene Verglasung. Während man die Runde geht, wechselt die Aussicht auf die Stadt also nicht nur die Perspektive, sondern ist mal rot, mal grün, gelb, blau, magenta oder orange getönt.
Ich hatte vor, darauf zu warten, dass Johann das Tekksolv-Gebäude verlässt. Aber je länger ich darüber nachdenke, desto weniger gefällt mir mein Plan. Johann ist nicht der Typ, pünktlich Feierabend zu machen. Vielleicht nutzt er auch den Hinterausgang, und ich werde ihn gar nicht zu Gesicht bekommen. Oder er ist auf einem Außentermin. So oder so kann ich nicht stundenlang hier hocken und einen Burger nach dem anderen essen. Mir läuft die Zeit davon. Da kommt mir eine Idee.
Ich bezahle, verlasse das Burger-Restaurant und gehe in Richtung Hafen. Als das Isbjerget, wo Johann wohnt, bereits in Sichtweite ist, rufe ich die Nummer von Tekksolv an. Eine freundliche Stimme meldet sich in der Zentrale, und ich frage nach Johann und sage, dass ich von der zentralen Isbjerget-Hausverwaltung anrufe und ihn gerne sprechen möchte. Er sei gerade in einer wichtigen Besprechung. Also bitte ich darum, dass ihm ausgerichtet wird, er möge so schnell wie möglich nach Hause kommen, weil offenbar ein Rohr geplatzt ist und es in der Wohnung unter Johanns durch die Decke tropft – das könne in seinem Appartement zu technischen Defekten wie Kurzschlüssen führen, die wiederum einen Brand entfachen könnten. Die Sekretärin versichert mir rasch, dass sie dem Chef so schnell wie möglich Bescheid geben wird. Dann setze ich mich in Bewegung und gehe zum Isbjerget, um dort auf Johann zu warten.
Ich war ziemlich neidisch auf Johann, als er mir beim Pizzaessen erzählte, dass er eine Wohnung im Isbjerget in Århus besitzt. Es ist ein außergewöhnlich gestalteter Wohnkomplex am Hafen, der zum Wahrzeichen der Stadt geworden ist. In Architektenkreisen sowieso. Die Anlage umfasst ungefähr zweihundert Wohnungen und ist zum Teil mit spitzen Winkeln und ineinander verschachtelt gebaut worden, sodass die Silhouette treibenden Eisbergen ähnelt. Mich erinnern die Gebäudeteile an riesige Adventskalender zum Aufstellen – spitzgieblige Häuser mit flachen Fronten. Außen ist am Isbjerget alles weiß verkleidet. Wenn die Sonne scheint, strahlen die schrägen Dächer aus hellem Zinkblech regelrecht. Die Balkonbrüstungen sind türkisfarben und aus durchsichtigem Sicherheitsglas. Sie erinnern an klares Polarkreis-Eis und sind so an der Fassade angebracht, als könne man aus dem Adventskalender wahllos kleine Schubladen herausziehen.
In dem komplexen Ensemble gibt es die unterschiedlichsten Wohnungen – exklusive Penthouses in den Spitzen der jeweiligen Eisberge oder auch Zweizimmerappartements. Wegen des außergewöhnlichen Stils, der Lage und des Bekanntheitsgrades des mehrfach preisgekrönten Baus sind die Wohnungen dort extrem teuer und auf dem Markt rar gesät. Johann muss entweder Beziehungen oder eine Menge Geld eingesetzt haben, um eine zu bekommen. Vermutlich beides.
Ich stehe im Wind, starre an dem Gebäude empor und setze mich schließlich in ein Bushäuschen, als ein paar Regentropfen vom Himmel fallen. Ich wünschte, ich hätte eine Zigarette. Oder mehrere. Ich beobachte den Verkehr, versuche, Johanns Auto auszumachen – und schließlich sehe ich es. Ich muss kurz grinsen, weil mein Plan aufgegangen ist. Johann steuert auf einen der Parkplätze zu. Ich springe auf und laufe über die Straße, als Johann schon fast an der Haustür angekommen ist. Ich darf ihn nicht verpassen. Meine Hände stecken in den Seitentaschen der Lederjacke, wo ich mit der Linken das Handy festhalte, damit es nicht herausrutscht, mit der Rechten umfasse ich den Griff des Schraubenziehers.
»Johann!«, rufe ich. »Warte!«
Er öffnet die Haustür, sieht sich über die Schulter zu mir um und hält inne. Offensichtlich hat er keine Ahnung, wo er mich hinstecken soll. Auch nicht, als ich kurz vor ihm das Tempo reduziere und außer Atem auf ihn zugehe.
Johann trägt einen knallblauen Anzug mit braunen Schuhen und ein offenes weißes Hemd. Er sieht aus, als komme er gerade von einem Geschäftstermin, denn bei unseren bisherigen Treffen war er mehr casual gekleidet. Hinter dem eckigen Brillengestell sehe ich seine hellen Augen, fragend, die in meinem Gesicht nach einer Antwort zu suchen scheinen. Dann fährt er sich mit der freien Hand über den kahl geschorenen Schädel, der von ein paar Regentropfen benetzt ist, und sieht auf einmal aus, als habe er ein Gespenst gesehen. Er fragt mit sich überschlagender Stimme: »Liv?«
Johann, das ist mir völlig klar, wurde von der Polizei vernommen. Er wird zweifelsohne darüber im Bilde sein, dass man mich verdächtigt, Magnus ermordet zu haben. Außerdem muss er davon ausgehen, dass ich im Krankenhaus oder im Gefängnis bin. Und angesichts meines veränderten Aussehens hat er eins und eins zusammengezählt, vielleicht sogar einen Fahndungsaufruf im Internet gesehen oder ist von der Polizei kontaktiert worden – und hat außerdem spätestens in diesem Moment kapiert, dass er von mir hergelockt worden ist und es keinen Wasserschaden in seiner Wohnung gibt. Jedenfalls bin ich ihm nicht willkommen. Das ist nicht zu übersehen, und es überrascht mich auch nicht.
»Ja, ich bin’s.« Ich mache einen Schritt auf Johann zu. Er weicht zurück und will die Tür vor meiner Nase schließen.
»Bist du verrückt?!«, herrscht er mich an.
Ich schiebe einen Fuß vor und stemme den schweren Doc- Martens-Stiefel zwischen die Tür, sodass Johann sie nicht schließen kann. Ich presse mich durch den Spalt. Johann lässt die Tür los, weicht noch einen Schritt zurück.
»Liv! Bist du irre geworden?«, höre ich ihn rufen.
Ich gehe noch einen Schritt voran, fasse nach seinem Sakko, um ihn festzuhalten. Gleichzeitig ziehe ich den Schraubenzieher aus der Tasche und ziele mit der scharfen Spitze auf die weiche Kuhle unterhalb des Adamsapfels und oberhalb des Schlüsselbeins. Ich kann sein Aftershave riechen. Den Kaffee in seinem Atem. Seine Angst.
»Was«, zische ich, »ist Heimdall?«