Die 68er Bewegung als Johannistrieb des exoterischen Marx

Am Ende des westlichen Wirtschaftswunders, jenes großen Nachkriegsbooms der fordistischen Industrien mit dem Automobil als zentralem Produktions- und Konsumgut, erlebte der exoterische Marx – eigentlich schon jenseits seiner historischen Zeit – noch einmal einen unerwarteten dritten Frühling, diesmal in Gestalt der großen westlichen Jugend- und Studentenbewegung, die von verwandten Erscheinungen im Ostblock (Prager Frühling) und in der Dritten Welt begleitet war. Aber dieser dritte Frühling war nur noch ein laues Lüftchen, das lediglich die Oberfläche der Gesellschaft mit einer kulturell-symbolischen Bewegung berührte. Der Versuch, diese Bewegung mit dem nationalrevolutionären Pathos der Dritten Welt anzureichern und noch einmal in einem großen strategischen Entwurf die Rezeption des exoterischen Marx zu einer globalen historischen Kraft zusammenzufassen, erschöpfte sich weitgehend in einer revolutionsromantischen Popkultur. Nur eine winzige Minderheit versuchte diese zum Scheitern verurteilte strategische Option in quasi-existentialistischen, völlig isolierten militärischen Kamikaze-Aktionen zu realisieren (so etwa die RAF).

Die Marxsche Theorie wurde dabei nicht auf der erreichten Entwicklungshöhe der kapitalistischen Gesellschaftsformen weitergedacht, sondern in einer begrifflich ziemlich verwahrlosten Gestalt aus der Peripherie reimportiert, deren nachholende Modernisierung ökonomisch und strukturell bereits im Scheitern begriffen war, während sie noch ihre letzten politisch-revolutionären Triumphe zu erleben schien.

Was für die kapitalistischen Metropolen selber als Rest oder Überhang der alten Modernisierungsfunktion im Verständnishorizont des exoterischen Marx noch übrigblieb, war ein kulturrevolutionärer Anschub der 68er Bewegung für die dann folgende Entfesselung des letzten, postmodernen Stadiums kapitalistischer Individualität: Die von der Jugend- und Studentenbewegung noch mit marxistischem Vokabular aufgemotzten Motive der habituellen Kulturkritik, des Antiautoritarismus, der „sexuellen Revolution“ und eines punktuellen Kampagnenwesens verwandelten sich in ebenso viele avantgardistische Management- und Marke- ting Konzepte, in eine damit verbundene Kommerzialisierung des Intimen und ein neues Selbstunternehmertum der Arbeitskraft.

Soweit die sogenannten neuen sozialen Bewegungen, die im Gefolge von 1968 bis Mitte der 80er Jahre verschiedene Anläufe einer Gegenkultur unternahmen, sich noch als grundsätzliche gesellschaftliche Opposition (miss)verstanden, bezogen sie sich immer seltener auf die Marxsche Kritik der politischen Ökonomie. Das Potential der marxistischen Interpretation reichte offensichtlich nicht mehr für eine Erklärung der fortgeschrittenen gesellschaftlichen Wirklichkeit aus. Aber ohne den Rückgriff auf die Marxsche Theorie fehlte der Analyse die kritische Schärfe, und die Bewegungen verloren ihren Biss, zerbröselten oder gingen via Subkultur und lobbyistische Nischenpolitik im Kapitalismus auf.