54.
D er Wind streicht über den Ringkøbing-Fjord. Er zerzaust mir die Haare. Die Sonne steht noch nicht hoch am Himmel. Im Gegenlicht sieht das Wasser an einigen Stellen aus wie eine Fläche aus schwarzem Eis. An anderen ist es gleißend weiß. Alles in allem kommt mir der Fjord so vor wie ein gigantischer Spiegel.
Mir ist kalt, und ich ziehe den Schal etwas fester, greife in meine Jackentasche und nehme eine Schachtel Prince Denmark heraus. Über mir kreischen Möwen. Ich ziehe mit den Lippen eine Zigarette hervor und stecke sie an, inhaliere tief und stoße den Rauch aus, der sich rasch verflüchtigt. Ich sehe ihm hinterher.
Mein Blick streift über die endlos erscheinende Wasserfläche, das flache, ereignislose Land drum herum und findet schließlich wieder zurück zu der mit braunbeigem Gras und Moos bewachsenen Landzunge, die weit in den Fjord hineinragt. Ich stehe fast an deren Ende neben einer Bank, auf der man sicherlich wunderbar sitzen kann, Vögel beobachten, die Gedanken schweifen lassen oder im Sommer den Surfern auf dem Fjord zusehen.
Heute bietet sich hier ein anderes Bild.
In einiger Entfernung sehe ich die Fischerhütte am Ufer, die Bündel von Riedgras und die Rümpfe der umgedrehten Holzboote. Dazwischen stehen zwei Gummiboote mit »Politi«-Aufdrucken, und davor parken Fahrzeuge von der Polizei, zivile wie auch Streifenwagen und zwei Transporter, dazu einer von der Feuerwehr und ein Notarztwagen. Ein weiteres Boot befindet sich auf dem Wasser. Drei oder vier Taucher sind im Einsatz, die etwas hinter sich herziehen. Von hier aus könnte man denken, es sei ein Filmset aufgebaut worden. Es ist aber keines.
Ich inhaliere noch einmal, tiefer, und stoße den Rauch nur sehr langsam aus, damit das Nikotin seine volle Wirkung in den Lungen entfaltet.
Ich kann den Blick nicht von den Tauchern abwenden, die am Ufer regelrecht damit kämpfen, etwas an Land zu ziehen, an dem orangerot leuchtende Schwimmer befestigt sind. Ich erkenne nicht, worum es sich handelt. Das brauche ich auch nicht, denn ich weiß es.
»Sie haben etwas gefunden«, sagt eine Stimme hinter mir.
Ich blicke über die Schulter nach hinten und sehe Tine Kjær, die näher kommt.
Sie trägt einen engen schwarzen Parka mit Fellkapuze, schwarze Jeans und schwarze Stiefel. Der richtige Aufzug für eine Beerdigung, denke ich. Wobei das, was hier passiert, wohl eher einer Exhumierung gleichkommt.
Ich nicke nur, antworte nicht, und dann steht Tine auch schon neben mir. Sie atmet schwer, zieht den Reißverschluss ihres Parkas zu und vergräbt die Hände in den Taschen.
»Natürlich«, sagt Tine, »muss die Identität erst festgestellt werden, aber …«
»… aber es gibt keinen Zweifel, oder?«
»Es handelt sich um eine Leiche, die seit einiger Zeit im Wasser liegt. Mehr weiß ich nicht.« Tine schüttelt den Kopf. »Aber: Nein. Eigentlich dürfte es keinen Zweifel geben. Ich habe zumindest keine.«
Vigga.
Johann hat ihre Leiche mit einem Abschleppseil zusammengebunden und an einem der Holzboote festgemacht. Damit hat er sie hinaus zum Fjord geschleppt, Steine in ihre Taschen gesteckt und den Körper versenkt. Die Polizei hat in der Hütte und am Ufer entsprechende Spuren gefunden und dann den Fjord abgesucht. Jetzt wurde sie fündig.
»Wie geht es Ihnen?«, fragt Tine.
Ich zucke lediglich mit den Schultern. Ich nehme nach wie vor Schmerzmittel und mixe sie mit meinen Psycho-Pillen. Wenn ich zurück in Kopenhagen bin, werde ich die Therapie wiederaufnehmen. Das haben mir die Ärzte geraten, die mich in den vergangenen Tagen untersucht und begutachtet haben. Meine retrograde Amnesie ist verflogen. Das habe ich amtlich und höchstgutachterlich schwarz auf weiß quittiert bekommen. Ich kann mich inzwischen an Bruchstücke des Abends erinnern, an dem ich sterben sollte. Daran, dass ich wieder zu mir gekommen bin, Magnus’ Leiche sah und in Panik das Messer aus seinem Körper zog, bevor mich ein Tritt am Hinterkopf traf und ich wieder bewusstlos wurde und im Dämmern den Täter sah, wie er das Haus verließ.
Es war Johann. Johann hat Magnus umgebracht, nachdem er ins Haus gekommen war und mich halb tot und Magnus mit dem Tagebuch in der Hand fand.
Über das, was in dem Buch stand, entbrannte ein fürchterlicher Streit zwischen den beiden – und Johann drehte durch, weil er aus dem Tagebuch erfahren musste, dass er mit Vigga auch sein ungeborenes Kind ermordet hat. Das ist die offizielle Version. Am Hergang besteht laut Polizei kein Zweifel, und immerhin wurde das Tagebuch in Johanns Wohnung gefunden, zudem die Heimdall-Festplatten. Er hat das alles mitgenommen und auf der Flucht die Haustür nicht richtig geschlossen, sodass Frederik mich finden konnte. Auf der Aufnahme von Johanns Geständnis hat er es zwar anders dargestellt. Er hat gesagt, das Tagebuch gebe es nicht und ihm sei jetzt erst klar geworden, dass Vigga sein Kind in sich trug, bevor er mich dann angriff. Aber das war gelogen.
Die Fakten sprechen eine eindeutige Sprache: das Tagebuch in Johanns Wohnung, die Festplatten, das Geständnis des Mordes an Vigga, auch wenn er ihn als Unfall darstellt, dass er mich auch töten wollte, dass es überall Spuren von ihm gab und er Motive hatte. An dem Messer, mit dem er Magnus umgebracht hat, fand man zwar seine Fingerabdrücke nicht mehr – aber, hat mir Tine erklärt, das sei wahrscheinlich darauf zurückzuführen, dass das Blut alles verschmiert habe, als ich das Messer aus Magnus herauszog. Tja, und befragen kann man ihn nicht mehr, da er sich beim Sturz aus dem dritten Stock das Genick gebrochen hat.
Die Polizei kann gut mit dieser Version der Geschichte leben. Auch damit, dass ich Viggas Tagebuch auf Johanns Küchentisch unter Zeitschriften liegend vorfand und ihm dann entgegengeschleudert habe.
Dass ich es aus meinem Rucksack zog, weiß niemand. Und es geht auch nicht eindeutig aus der Handy-Aufnahme hervor.
Zwar gibt es Ungereimtheiten auf der Aufnahme, und die Polizei hat mich intensiv dazu befragt, aber am Ende sind das nur unscharfe Kleinigkeiten gewesen, die sozusagen der Hitze des Gefechts geschuldet waren.
Knud und Tine haben keinen Zweifel daran gelassen, dass sie davon überzeugt sind, jetzt zu wissen, wie die Geschehnisse abgelaufen sind. Sie haben sich bei mir für alle falschen Verdächtigungen entschuldigt – so wie ich mich von Herzen bei der Krankenschwester entschuldigt habe, die ich im Klinikum k. o. geschlagen habe. Sie trug nur eine ziemlich dicke Beule davon und hat von einer Anzeige gegen mich abgesehen und am Ende unseres Gesprächs gesagt, dass sie an meiner Stelle wohl ähnlich gehandelt hätte. Tine und Knud haben außerdem zugegeben, dass ohne meine Flucht die Wahrheit wohl kaum ans Licht gekommen wäre. Mit sehr großer Wahrscheinlichkeit wäre ich wohl wegen Totschlags ins Gefängnis gewandert. Und nun, da Viggas Leiche gefunden wurde und mit Johanns Geständnis, dem versuchten Mord an mir und meiner Aussage über den Mord an Magnus, schließt sich für die Polizei der Kreis.
Für mich schließt er sich ebenfalls, wenn auch nicht ganz. Etwas ist noch offen wie diese Kreise aus Metall, die Zauberer verwenden, wenn sie sie vor den Augen aller ineinanderflechten. Es macht klick – und die zwei Ringe sind plötzlich verbunden. Sie sehen komplett glatt und lückenlos aus. Jeder weiß natürlich, dass es eine feine, versteckte Naht geben muss. Aber man denkt extra nicht daran, weil die Illusion, es gäbe sie nicht, so viel perfekter ist, als sich eingestehen zu müssen, dass man einem Trick aufgesessen ist.
Auch mein Kreis hat eine solche Naht, die niemand sieht. Aber ich weiß, dass sie da ist. Ob ich damit leben kann oder irgendwann den Clou an der Sache erklären werde, wird die Zeit zeigen. Eines allerdings wird die Zeit nicht ändern können: dass Vigga und ich uns nie ausgesprochen haben. Dass unsere Sturheit, vor allem meine, uns im Wege stand. Und, ja, wenn ich darüber nachdenke, wären viele Dinge vielleicht gar nicht erst geschehen, wenn es anders gewesen wäre. Dann hätte sie sich mir vielleicht anvertraut. Oder ich hätte vorher mit Ratschlägen eingreifen können. Es ist verrückt, aber: Vielleicht wäre sie noch am Leben. Und ich muss damit klarkommen, dass es anders ist.
Frederik ist wieder in Kopenhagen und hat versprochen, mich privat sowie bei laufenden Projekten so gut wie möglich zu unterstützen, bis ich wieder auf dem Damm bin. Ich denke, er erhofft sich immer noch, dass wir erneut zusammenkommen werden. Doch ich glaube, die Kluft zwischen uns ist noch größer geworden, als sie vorher schon war. Frederik war immer schon ein netter Kerl, und er ist noch sehr viel netter zu mir geworden und hat mir außerdem das Leben gerettet und sich vor der Polizei vor mich gestellt. Er hat viel riskiert.
Und ich, ich habe zu tief in den Abgrund geschaut und der Abgrund in mich zurück. Ich fürchte, es gibt nur einen Weg zurück an die Oberfläche. Ich muss erst bis nach ganz unten hinabtauchen, um mich vom festen Boden wieder abzustoßen. Wie sagt man? Bevor es besser werden kann, wird es immer erst noch schlimmer.
»Wir werden uns vielleicht noch ein- oder zweimal unterhalten müssen, Liv«, sagt Tine.
Ich nicke und trete die Zigarette aus. »Wann immer Sie wollen«, sage ich. »Ich muss jetzt gehen.«
Tine nickt ebenfalls und sieht mir hinterher. Sie steht noch da, als ich den Wagen zurücksetze und in Richtung Küste aufbreche.