Kurz lesen

War Marx ein Zwilling?

Ein Vorwort

Obwohl die Auflagen seiner Bücher an die Verbreitung der Bibel heranreichen, ist Karl Marx heute aus den Buchhandlungen fast ganz verschwunden. Eine Marx-Auswahl-Auswahl fehlt daher und könnte doch nützlich sein, vielleicht nicht zuletzt für eine junge Generation in Ost und West, die mit keiner Marx-Lektüre und keiner Marx-Diskussion mehr aufgewachsen ist, sich aber endlich einmal selber mit dem authentischen Marxschen Denken auseinandersetzen will, das angeblich beinahe die Weltgeschichte ruiniert hätte. Es hat schon viele Editionen Marxscher Texte gegeben, wobei meistens ein Verständnis still Voraussetzung war, das Marx mit dem „Marxismus der sozialistischen Arbeiter- und Staatsparteien indentifizierte. Heute ist dieser Sozialismus ebenso mausetot wie die Arbeiterbewegung. Die Formeln des „Standpunkts der Arbeit“ und des „Klassenkampfs“ sind altertümlich geworden; sie lösen keine positiven oder negativen Leidenschaften mehr aus und reizen nur noch zum Gähnen.

Aber dabei handelt es sich lediglich um eine bestimmte Lesart der Marxschen Theorie und um einen bestimmten Strang seiner Argumentation, der in der Tat an eine jetzt vergangene (wenngleich noch ganz und gar unbegriffene) Epoche gebunden und daher heute nichts als Theoriegeschichte ist. Das ist allerdings bloß der halbe Marx, gewissermaßen nur der eine der Zwillinge. Den wenigsten ist heute noch bekannt, dass Marx von sich selbst gesagt hat: „Ich bin kein Marxist“. Denn er spürte durchaus, dass seine theoretischen Erkenntnisse ziemlich eindimensional, verengt, verhunzend und ignorant geistig verarbeitet und verbreitet wurden. Und dazu trug er sogar selbst, einmal der bestehenden Lage entsprechend und zum anderen wegen seiner eigenen inneren Widersprüchlichkeit, bei. Denn es gab auch immer schon von Anfang an den in der Versenkung verschwundenen und ganz unausgeleuchteten Ansatz radikal kritischer Theorie eines „anderen“ Marx, der dem „Arbeiterbewegungsmarxismus“ bis heute ebenso fremd und unheimlich geblieben ist wie den sozialistischen Rechtfertigungsideologen in den Jahrzehnten des Kalten Krieges. Bis jetzt ist noch nicht versucht worden, eine Edition speziell dieses unbekannten Marx und seiner ganz anderen Kapitalismuskritik gewissermaßen aus seinen hinterlassenen erheblichen Textmassen heraus zu präparieren. Solange sich die Marx-Rezeption im Wesentlichen auf den Kontext der bisherigen Modernisierungsgeschichte beschränkte, bestand dazu auch gar keine Veranlassung. Im Gegenteil hat man hüben wie drüben nur allzu gern alles an der Marxschen Theorie verdrängt oder versteckt gelassen, was sich für die Erfordernisse der politischen Auseinandersetzung und der Legitimation von Interessenpositionen als zu sperrig erwies. Es ist jedoch gerade dieses ins Dunkel getauchte Alter ego des ganzen, sozusagen janusköpfigen Marx, das für die Zukunft noch bedeutend werden kann.

Die Marxtexte, auf die in diesem Lesebuch an den verschiedenen Stellen verwiesen wird, sind deshalb bewusst aus dem Zusammenhang mit der arbeiterbewegungsmarxistisch kompatiblen Marxschen Textmasse herausgeschnitten. So wird vielleicht der Vorwurf nicht ausbleiben, die hier zur Lektüre vorgeschlagenen Texte seien eben aus dem Zusammenhang gerissen. Deshalb gleich vorweg das Geständnis: Genau darin besteht auch die Absicht, nämlich die aus der offiziellen Debatte weitgehend herausgehaltene „andere“, viel radikalere Kapitalismuskritik des unbekannten Marx aus dem Zusammenhang des gegenstandslos gewordenen Partei- und Arbeiterbewegungs-Marx herauszureißen, kenntlich zu machen und damit zuzuspitzen.

Natürlich kann das nur unvollkommen und ansatzweise gelingen; auch kann kein Anspruch auf Vollständigkeit erhoben werden. Manchmal lässt es sich einfach nicht vermeiden, dass auch der „offiziöse“ Marx in dieser Auswahl erscheint, seine Ausdrucksweise zweideutig, unvollständig oder widersprüchlich wirkt. Umgekehrt, wer ein Interesse am ganzen, in seiner Widersprüchlichkeit unverkürzten Marx hat, und eine „wissenschaftlich“-philologische Lektüre bevorzugt, der sei auf die herkömmlichen Marx-Editionen verwiesen, insbesondere auf die berühmten „blauen Bände“ der MEW (Marx-Engels-Werke) der ehemaligen DDR (ein Tipp für junge Wissbegierige: Mal nachfragen, was die 68er „Realo“-Väter und -Mütter – oder sind es langsam schon die Großeltern? – so alles im Keller deponiert haben), oder gleich auf das allerdings noch lange nicht abgeschlossene Jahrhundertprojekt der MEGA (Marx-Engels-Gesamtausgabe), das trotz des verständlichen Desinteresses der „Siegerideologen“ mit internationaler Unterstützung weitergeführt werden kann. Wenn Du Dir „Marx lesen“ von Robert Kurz, Eichborn-Verlag, 2001, die wichtigsten Texte von Karl Marx… im Internet (meist gebraucht) beschaffen kannst, schätze Dich glücklich. Das vorliegende Heft beinhaltet alle kommentierenden Texte von Robert Kurz aus seinem genannten Buch. Lesebücher zur Einführung hingegen sind heute mehr als dünn gesät, und sie genügen vor allem nicht den Erfordernissen einer qualitativ neuen Marx-Renaissance für das 21. Jahrhundert. Deshalb ist die mit diesem Lesebüchlein vorliegende Auswahl nachzuschlagender Marx-Texte für Leserinnen und Leser gedacht, die weniger ein akademisches, philologisches Interesse an Marx haben, sondern ihn als kritischen Theoretiker kennen lernen wollen, der auch nach dem Ende von Arbeiterbewegung und Realsozialismus noch etwas zu sagen hat – und vielleicht jetzt erst das Entscheidende. Auch wenn diese Marx-Texte und ihre Argumentationen Mosaiksteinchen sind – es ist immer noch der originäre Marx, der hier spricht. Freilich nicht mehr so sehr der Marx des „Klassenkampfs“, sondern der Marx einer Kritik an der Irrationalität des modernen warenproduzierenden Systems, nicht mehr der „Klassentheoretiker“, sondern der „negative Systemtheoretiker“. Und natürlich ist von vornherein klar, dass ein solches Lesebuch keine „heiligen Schriften“ mehr präsentiert. Man muss es endlich einmal zugeben: Marx ist nicht nur widersprüchlich und ein „doppelter Marx“, also gewissermaßen Zwillinge, er kann auch ein unglaublicher Langweiler sein. Über weite Textstrecken entwickelt er mit äußerster Umständlichkeit Argumentationen, die man kürzer und klarer formulieren könnte. Und oft verbeißt er sich derart in eine langatmige Polemik gegen längst vergessene kleine Lichter, dass man ihm zurufen möchte: Nun mach mal ein Ende, der Gegner liegt doch längst am Boden. Diese eigentümliche Weitschweifigkeit, Redundanz und Verbissenheit ist vielleicht einer Ahnung geschuldet, dass seine Theorie auf etwas verweist, was uneingelöst bleiben musste und bis heute noch unentbunden in der Hülle des 19. Jahrhunderts schlummert. Gerade dort aber, wo Marx‘ Kritik explizit über seine Epoche hinausweist, verändert sich sogar sein Stil: er wird messerscharf, apodiktisch, wuchtig, unwiderstehlich, eben weil er an uneingestandene Tabugrenzen der Moderne rührt und sich darüber hinwegsetzt. Es sind diese Formulierungen des Zur-Sprache-Bringens von innerkapitalistisch Unsagbarem, die noch heute Herzklopfen verursachen, weil sie auch nach 160 Jahren im wahrsten Sinne des Wortes „unerhört“ klingen und das Selbstverständliche, Verinnerlichte in Frage stellen.

Natürlich muss die kritische Theorie des 21. Jahrhunderts über Marx hinausgehen. Das ist zwar schon oft gesagt worden. Aber im Zuge eines positiven Bezugs auf die bisherige Modernisierungsgeschichte entpuppte sich dieses vollmundige Postulat regelmäßig als ein kläglicher Rückfall hinter Marx, als Versuch, seine kritische Theorie mit positivistischer Methodologie zu verballhornen, sie in die Volkswirtschaftslehre einzuvermeinden, die Kritik der politischen Ökonomie durch eine „marxistische“ Politökonomie zu ersetzen und an die Erfordernisse parlamentarischer Politik anzupassen, mit einem Wort: jede Erinnerung an den unangenehmen „anderen“ Marx loszuwerden und sich mit allzu bescheidenen alternativen Konzepten mitten im Kapitalismus pudelwohl (oder im Staatskapitalismus elend) zu fühlen. Um überhaupt jemals über Marx hinauszukommen, ist es dagegen unabdingbar, gerade an die verpönte und mit verlegenem Gestammel weggeschobene Seite seiner Theorie anzuknüpfen. Um Marx wirklich überwinden zu können, muss man auf seinen Schultern stehen können, statt ihm bloß den Buckel runterzurutschen.

Es gibt längst Hinweise darauf, wo es nach Marx weitergehen muss. So zeigt sich im Geschlechterverhältnis ein wesentlicher Aspekt kapitalistischer Vergesellschaftung, zu dem „der Mann Marx“ wenig oder nichts gesagt hat. Im Zusammenhang damit wird eine kritische Theorie zu entwickeln sein, wie heute kapita- listische Individuen und ihre Subjektivität hergestellt werden. Auch die Kritik an der Zerstörung der Naturgrundlagen durch die betriebswirtschaftliche Externalisierung von Kosten, bei Marx immerhin schon kurz angedeutet, harrt ihres konsequenten begrifflichen und analytischen Bezugs auf die Formen kapitalistischer Rationalität. Das Ausbrennen der „Arbeitsgesellschaft“ und die damit verbundene Krise des Geldes, wie sie in großen Weltregionen bereits das dramatische Ende der Moderne eingeläutet hat, setzen das Weiterdenken der noch längst nicht erledigten Marxschen Krisentheorie auf die Tagesordnung. Es wird immer offensichtlicher, dass die großen Fragen der kommenden Jahre und Jahrzehnte zwar jenseits des Marxismus von Arbeiterbewegung und Staatssozialismus liegen, aber trotzdem innerhalb der kapitalistischen Gesellschaftsformen niemals zu bewältigen sein werden. Der Anschluss an die verdrängte radikale Kritik des anderen Marx kann sich gerade in dieser Hinsicht als fruchtbar erweisen.

Das vorliegende Lesebüchlein wendet sich daher als erste Hilfe an alle, die auf diese erratische Gestalt trotz ihrer antiquierten Vollbärtigkeit wieder neugierig geworden sind und die noch einmal etwas Neues vom alten Marx lernen wollen. Es kann ein Wiedereinstieg für die Älteren sein, denen das Bedürfnis nach theoretischer Reflexion noch nicht abhandengekommen ist und die sich, vielleicht zögernd, doch noch zu einer kritischen Aufarbeitung ihrer „marxistischen“ Vergangenheit und Jugendsünden entschließen möchten, anstatt sie einfach zu entsorgen. Und es kann ein Einstieg sein für die Jüngeren und Jüngsten, von denen unsereins wenig weiß, die sich aber ganz unbelastet von irgendwelchen marxistischen Vergangenheiten ganz frisch und historisch unschuldig eine radikale Kritik aneignen können, die womöglich ihrem wirklichen Lebensgefühl mehr entspricht als die Angebote des kapitalistischen Medienbetriebs.

Der Mensch hat immer noch den Fehler, dass er denken kann. Und so ist dieses Heft auch mit der vagen Hoffnung verbunden, dass es geistige Nahrung liefert für eine soziale Bewegung, die noch verborgen im Schoß der näheren Zukunft schlummert. Es ist die Hoffnung, dass es bereits heute jede Menge Menschen gibt, die trotz allen Geredes von der „Alternativlosigkeit“ der herrschenden Weltordnung den Kapitalismus mit seinen verrückten Anforderungen bis oben hin satthaben.

Schau Dir also zunächst in den einzelnen Textabschnitten die dort aufgeführten Marx-Schriften an und sieh zu, ob und dass Du sie Dir auf irgendeine Weise verfügbar machen kannst; ausleihen wäre z.B. prima. Aber selbst dann, wenn Du das nicht schaffst, wird Dir die Lektüre der hier folgenden, Marx jeweils kommentierenden Texte ein Wissen vermitteln, das Dich in die Lage versetzt, zu erkennen, wie irreal, um nicht einfach zu sagen, wie verrückt die kapitalistische Vergesellschaftung der Welt ist. Darüber hinaus wirst Du wissen, welche Vielfalt radikaler Änderungsmöglichkeiten besteht.

Lass uns hier starten mit der Einführung: