53.
J
ohanns Handy klingelt. Als er es aus der Sakkotasche ziehen will, schüttle ich den Kopf. Ich bewege mich mit ihm, die Schraubenzieherspitze weiterhin an seinem Hals.
»Gib mir das Telefon!«
»Liv …«
»Gib mir das Telefon!«
»Was willst du? Bist du verrückt? Nimm den Schraubenzieher weg!«
Ich nutze Johanns Zurückweichen, um ihn in Richtung des Fahrstuhls zu bewegen, und erhöhe den Druck auf seine Kehle.
»Das Handy«, wiederhole ich.
Endlich zieht er es aus der Tasche und reicht es mir. Ich nehme es mit der freien Hand an, sehe eine unbekannte Nummer auf dem Display. Eine Mobilnummer. Es könnte ein privater Anruf sein, ein dienstlicher, es könnte aber auch die Polizei sein. Ich stecke das Smartphone ein, das weiterhin klingelt.
»Was, zum Teufel, willst du!«, blafft Johann.
Wir sind am Fahrstuhl angekommen.
»Wir fahren hoch in deine Wohnung. Dort unterhalten wir uns. Über Heimdall und über Vigga und Magnus.«
»Ich weiß nicht, was du dir davon versprichst«, keucht Johann und weicht weiter zurück. Er stößt mit dem Rücken gegen die blank polierte Edelstahltür, die sich automatisch öffnet, ohne dass ein Anforderungsknopf gedrückt wurde. Offenbar haben wir den Kontakt einer Lichtschranke ausgelöst. Einen Moment später stehen wir in der Kabine.
»In deine Wohnung«, sage ich.
»Das führt doch zu nichts, Liv!«
»In deine Wohnung.«
Ich erhöhe wiederum den Druck auf Johanns Kehle. Die Haut beult sich ein. Johann tastet nach rechts und drückt den Knopf mit der zweithöchsten Nummer, worauf sich die Fahrstuhltür rumpelnd schließt.
Während sich die Fahrstuhlkabine in Bewegung setzt, fragt Johann: »Hast du in der Firma angerufen und behauptet, dass es einen Wasserschaden gibt?«
»Ja.«
»Du hast mich herlocken wollen?«
»Richtig.«
»Warum hast du mich nicht einfach angerufen, wenn du etwas wissen willst?«
Ich muss schmunzeln, aber gleichzeitig spüre ich, dass meine Hände zittern und mein Herz wie wild schlägt.
»Das sind keine Themen für ein Telefonat.«
»Du kannst den Schraubenzieher jetzt wegnehmen. Ich tue dir nichts.«
»Ich kann niemandem trauen.«
»Du bist auf der Flucht. Die Polizei wollte dich verhaften, weil du Magnus umgebracht hast, und …«
»Ich habe ihn nicht umgebracht.«
»Wer denn dann?«
»Vielleicht du.«
Johann lacht auf und hält die Hände hoch. »Oh. Nein. Nein, nein, nein. Das denkst du? Du denkst …«
»Ich weiß nicht, was ich denken soll.«
»Ich habe damit nichts zu tun. Magnus war mein Freund, verdammt – warum hast du es getan, Liv? Warum hast du ihn umgebracht?«
»Das war ich nicht.«
»Aber die Polizei hat gesagt …«
»Die Polizei geht von falschen Fakten aus.«
»Na, ich weiß ja nicht.«
»Siehst du, Johann«, sage ich, als der Fahrstuhl mit einem Ping-Geräusch unsere Ankunft im elften Stock verkündet, »dass das kein Thema für ein Telefonat ist?«
»Offensichtlich nicht.«
»Schon gar nicht, wenn es um Heimdall geht?«
»Ich weiß nicht, wovon du sprichst.«
Die Fahrstuhltür geht auf. »Raus«, sage ich. »In deine Wohnung. Und keine dummen Versuche, Johann – ich bin zu allem bereit.«
»Das hast du ja schon deutlich bewiesen«, sagt Johann und setzt sich in Bewegung.
Er geht an mir vorbei. Als er mir den Rücken zudreht, ziehe ich mit der freien Hand mein Handy aus der Hosentasche. Ich schalte die Sprachmemo-Funktion ein und drücke den roten Knopf für »Record«. Hoffentlich funktioniert es und wird eine brauchbare Aufnahme liefern. Ich schiebe es zurück in die Tasche und ziele weiterhin mit dem Schraubenzieher auf Johann, jetzt auf seine Nierengegend, während ich ihm zu seiner Wohnung folge. Erste Reihe in einem der dem Hafenbecken zugewandten Gebäudekomplexe. Oceanfront. Der Flur ist hell und weit. Links und rechts gibt es Fenster in den Dachschrägen. Einige sind dreieckig und sollen wohl den Eindruck von Eissplittern erwecken.
Das Licht geht automatisch an. Wie die Fassade des Gebäudes ist die weitläufige Wohnung weiß. Heller Holzfußboden wechselte sich mit schwarzen Kacheln in der Küchenzone ab. Die Einrichtung ist modern, ausgestattet mit sündhaft teuren Möbeln, als hätte ein Innenarchitekt sie entworfen. Im Wohnzimmer öffnet sich ein Frontbalkon zur Ostsee hin. Die hohen Kräne des Containerhafens am anderen Ufer sind zu sehen. Rechts, wo sich die offene Küche und ein großer Esstisch befinden, gibt es einen weiteren Balkon, eine in das schräge Dach eingelassene Loggia.
Johann dreht sich zu mir, steht mit dem Rücken zur Glasfront. »Also. Was soll diese schlechte Komödie?«
»Es ist keine Komödie. Es ist ein blutiges Drama. Ich war tot.«
»Tot?«
»Magnus hat mich die Treppe hinabgestoßen. Ich wurde gefunden. Im Krankenwagen hatte ich ein Herzversagen und wurde wiederbelebt.«
»Von einem Herzversagen und angeblichen Treppenstößen weiß ich nichts.«
»Magnus hat man erstochen neben mir gefunden. Das Messer hatte ich in der Hand. Aber ich kann ihn nicht getötet haben, weil ich bewusstlos war.«
»Wer soll ihn denn sonst umgebracht haben?«
»Vielleicht hast du einen Vorschlag für mich?«
»Was auch immer du damit andeuten willst: Er war mein Freund. Natürlich habe ich ihm nichts getan. Ich war außerdem gar nicht vor Ort. Die Polizei hat mein Alibi überprüft.«
»Ich weiß.«
»Ich hätte keinen Grund, ihm etwas anzutun, denn …«
»Was ist Heimdall?«
»Warum spielt das eine Rolle?«
»Ich habe dich und Magnus immer wieder davon reden hören. Vigga hat in einem Tagebuch darüber geschrieben.«
»Ich weiß nichts von einem Tagebuch.«
»Das hast du auch der Polizei erzählt.«
»Ja.«
»Du weißt auch nichts davon, dass sie schwanger war.«
»Nein. Magnus hat nie darüber gesprochen. Sie auch nicht. Das scheint ein Hirngespinst zu sein, Liv.«
»Ist es nicht.«
Johann zuckt mit den Schultern. »Wenn du es sagst?«
»Heimdall«, wiederhole ich. »Ich habe Datenblätter und Schreiben vom Verteidigungsministerium gesehen.«
Johann kommentiert es nicht.
»Bei Magnus lagen außerdem zwei externe Festplatten auf dem Schreibtisch, die sind nun verschwunden. Hast du sie?«
Johann schweigt weiter.
»Hat Magnus sie dir gegeben?«
Johann sagt nichts.
»Du hast der Polizei gesagt, dass du nichts von Heimdall weißt. Und das ist gelogen. Die Polizei weiß das jetzt auch, Johann. Sie wissen nun, dass es Heimdall gibt, denn ich habe ihnen Datenblätter aus einer Akte zugespielt, um zu beweisen, dass ich nicht lüge.«
»Akte?«
»Aus Magnus’ Schreibtisch.«
Ich löse den Rucksack von der Schulter, ohne Johann aus dem Blick zu lassen. Ich zurre ihn auf, greife hinein und spüre die dünne Mappe, ziehe sie heraus und schleudere sie Johann ins Gesicht. Die Briefe und Dokumente verteilen sich auf dem Boden. Ich stelle den Rucksack zu meinen Füßen ab.
Johann legt den Kopf schief, betrachtet die Blätter, schweigt nach wie vor.
»Es sind Tekksolv-Daten«, sage ich. »Und die Schreiben sind an Tekksolv adressiert. Du kannst mir nicht erzählen, dass du davon nichts weißt. Ich habe dich und Magnus über Heimdall reden hören – beim Pizzaessen und bei anderen Gelegenheiten. Also, was ist Heimdall?«
Johann seufzt. Er vergräbt die Hände in den Hosentaschen und schaut zum Fenster. Ich nutze die Gelegenheit und fasse mit der freien Hand in die Tasche meiner Jeans, ziehe das Handy etwas heraus, sodass das Mikrofon freiliegt.
»Ich sehe nach wie vor nicht«, sagt er, »in welchem Zusammenhang das Projekt mit dem Mord an Magnus stehen soll. Warum hast du es getan?«
»Ich habe es nicht getan.«
»Wollte er was von dir? Weil du ihre Sachen getragen hast und ihr euch ähnlich gesehen hast?«
»Nein.«
Johann wendet sich zu mir. »Jetzt trägst du wieder ihre Sachen. Das ist Viggas Jacke.«
»Ich hatte nichts anderes zur Hand.«
Johann deutet mit einem Nicken auf den Schraubenzieher, den ich weiter auf ihn richte. »Willst du mich auch töten?«
Nein, denke ich. Nein, ich werde es nicht können – selbst wenn ich müsste. Und vielleicht weiß Johann das, der mir körperlich überlegen ist.
Ich blicke auf das Werkzeug. Die flache Spitze. Ich sehe ein Messer in meiner Hand. Blutverschmiert. Die Beine, die sich von mir entfernen. Einen Körper. Die Bilder werden immer stärker. Es ist, als ob meine Erinnerung zurückkehrt – eine entsetzliche Erinnerung, die mir zu sagen scheint, dass ich in der Nacht, in der Magnus starb, doch nicht die ganze Zeit über bewusstlos war. Oder sind es Momentaufnahmen, die ich mir einbilde und die zu meiner Erinnerung werden? Weil mir jeder sagt, dass ich Magnus umgebracht habe? Dass an dem Messer meine Fingerabdrücke waren und ich es in der Hand hielt? Nein, ich bilde es mir nicht ein. Dazu ist das, was ich sehe, zu konturscharf. Klänge mischen sich dazu. Gerüche. Das Gefühl von Panik. Schmerz.
»Ich habe niemanden getötet«, wiederhole ich. »Und dir will ich nichts tun. Ich will nur wissen, was mit mir passiert.«
»Dabei kann ich dir nicht helfen.«
»Was ist Heimdall?«
»Auch dabei kann ich dir nicht helfen.«
»Ich habe Magnus’ Laptop. Ich habe die Daten darauf gesehen.«
»Welches Laptop?«
Ich gehe in die Hocke, ohne Johann aus dem Blick zu lassen. Ich ziehe das Laptop aus dem Rucksack. Für einen kurzen Moment bin ich irritiert, denn meine Finger stoßen an einen weiteren Gegenstand, der kleiner als der Computer ist, aber ebenfalls rechteckig. Ich weiß nicht, was das sein sollte – aber im nächsten Moment bin ich wieder ganz bei Johann. Ich schiebe ihm das Laptop über den glatten Boden zu und stelle mich wieder hin.
Johann schaut zu Boden.
»Ein Laptop«, sagt er. »Und?«
»Ich sage es dir noch einmal. Die Polizei hat Kenntnis von Heimdall. Du und Magnus habt darüber geredet. Es gibt das Projekt. Du hast der Polizei gesagt, dass du nichts über Heimdall weißt. Sie wird wissen wollen, warum du gelogen hast.«
Johann betrachtet mich. Er beult die Wange mit der Zunge aus und scheint nachzudenken. Schließlich atmet er scharf ein. »Heimdall ist ein Regierungsprojekt. Es ist geheim. Tekksolv ist auf Sicherheitssysteme spezialisiert. Bei Heimdall geht es um die nationale Sicherheit.«
»Inwiefern?«
Wiederum scheint Johann das Für und Wider abzuwägen.
Ich sage: »Die Polizei wird es ebenfalls wissen wollen. Sie wird ermitteln, auch bei der Regierung. Was einmal geheim war, Johann, ist es jetzt nicht mehr.«
»Heimdall ist ein Ortungssystem für U-Boote«, sagt er.
Deswegen, denke ich, diese kryptischen Angaben über Megahertz und die topografischen Ansichten des Meeresbodens. Deswegen die Position mitten in der Ostsee vor der dänischen Küste.
Johann redet weiter: »Der Kalte Krieg ist wieder da, Liv. Seit Jahren tauchen immer wieder russische U-Boote in den skandinavischen Fjorden auf. Auch vor der dänischen Küste. Sie kommen und gehen, wie es ihnen beliebt. Das Verteidigungsministerium ist der Meinung, dass das nur deswegen passieren kann, weil die Russen unsere Ortungssysteme kennen und unterlaufen. Also ist es Zeit für ein neues System.«
»Heimdall?«
»Heimdall«, bestätigt Johann. Und ich bete, dass mein Handy alles aufnimmt. »Heimdall«, redet er weiter, »ist kein Exklusivprojekt von Tekksolv. Es arbeiten viele daran. Wir sind für die Sicherheitscodes zuständig. Wir sorgen dafür, dass Heimdall nicht geknackt werden kann. Tja.« Johann lacht schnaufend auf. Verächtlich.
»In ihrem Tagebuch hat Vigga davon geschrieben, dass Magnus etwas Schreckliches getan hat. Etwas, das ihn in ihrer Achtung sinken ließ. Hat das mit Heimdall zu tun?«
Johann mustert mich schweigend. Schließlich sagt er: »Er hatte Geldschwierigkeiten. Er hat Informationen über Heimdall verkauft. Vigga hat es herausgefunden, weil sie sich fragte, woher auf einmal das Geld kam.«
»An wen hat er die Informationen verkauft?«
»Kannst du dir das nicht denken?«
Doch, kann ich.
»Jedes andere Land der Welt«, erklärt Johann, »wäre an Heimdall-Sicherheitscodes interessiert. Um sie selbst zu nutzen oder um damit zu handeln.«
»Gott«, flüstere ich. »Vigga hat nie etwas von Geldsorgen erzählt. Ich hatte nie den Eindruck, dass er …«
»Tekksolv ist in den vergangenen zwei Jahren stark gewachsen«, erklärt Johann. »Wir haben Leute eingestellt, sind umgezogen, brauchten eine neue Ausstattung. Der Regierungsauftrag hat eine gewisse Bonität vorausgesetzt. Wir mussten das Stammkapital deutlich erhöhen, ohne Zahlungen zu erhalten, viele Auslagen vorfinanzieren – auch die für Heimdall. Ich hatte Sorgen, dass uns das massiv überfordern wird. Aber Magnus meinte immer: Wird schon, und er tat Geldquellen auf. Ich war zu beschäftigt, um zu kapieren, woher das Geld kam. Vielleicht wollte ich es auch nicht wissen.«
»Du sagst, Vigga hat es herausgefunden?«
»Sie hat es herausgefunden und mit mir darüber geredet. Sie wollte, dass ich Magnus dazu bewege, aufzuhören. Die andere Seite wollte immer mehr und mehr. Aus der Nummer gab es keinen Ausweg. Magnus hielt sich für clever – aber die waren cleverer.«
In dem Tagebuch hat Vigga davon gesprochen, dass sie jemanden zum Aufhören bewegen will. Aber sie hat nicht explizit von Magnus gesprochen. Ich frage mich, wie Johann mit Magnus noch so vertraut sein konnte, wo er doch wusste, was Magnus der Firma heimlich angetan hat. Johann und Magnus sind gleichwertige Geschäftsführer, soweit ich weiß.
»Steckst du auch mit drin?«
»Ist doch vollkommen egal«, sagt Johann – und damit ist mir klar: Ja, er steckt auch mit drin. Und zwar richtig. Er hat gelogen, als er nur von Magnus allein redete.
Ich schaue auf seine Schuhe, betrachte seine Beine. Sind das die Beine und die Schuhe, an die ich mich erinnere? Dann fällt mein Blick in den offenen Rucksack zwischen meinen Stiefeln. Ich sehe, woran ich eben mit den Fingerspitzen gestoßen bin. Es sieht aus wie ein Heft. Ein Büchlein. Ich verstehe nicht, wie das in den Rucksack gekommen sein soll. Er war leer, als ich das Laptop und die Akte hineinschob. Er war auch leer, als ich beides im Café und in der Fischerhütte aus dem Rucksack herausgenommen habe. Oder habe ich es einfach nicht bemerkt? Das Heft erinnert mich an ein Moleskine-Notizbuch. Es sieht aus wie … Aber das kann nicht sein.
»Du bist ein Mitwisser«, sage ich abwesend. »Du hättest Magnus anzeigen müssen.«
Johann lacht auf und schüttelt den Kopf. »Du bist naiv, Liv.«
»Hast du Magnus überreden können, aufzuhören?«
»Nein.«
»Weil du es gar nicht wolltest?«
Ich gehe in die Hocke und stecke die freie Hand in den Rucksack. Mein Herz stolpert, als ich sehe, dass es tatsächlich Viggas Tagebuch ist. Die Beschriftung, die Optik. Ich blättere darin. Viggas Schrift.
Ich höre Johanns Stimme. »Ziehst du jetzt die nächste Überraschung für mich aus deinem Rucksack? Wie viele hast du denn noch darin? Und am Ende ändert keine davon etwas an den Tatsachen, Liv.«
Doch, denke ich. Diese hier. Wie auch immer das Tagebuch in den Rucksack gekommen ist. Meine Gedanken rasen. Ich hatte den Rucksack mit in der Fischerhütte. Ich weiß verlässlich, dass ich das Tagebuch nirgends gefunden habe. Ich weiß außerdem verlässlich, dass ich den Rucksack erst auf meiner Flucht entdeckt habe. Das Tagebuch konnte nicht darin stecken. Hat Frederik es in der Fischerhütte hineingesteckt? Dann hätte er es vorher in den Händen halten müssen, hat er aber nicht. Mir fällt der Mann ein, der mich mitgenommen hat. Ole. Er hätte die Möglichkeit gehabt, etwas in den Rucksack zu stecken. Aber … Wie? Warum? Und: Der Mann war ein Fremder, was sollte er mit allem zu tun haben? Es sei denn, er war kein Fremder. Jedenfalls ist das Tagebuch wieder da.
Alles wird sich ändern.
»Wie auch immer«, sagt Johann, » du wirst mit keiner Information etwas anfangen können, weil ich niemals darüber geredet habe. Verstehst du? Du solltest die Polizei anrufen und dich stellen. Denn wenn sie dich hier suchen und finden sollten, macht das alles nur noch schlimmer für dich.«
»Die Polizei …«
»Ich glaube dir kein Wort davon, dass du Informationen über Heimdall an die Polizei gegeben hast. Das ist ein Bluff. Und die Polizei wird dir auch kein Wort glauben.«
»Ich war in der Fischerhütte am Fjord«, sage ich atemlos. »Dort habe ich Datenblätter aus der Akte platziert und die Polizei dorthin gelockt.«
Ich spüre, dass ein Ruck durch Johann geht. Er wird blass wie die Wand in seiner Wohnung.
Ich rede weiter: »Denn in der Fischerhütte ist noch viel mehr. Es gibt dort Isomatten und Kerzen. Dort ist ein Haken in einem Balken, der blank geputzt ist. Dort ist der Boden gewischt. Ich habe Blut gesehen, und ich bin mir sicher, dass die Polizei es analysieren und feststellen wird: Es ist Viggas Blut.«
»Ich weiß nicht, wovon du redest«, sagt Johann, aber seine Reaktion auf das Wort »Fischerhütte« sagt mir, dass er es ganz genau weiß. Er kennt die Hütte.
»Was für eine Fischerhütte soll das sein, du meine Güte?«
»Eine Hütte am Fjord. Man sieht sie von der Straße aus. Sie sieht genauso aus wie die Hütte, in der sich Vigga und ich als Kinder versteckt haben, um dort zu spielen. Ein Bild von dieser alten Hütte hängt in Viggas Schlafzimmer. Sie war ihr wichtig. Die Hütte am Fjord liegt auf dem Weg zum Haus von Magnus und Vigga. Man kommt unmittelbar daran vorbei. Du weißt genau, welche Hütte ich meine.«
»Ich weiß absolut nicht, was diese Hütte …«
»Und die Polizei wird in der Hütte Spuren von dem Mann finden, mit dem Vigga eine Affäre hatte. Mit dem hat sie sich in der Hütte getroffen. Regelmäßig. Warst du der Mann, Johann?«
»Unsinn!«
»Hattest du eine Affäre mit Vigga?«
»Quatsch!«
»In der Hütte habe ich auch einen Kassenbeleg über Schwangerschaftstests platziert, die Vigga gekauft hat.«
Johann zuckt, als hätte ich ihm einen Schlag in die Magengrube verpasst. Seine Gesichtsfarbe wird mit einem Schlag kalkweiß. Seine Augen sind groß.
»Schwangerschaftstests?«, fragt er heiser. Dann schreit er mich an: »Sie war, verflucht noch mal, nicht schwanger! Das redest du dir alles ein!«
Seine Mundwinkel zucken unkontrolliert, als er sich Speichel von den Lippen wischt. Seine Hand zittert. Er hat nichts davon gewusst, das ist eindeutig. Er hatte keine Ahnung davon, dass Vigga schwanger war.
Meine Stimme ist ein Zischen. »Sie hat die Tests gekauft, und die Polizei weiß es. Sie wird alles herausfinden. Vigga hat in ihrem Tagebuch …«
»Es gibt kein fucking Tagebuch!«
»… von ihrer Affäre geschrieben. Und dass sie schwanger ist. Es steht alles darin. Warst du der Mann, Johann? Hattest du eine Affäre mit ihr? Von wem war sie schwanger – von Magnus oder von dir?«
Johann ballt die Fäuste und starrt mich feindselig an.
Und dann nehme ich das Moleskine-Heft heraus und stelle mich wieder hin.
Viggas Tagebuch.
Ich schlage es auf, drehe es zu Johann. Johanns Adamsapfel hüpft. Er erkennt Viggas Handschrift. Das sehe ich ihm an. Er macht einen großen Schritt auf mich zu, will das Heft greifen. Ich reiße den Schraubenzieher hoch und weiche einen Schritt zurück.
»Was hast du getan, Johann? Was hast du Vigga angetan?«
»Woher weißt du, dass sie schwanger war?«, flüstert er.
»Wie gesagt: Es steht in ihrem Tagebuch. Ich habe in ihrer Jacke den Kaufbeleg über die Schwangerschaftstests gefunden. Sie war verzweifelt deswegen, aber auch glücklich. Vollkommen verwirrt. Sie wusste nicht ein noch aus. Normalerweise freut man sich doch – aber wenn man schwanger von seiner Affäre wird und nicht von seinem Mann, stürzt es einen ins Chaos. Oder wenn man von seinem Mann schwanger wird, den man aber verlassen will, und außerdem nicht weiß, wie die Affäre darauf reagieren wird.«
»Du lügst. Du hast vorher schon von einer Schwangerschaft gefaselt, und die Polizei hat mich danach gefragt, aber Magnus hat kein Wort …«
»Es steht alles in dem Heft. Die Polizei hat den Beleg über die Tests.«
Johann starrt mich an.
»Sie war schwanger. Von Magnus? Oder von dir? Johann?«
Johann fährt sich mit beiden Händen durchs Gesicht.
»Rede mit mir, verdammt noch mal!«
Johann wirkt wie eine Gummipuppe, aus der man die Luft herausgelassen hat. Er sackt förmlich in sich zusammen und scheint mit den Blicken etwas auf dem Boden zu suchen, das er nicht findet.
»Vigga und Magnus hatten keinen Sex mehr«, sagt er leise. »Sie hat es mir immer wieder erzählt. Monatelang nicht. Über ein Jahr.«
»Und dann hat sie sich bei dir geholt, was ihr fehlte?«
»Ich denke es, ja. Aber dann muss etwas zwischen beiden passiert sein. Ich weiß es nicht. Es hat sich etwas gewendet. Sie wollte zu ihm zurück – aber … Auch Magnus hat mir erzählt, dass er wieder Hoffnung für die Ehe habe. Das geschah alles innerhalb von drei Tagen. In dieser kurzen Zeit kann sie unmöglich schwanger geworden sein und …«
»Du warst der Mann«, höre ich mich flüstern. »Du hattest eine Affäre mit ihr.«
Johann starrt weiter auf den Boden, blinzelt und atmet schwer. »Ich weiß nicht genau«, sagt er mit brechender Stimme, »wie es passiert ist. Wir sind einfach so hineingerutscht. Es war nicht gezielt. Ich mochte Vigga schon immer. Fand sie sehr attraktiv. Nach meiner Meinung hatte Magnus jemanden wie sie nicht verdient. Oder behandelte sie nicht auf die Art und Weise, die Vigga verdiente. Sie war verzweifelt, suchte Rat bei mir, redete mit mir über Magnus und alles, was schieflief. Irgendwann ist es dann passiert. Ich … Ich weiß nicht, ob sie wirklich etwas Tiefes für mich empfand oder ob sie sich mit mir nur trösten wollte. Bei mir jedenfalls ging es tief. Es war mir gleichgültig, ob ich nur ein Lückenfüller war. Ich hoffte, dass mehr daraus werden wird, und hatte zunehmend das Gefühl, dass das auch passieren könnte. Aber das war falsch. Wahrscheinlich war alles mein Fehler. Nein, nicht wahrscheinlich. Es war mein Fehler. Es war alles mein Fehler und meine Schuld.«
»Wie meinst du das?« Meine Stimme klingt wie ein Windhauch.
Johann blickt auf, leckt sich über die Lippen. Ich sehe, dass seine Augen nass sind.
Er sagt: »Ich hätte es niemals so weit kommen lassen dürfen zwischen Vigga und mir. Ich hätte es nie so weit kommen lassen dürfen, dass Magnus und ich in diesen Strudel um Heimdall geraten. Ich … Wir … Wir kommen da nicht raus.«
»Hast du deswegen die beiden Festplatten aus Magnus’ Arbeitszimmer mitgenommen? Um weitere Daten zu verkaufen?«
Johann nickt. Er scheint bis ins Mark erschüttert zu sein. Gespielt ist sein Entsetzen nicht. Ich bete erneut, dass das Handy in meiner Hosentasche alles aufzeichnet, und spüre das Kreuz an der Halskette auf meiner Haut.
»Hast du mir den Mord an Magnus in die Schuhe geschoben?«, frage ich.
»Nein. Es war alles ganz anders, als du denkst, Liv.«
»Erzähl es mir!«, schreie ich ihn an. »Erzähl mir, verdammt noch mal, was passiert ist!«
Johann zittert. Er beugt sich etwas nach vorn, legt die Hände flach auf den Tisch, als ob er sich daran festhalten will.
»Magnus und ich haben Teile von Heimdall an eine andere Firma verkauft. Es war illegal. Es war schlimm. Aber es war enorm lukrativ. Diese Firma arbeitet mit anderen Ländern zusammen. Ich weiß nicht, mit welchen. Je weniger ich darüber weiß, umso besser. Vigga hat mitbekommen, was wir tun. Sie dachte zuerst, es wäre nur Magnus, und sie wollte ihn stoppen. Er ließ sich von ihr dazu überreden, auszusteigen. Aber es ging um die letzten wesentlichen Teile. Ich musste Magnus überzeugen, dass wir weitermachen. Ich … Es ist nicht richtig, dass nur er alleine Geldprobleme hatte. Ich hatte sie ebenfalls. Die Firma hatte sie – und Magnus und ich sind die Firma. Dann hat Magnus ihr erzählt, dass ich mit im Boot bin. Sie hat versucht, mir auszureden, weiterzumachen. Wir haben uns an der Fischerhütte getroffen.«
Die Hütte am Fjord. Ich wusste es.
»Es war ziemlich verrückt. Wir haben uns mehrfach heimlich dort getroffen. Es gefiel ihr, und sie fühlte sich dort sicher. An jenem Tag ging ich davon aus, dass wir dort wieder Sex haben würden, und brachte Champagner mit. Aber es ging ihr um etwas ganz anderes. Sie stellte mich wegen Heimdall zur Rede und wollte mich davon überzeugen, den Verkauf der letzten Daten, die sich auf Magnus’ Festplatten befanden, zu stoppen. Ich war geschockt, dass sie darüber Bescheid wusste. Aber ich konnte es nicht aufhalten. Ich brauchte die letzte Charge und musste liefern, sonst … Ich weiß nicht, was sonst. Man hätte fraglos ein Druckmittel gegen mich gefunden. Diese andere Firma … Sie kämpft mit harten Bandagen und hat mir klargemacht, dass ein Aussteigen nicht infrage kommen wird. Ich hatte Angst, dass man mir etwas antun wird. Vigga gab sich damit nicht zufrieden. Sie hat gesagt, dass sie mich anzeigen wird, wenn ich es nicht stoppe. Sie würde auch in Kauf nehmen, dass ich in diesem Fall Magnus mit ans Messer liefere. Und dann hat sie noch gesagt, dass sie zur Polizei geht, wenn ich die restlichen Heimdall-Teile verkaufen werde. Sie wollte außerdem zu Magnus zurückkehren. Dann … Dann ist mir eine Sicherung durchgebrannt.«
»Was«, flüstere ich, »ist passiert?«
»Vigga hat mich beschimpft, weil ich gesagt habe, dass ich mich von ihr nicht unter Druck setzen lassen werde. Sie hat gesagt, dass es ein schlimmer Fehler war, sich mit mir einzulassen, und dass ich sie und Magnus ins Verderben reißen würde, was sie nicht zulasse – und ich habe erwidert, dass ich nicht zulassen werde, dass sie mich ins Verderben reißt. Sie wollte gehen, aber ich hab sie festgehalten. Sie wehrte sich, schlug auf mich ein. Ich hab sie von mir gestoßen, und dann ist sie gegen einen Balken in der Fischerhütte geprallt, mit dem Hinterkopf dagegengestoßen. Ich … Ich sehe noch ihren Gesichtsausdruck. Sie sah überrascht aus, aber bewegte sich nicht mehr. Dann änderte sich etwas in ihren Augen. Sie wurden ganz matt. Blut strömte ihr aus der Nase. Da erst habe ich begriffen, dass sie mit dem Hinterkopf gegen einen Haken in dem Pfeiler geprallt ist, der sich in ihren Schädel gebohrt hatte. Er hielt sie wie eine Puppe im Stehen. Es war entsetzlich. Ein schrecklicher Unfall. Ich wollte ihr nichts tun, wirklich nicht.«
Mir wird schlecht.
Ich erinnere mich an alles, was ich in der Hütte gesehen habe. Den Haken. Den Holzboden. Die Schleifspuren. Und ich glaube Johann nicht. Ich glaube, dass er ihr etwas antun wollte, damit sie ihn nicht anzeigt. Vielleicht wollte er sie nicht töten, vielleicht doch. Aber ganz bestimmt wollte er sie nicht einfach so gehen lassen. Eben hat er gesagt, ihm sei eine Sicherung durchgebrannt. Vielleicht hat er sie gepackt und mit dem Kopf gegen den Pfeiler geschlagen und dabei den Haken nicht beachtet.
»Was …«, frage ich und spüre, wie mir Tränen die Wangen hinablaufen, meine Augen brennen,«… was hast du mit ihr gemacht?«
»Als ich gemerkt habe, dass sie tot ist, geriet ich in Panik. Ich hab sie von dem Haken genommen, ihren Körper auf eine der Isomatten gelegt, ihr die blutige Kleidung ausgezogen und unterwegs in einen Mülleimer gestopft. Ich habe ihr Auto zurück zum Haus gefahren. Davor habe ich mir Latexhandschuhe aus dem Verbandskasten in meinem Auto angezogen. Ich … Es war das Beste, was mir einfiel. Ich hatte keine Ahnung, was ich sonst mit dem Wagen tun sollte. Magnus war nicht da – ich wusste, dass er einen Termin hatte. Ich habe dann Viggas Türschlüssel benutzt, um mir die Festplatten zu holen, und bin dann zu Fuß zurück … Bin fast den ganzen Weg gejoggt. Ich hatte unglaubliche Angst, dass jemand ihre Leiche findet.«
»Du Scheißkerl«, zische ich.
»Die Leiche habe ich dann verschwinden lassen. Sie war … Es war nicht einfach, wirklich nicht. So ein toter Körper ist sehr schwer, und …. Ich hatte sie geliebt, wirklich.«
»Wo ist sie? Wo ist Vigga!«
Er redet einfach weiter. »Und das Schlimmste ist …« Johann sieht mich an. »Das Schlimmste ist: Wenn Vigga wirklich schwanger war, dann sicher nicht von Magnus. Sie hatten sehr lange keinen Sex mehr. Das haben sie mir beide erzählt, beide klagten darüber … Liv – sie war von mir schwanger. Es muss so sein. Ich … Ich wusste das nicht. Ich habe mein eigenes, ungeborenes Kind getötet. Ich … Du musst mir das Tagebuch geben. Ich muss es mit eigenen Augen lesen.«
»Niemals.«
Johann schlägt mit beiden Händen auf die Tischplatte. »Gib es mir!«
Er kommt auf mich zu. Ich reiße den Schraubenzieher hoch. Johann stoppt kurz vor mir. Ich klemme mir das Tagebuch unter den Arm und ziehe das Telefon aus meiner Hosentasche.
»Ich rufe jetzt die Polizei an«, zische ich.
»Liv!«
»Ich rufe jetzt die Polizei!«
Johanns Blick fällt auf das Telefon. Ich sehe ebenfalls hin. Die Aufnahme-App läuft. Ich stoppe sie mit einem Daumendruck. Johanns Blick wandert zu mir, zurück zum Telefon, dann wieder zu mir.
»Du hast unsere Unterhaltung aufgenommen?«
»Ja.« Ich strecke den Schraubenzieher weiter vor, weiche gleichzeitig zurück. »Dein ganzes Geständnis. Und jetzt rufe ich die Polizei an, und …«
Johann schreit auf. Sein Gesicht ist wutverzerrt. Er stürzt auf mich zu, packt die Hand mit dem Schraubenzieher. Er ist stark. Viel zu stark. Ich versuche, mich aus dem Griff zu winden. Aber ich habe keine Chance. Mir fällt ein, was ich in einem Selbstverteidigungskurs gelernt habe. Ich trage schwere Doc Martens, Johann feine Lederschuhe.
Mein Absatz trifft mit voller Wucht auf seine Fußspitze. Johann keucht. Sein Griff lockert sich, aber nicht genug. Ich trete ein zweites Mal zu. Jetzt lässt er los. Ich wirble herum. Der Schraubenzieher streift Johanns Wangenknochen. Er macht einen Schritt zurück, fasst sich ungläubig ins Gesicht. Seine Fingerspitzen sind rot. Ein blutiges Rinnsal läuft aus der Wunde. Ich will die Nummer der Polizei wählen. Aber im nächsten Moment greift er mich wieder an. Dieses Mal kickt er unter meine andere Hand. Mein Handgelenk scheint zu explodieren. Das Handy fällt mir aus der Hand und auf den Boden. Auch das Tagebuch liegt dort.
Ich hocke mich hin, um danach zu greifen, hebe den Schraubenzieher drohend an. Meine Finger umfassen das Telefon. Da trifft mich ein weiterer Tritt in die Seite, der jede Luft aus meinem Körper pumpt. Das Handy schlittert über den Boden und stößt gegen die Balkontür an der Loggia. Ich will einatmen. Aber es gelingt mir nicht. Mich erwischt noch ein Tritt, dieses Mal im Kreuz. Er wuchtet mich zu Boden. Ich falle flach auf den Bauch. Vor mir sehe ich das Telefon. Rechts neben mir liegt das Tagebuch. Ich muss mich entscheiden. Ich will das Handy. Die Polizei anrufen. Die Aufnahme mit Johanns Geständnis sichern. Ich strecke die Finger danach aus. Es ist etwa einen Meter entfernt. Ich krieche los, um es zu erreichen. Da spüre ich, wie ich im Nacken gepackt werde. Johann greift nach dem Kragen meiner Jacke.
Ich höre ihn sagen: »Du hast erst Vigga in die Fischerhütte gelockt. Du hast sie dort umgebracht, damit Magnus frei für dich ist. Du hast dich in ihr Ebenbild verwandelt. Aber er wollte dich nicht.«
Ein Ruck fährt durch meinen Körper. Ich werde über den Boden geschleift und strecke die Hand aus, versuche, das Handy zu erreichen. Meine Fingerspitzen berühren es – da prallt mein Kopf gegen die Glasscheibe, und ich sehe Sterne.
»Da hast du Magnus getötet«, höre ich Johann sagen. »Dann bist du vor der Polizei geflohen und wolltest auch mich umbringen, weil du vollkommen durchgedreht bist.«
Ich sehe immer noch Sterne, bekomme aber endlich das Handy zu fassen. Ich höre ein metallisches Geräusch. Ein Klacken. Dann spüre ich einen kalten Luftzug, als Johann die Balkontür aufschiebt.
Er sagt: »Ich musste mich zur Wehr setzen, als du mich mit dem Schraubenzieher angegriffen hast. Dabei geschah ein Unglück. Und alle wissen schließlich von deiner Höhenangst, richtig? Wie sie dich packt, wie schwindelig dir dann wird. Dann gibt es kein Halten mehr für dich. Wie hast du beim Pizzaessen noch erzählt, nachdem wir beim Leuchtturm waren? Es müsse besser Ruf der Tiefe heißen?«
Wieder geht einen Ruck durch meinen Körper. Und jetzt begreife ich, was Johann plant. Mir wird eiskalt, als er mich auf den Balkon zerrt und meinen Körper über den Boden schleift. Durch die klare, türkisblaue Scheibe der Balkonbrüstung sehe ich die weißen Dächer des Isbjerget und den Hafen. Ich spüre den Wind – und den Sog der Tiefe. Call of the void.
»Hilfe …«, wimmere ich. »Hilfe!«, schreie ich und umklammere das Telefon mit der Faust.
»Ein schrecklicher Unfall«, ächzt Johann. »Hörst du ihn? Hörst du den Ruf der Tiefe? Hör genau hin!«
Wie eine Puppe zerrt er mich hoch, presst mich mit dem Rücken gegen die Brüstung. Ich blicke in sein wutverzerrtes Gesicht. Das Blut läuft ihm bis zum Kinn hinab und tropft von dort auf sein Hemd.
Er packt mein Handgelenk und zischt: »Gib mir das Handy mit der Aufnahme.«
»Nein«, keuche ich.
Und dann löse ich meine Finger von dem Plastikgehäuse. Das Handy gleitet mir aus der Hand. Es fällt auf das schräge Metalldach des Gebäudeteils, das sicherlich sechs bis sieben Stockwerke abdeckt, und schlittert auf dem weiß lackierten Zinkblech nach unten, bis es im Knick zum Dach des sich anschließenden Gebäudes liegen bleibt.
Johann starrt an mir vorbei nach unten. Ich versuche, ihm wieder mit den Hacken auf die Schuhe oder gegen die Schienbeine zu treten, aber es gelingt mir nicht. Er hält mich am Handgelenk und am Hosenbund fest. Meine Füße schweben in der Luft. Die Docs knallen nur gegen das Sicherheitsglas am Balkon, dessen polierte Metallkante mir schmerzhaft gegen die Hüfte presst, weil Johann mich mit seinem Körper dagegenpresst. Ich rieche seinen Schweiß, seine Wut, höre seinen Atem und dann seinen wütenden Aufschrei.
Mein Körper wird mit einem Ruck angehoben. Die Brüstung wirkt wie ein Hebel. Den Rest erledigt die Schwerkraft.
Ich falle.
Mein Albtraum wird wahr.
Ich stürze.
Aber nur etwas über einen Meter, denn der Balkon ist in das schräge Zinkdach eingelassen. Dort schlage ich im nächsten Moment mit dem Rücken auf und rutsche die Schräge hinab, wie zuvor mein Handy. Ich werde schneller und schneller. Die Welt saust an mir vorbei.
Ich will mich mit den Händen festkrallen, aber das Zinkbleck schleift mir nur die Nägel ab. Mit den Schuhen kann ich mich nicht stoppen – sie zeigen nach oben, mein Kopf nach unten. Ich spüre, wie es unter meiner Jacke am Rücken heiß wird, was an der Reibung liegt. Ich probiere, ob ich mich drehen kann – und es gelingt mir tatsächlich, sodass meine Schuhe nun nach unten zeigen und ich wie auf einer Rutsche das Dach hinabsause – direkt an der Dachkante entlang, wo es zehn bis zwanzig Meter nach unten geht. Aber endlich kann ich meine Docs auf die glatte Fläche pressen. Sie wirken wie Bremsklötze, reduzieren mein Tempo.
Im nächsten Moment krache ich in den Knick zum nächsten Dach, spüre einen harten Schlag in den Beinen. Mein Körper wird durch die Wucht vorangeworfen. Ich schlage mit dem Oberkörper gegen die Schräge und komme zum Stillstand.
Ich höre einen zitternden Aufschrei aus meiner eigenen Kehle, spüre das kalte Zinkblech an der Wange und versuche dann, mich zu orientieren. Ich gehe vorsichtig in die Hocke und krieche wie zwischen zwei Pyramiden voran, denn ich sehe in dem etwa handbreiten Knick das Handy liegen.
Es liegt nur einen halben Meter von der Gebäudekante entfernt. Von dort aus dürften es noch drei Stockwerke bis zum Boden sein.
Ein Geräusch lenkt mich ab. Ich schaue nach links, das Dach hinauf – und sehe Johann. Er steigt über die Brüstung seiner Dachloggia, setzt sich auf das Zinkblech und rutscht herunter. Genau wie ich eben, allerdings kontrolliert. Er hat mich nicht umbringen können und hat das Handy mit seinem Geständnis nicht. Beides will er offensichtlich korrigieren.
Ich mache einen Satz voran, strecke mich, schlage mir das Knie an einer spitzen, scharfkantigen Schweißnaht auf, strecke die Finger aus, umfasse das Handy. Es sieht noch unversehrt aus. Ich stecke es mit zitternden Fingern in meine Innentasche. Dann fällt mein Blick über den Gebäuderand nach unten. Es war ein Fehler, nicht geradeaus zu schauen.
Der Abgrund will mich aufsaugen. Links und rechts unter mir sind Balkone, fast zum Greifen nah, aber doch so weit entfernt. Dazwischen ist nur Leere, nichts als Luft – und am Ende harter Betonboden, der meine Knochen splittern lassen wird, wenn ich dort aufschlage. Mir wird schwindelig. Mir wird schlecht.
Wie soll ich hier bloß wegkommen? Das andere Dach hinaufkriechen? Zu einer weiteren Loggia? Gegen die Fenster dort treten? Um Hilfe schreien?
Ich starre hinab, sehe nirgends eine Menschenseele. Die meisten Bewohner dürften noch auf der Arbeit sein. Dennoch hole ich tief Luft und will kreischen – als mich Johann mit vollem Schwung erwischt. Er kommt das Dach hinabgerutscht, die Schuhsohlen voran, und die treffen mich in der linken Körperflanke.
Im nächsten Moment ist er über mir, auf mir. Er ist überall. Er schiebt mich voran, wuchtet mich nach vorne. Ich kann nicht atmen, fasse nach links und rechts und strample. Mein Körper dreht sich um die eigene Achse, wird eingerollt. Aber es gibt nirgends Halt.
Meine Stiefel schlagen gegen das Zinkblech. Dann baumeln sie in der Luft.
Ich spüre den kalten Wind von der See. Dann gibt es einen Ruck – und ich rutsche über die Dachkante, falle einen Meter hinab. Mit den Händen finde ich Halt an der Ablaufkante des Daches, schreie auf – und baumle schließlich in der Luft. Der Puls hämmert durch meine Adern. Meine Augen sind weit aufgerissen. Ich sehe Johann über mir. Sein Blut tropft in mein Gesicht. Er beugt sich über die Dachkante zu mir.
Er zischt: »Das Handy …«
Ich will etwas antworten, kann aber nicht. Ich bewege den Kopf nach rechts, nach links. Es dürften sechs oder acht Meter bis zum Boden sein. Den Sturz würde ich womöglich überleben, aber wahrscheinlich für den Rest meines Lebens im Rollstuhl sitzen. Einer der Balkone ist ganz nah. Vielleicht zwei Meter unter mir und einen Meter nach rechts. Wenn ich mir etwas Schwung geben könnte und mich mit den Füßen von der Wand abdrücke, könnte ich es schaffen, ihn zu erreichen, draufspringen oder mich zumindest an der Brüstung festhalten. Es ist riskant, aber machbar. Doch dazu müsste ich meine Panik überwinden.
Johann packt mein linkes Handgelenk. Er versucht, meine Finger von der Ablaufkante zu lösen. Ich kämpfe dagegen an. Die Sohlen meiner Stiefel kratzen über die Fassade. Ich will schreien, aber spare mir die Luft.
»Johann«, keuche ich, »nicht!«
»Das Handy«, faucht er.
»Ich gebe es dir!«
»Wo ist es?«
»In meiner Jacke! Johann, bitte … Ich will nicht sterben!«
»Gib es mir!«
»Ich … Ich kann nicht!«
Johann reißt meine Finger hoch. Es fühlt sich fast an, als würden sie brechen. Ein weiterer Ruck geht durch meinen Körper. Jetzt halte ich mich nur noch mit rechts fest. Das werde ich nicht lange aushalten.
»Jetzt hast du eine Hand frei«, sagt Johann.
Sein Gesicht schwebt wenige Zentimeter vor meinem. Sein Blut tropft. Ich spüre, wie er mit beiden Händen nach meinem rechten Handgelenk fasst – um mich einerseits zu halten, andererseits kann er jederzeit nun auch diese Hand vom Dach lösen. Dann werde ich abstürzen. Und ich bin mir sicher, dass er mich in jedem Fall abstürzen lassen wird, sobald er das Handy hat. Er wird sich irgendeine Geschichte ausdenken, wie es zu dieser Situation auf dem Dach kam – dass ich ihn angreifen wollte, dabei hinabstürzte, er mich retten wollte, aber es nicht gelang …
Ob ich ihm das Handy gebe oder nicht: Johann wird mich töten. Denn ich weiß zu viel. Ich kenne die Wahrheit. Aber ich muss mich jetzt entscheiden.
Ich fasse mit der nun freien Hand an meinen Oberkörper, taste nach der Jacke, nach der Innentasche. Meine Finger stoßen gegen die dünne Kette mit dem Kreuz. Es ist lang wie ein Zeigefinger und unten spitz. Wie ein Nagel. Mit der Querstrebe gleicht es fast einem kleinen Dolch.
Statt nach dem Handy fasse ich nach dem Anhänger. Packe ihn mit der Faust. Reiße ihn von der Kette ab. Ramme Johann das spitze Kreuz in die Wange.
Einmal. Zweimal. Dreimal.
Dann treffe ich seinen Hals und reiße das Kreuz nach unten und damit die Wunde auf. Johann schreit. Sein Blut spritzt über mich. Er lässt das Handgelenk los, um sich die Finger auf die Wunde zu pressen. Ich weiß nicht, ob ich seine Schlagader getroffen habe. Aber immerhin habe ich ihn aufgehalten.
Ich hebe die linke Hand, umfasse wieder die Traufe. Dann ziehe ich die Beine an, presse die Stiefelsohlen gegen die Fassade. Ich spüre einen Widerstand, einen Halt. Es muss der etwas hervorstehende Rahmen eines Fensters sein. Ein Fenster der Wohnung unter mir, zu der der Balkon gehört, den ich nun in den Blick nehme. Ich atme tief ein.
Es gibt nur einen Ausweg, denke ich. Er führt nicht nach oben, denn dort ist Johann. Außerdem habe ich nicht genug Kraft, mich hinaufzuziehen. Der einzige Ausweg führt nach unten. Dann nehme ich so viel seitlichen Schwung wie möglich, was nicht viel ist, drücke mich ab, löse die Hände von der Ablaufkante – und springe.
Nein.
Ich falle.
Ich falle dem Abgrund entgegen.
Gleichzeitig verdrehe ich den Oberkörper. Doch mir wird schlagartig klar, dass ich den Balkon nicht erreichen werde. Zwei Meter nach unten und einen Meter nach rechts. Eine Unendlichkeit weit entfernt. Ich werde nicht draufspringen können. Der Schwung reicht nicht aus.
Ich strecke die Arme, sause mit den Beinen an dem türkisen Glas vorbei. Bekomme die Brüstung zu fassen. Krache halb mit der Brust darauf, halb mit den Unterarmen. Der Stoß raubt mir den Atem. Es gibt einen Ruck. Meine Schultern fühlen sich an, als würden sie ausgekugelt. Im nächsten Moment begreife ich, dass ich Halt gefunden habe. Ich habe es fast geschafft. Aber ich werde mich niemals über den Balkon wuchten können.
»Hilfe!«, schreie ich. »Hilfe!«
Doch die Wohnung hinter den Fenstern ist verlassen. Ich reiße den Kopf hoch, starre nach oben. Ich sehe Johann, der sich den Hals hält. Er ist verletzt, aber offensichtlich nicht lebensgefährlich. Er steigt über die Dachkante. Er will mir folgen. Er wird auf mich draufspringen. Und dann …
Ich blicke nach unten. Am liebsten würde ich für den Rest meines Lebens an diesem Balkon hängen bleiben, am wunderschönen türkisfarbenen Glas, das mir Sicherheit gibt, das mein Leben gerettet hat. Aber ich kann nicht. Direkt unter mir ist ein zweiter Balkon. Er ist versetzt angebracht. Ich muss mich nur fallen lassen, nicht einmal zwei Meter von den Sohlen meiner Docs entfernt, und …
Und mit einem Wimmern lasse ich mich fallen.
Einen Wimpernschlag später komme ich auf dem Balkonboden auf. Das war halb so schlimm. Ich strecke mich aus der Hocke nach oben. Ich starre in die Wohnung hinter der Balkontür. Ich hämmere mit den Fäusten gegen das Glas. Aber nichts tut sich.
Ich höre Geräusche über mir. Ein Knallen. Ein Stöhnen. Johann baumelt an dem Balkongeländer. Dann lässt er sich fallen und kommt unmittelbar neben mir auf und richtet sich auf. Wie ein blutverschmierter Gladiator in einer drei Quadratmeter großen Arena, der zum finalen Schlag ausholt.
Zum Schlag gegen mich.
Ich weiche aus, schleudere mit der Hüfte gegen die gläserne Brüstung. Ich hebe das Bein, trete hart zu und erwische Johann zwischen den Beinen. Er knickt zusammen, als habe man einen Schalter umgelegt. Ich schaue nach unten. Ich schaue nach vorn. Wieder nach unten. Ich sehe keine Menschen, gar nichts, nur einen parkenden dunklen Wagen und drei Meter, die unter mir liegen. Und eine Rasenfläche. Drei Meter, denke ich. Wenn ich über den Balkon klettere, mich herabbaumeln lasse, verkürze ich den Abstand um einen halben Meter.
Ein Sprung aus dem ersten Stock auf weichen Rasen, denke ich. Mehr ist es nicht. Nur ein kleiner Schritt über die Brüstung, dann …
Johann brüllt wie ein waidwundes Tier und richtet sich auf. Bevor er zu mir stürzen kann, um mich zu packen, klettere ich über die Brüstung, halte mich am Rand fest und lasse mich fallen. Johanns Hände fassen nach meinen. Im letzten Moment kann ich sie lösen.
Und falle erneut.
Mit den Boots voran komme ich auf dem Rasen auf, stürze, aber rolle mich ab. Dann komme ich zum Liegen. Ich könnte den Boden küssen. Ich habe es geschafft. Ich habe meine Panik vor der Tiefe überwunden. Und ich lebe noch! Ich lebe.
Ich richte mich auf. Dann höre ich ein dumpfes Geräusch und ein Keuchen hinter mir.
Johann!
Er ist ebenfalls vom Balkon gesprungen. Selbstverständlich ist er das. Ich drehe mich um, um mich zu vergewissern – und im nächsten Moment schließen sich Johanns vom Blut klebrige Finger wie ein Schraubstock um meinen Hals. Er drückt so fest zu, als wolle er meine Kehle zerquetschen.
Sterne tanzen vor meinen Augen. Ich kann nicht atmen. Mein Kopf will platzen. Ich packe nach Johanns Händen, will ihm mit dem Kreuz in die Augen stechen. Meine Stiefel wollen auf seine Füße treten. Doch die Beine versagen mir den Dienst. Ich will Johanns Gesicht erreichen, um ihm die Fingernägel in die Augäpfel zu drücken. Doch er beugt den Kopf im Nacken zurück.
Er ist unerreichbar. Er fletscht die Zähne. Sein Gesicht ist eine Grimasse.
Dann schließt sich ein Unterarm um seinen Hals. Johanns Gesichtsausdruck ändert sich. Er wirkt überrascht.
Der Druck an meiner Kehle lässt etwas nach. Johann röchelt. Der Unterarm steckt in hellem Stoff. Er schließt sich fester um Johann, dessen Gesicht rot anläuft. Die Farbe der Haut ist vom Blut kaum noch zu unterscheiden. Der Druck an meinem Hals lässt weiter nach. Endlich bekomme ich wieder Luft. Ich sehe eine Hand, die seitlich gegen Johanns Kinn fasst. Der Handballen presst sich dagegen. Johanns Kopf ruckt zwei-, dreimal heftig nach links. Dann höre ich ein hässliches Knacken.
Johanns Körper sackt in sich zusammen wie der einer Marionette, deren Fäden durchtrennt worden sind. Ich sauge die Luft ein. Pumpe sie in meine Lungen. Meine Atemwege brennen wie Feuer. Hinter Johanns fallendem Körper kommt ein anderer zum Vorschein. Ein Gesicht.
Ich erkenne es.
Und begreife mit einem Mal …
Ich will tausend Fragen hinausschleudern. Aber viel wichtiger ist es zu atmen.
Das Gesicht schaut nach links und rechts.
»Alles okay?«
Ich nicke.
»Der Mann ist vom Dach gestürzt, als er dich umbringen wollte. Er hat sich das Genick gebrochen. Er hat Magnus getötet und dabei auch das Tagebuch an sich genommen, weil sein Inhalt ihn sonst verraten hätte. Kapiert?«
Ich nicke bloß.
»Du hast es doch gefunden? Ist es oben? In seiner Wohnung?«
Ich nicke wieder. Versuche, in dem Gesicht zu lesen. In der Ferne hört man Sirenen. Viele Sirenen. Die Polizei.
»Hat er dir alles gestanden?«
»Aufgenommen …« Ich röchle. »Handy …« Ich tappe gegen meine Jacke – und bin erleichtert, als ich spüre, dass das Telefon noch da ist. »Habe alles aufgenommen …«
»Ich muss gehen.«
Das Gesicht verschwindet aus meinem Blickfeld. Die Person, zu der es gehört, läuft los und steigt in das schwarze Auto, den BMW, den ich eben vom Balkon aus gesehen hatte, startet den Motor und fährt rasch davon. Ich sehe ihm hinterher, starre dann auf die Leiche. Auf das blutverschmierte Kreuz in meiner Hand. Ich stecke es ein. Es hat mich wirklich beschützt. Aber ganz bestimmt anders, als sich Lotte jemals hätte träumen lassen.