Die große Irritation nach dem Ende des Marxismus
Mit dem Absterben auch dieses Johannistriebs konnte der exoterische Marx für immer in der Versenkung verschwinden. Aber diese Erschöpfung des marxistischen Paradigmas wurde mangels historischer und theoretischer Reflexion ihres Stellenwerts so interpretiert, als müsse damit die Kapitalismuskritik überhaupt als bloße Verirrung ad acta gelegt werden. Dieser oberflächliche Eindruck schien sich dramatisch zu bestätigen, als 1989 – ironischerweise pünktlich zum zweihundertsten Jahrestag der Französischen Revolution – das morsche Reich des östlichen Staatskapitalismus zusammenbrach und fast lautlos im Orkus der Geschichte verschwand. Der im Namen des exoterischen Marx vielbeschworene Realsozialismus büßte schlicht seine Realität ein. Und da gab es erst einmal kein Halten mehr: Noch ganz in der Sichtweise des Kalten Krieges wurde der ebenso unerwartete wie unbegriffene Epochenbruch quer durch alle politischen und theoretischen Lager als endgültiger Sieg von „Marktwirtschaft und Demokratie“ ausgerufen, eine Formel, die uns heute verfolgt wie ein verkaufsfördernder Ohrwurm den Kunden im „Kaufhaus des Westens“.
Aus der historisch zu kurz greifenden Sicht des Kalten Krieges schien allerdings das marxistische Gegensystem und somit die historische Alternative zum Kapitalismus gescheitert. Und aus der Sicht einer rapide abschmelzenden Linken, die nicht anders als in der immanenten Weise des exoterischen Marx denken konnte, musste man dieser Einschätzung kleinlaut zustimmen. Die großen Fluchtbewegungen in einen kapitalismuskonformen „Realismus“ mit entsprechenden bizarren Karrieren einerseits, die klägliche und verbohrte marxistische Nostalgie einer verlorenen Minderheit andererseits schienen das Schicksal der Marxschen Theorie endgültig zu besiegeln. Völlig außer Betracht blieb, dass es auch noch eine ganz andere Interpretation der Entwicklungen und Ereignisse geben könnte, nämlich im Horizont jenes verdrängten esoterischen Marx und seiner kategorischen Kritik.
Aus dieser ganz anderen Sicht, von der selbst die theoretische Öffentlichkeit nur widerwillig Notiz nimmt, ist nicht die historische Alternative gescheitert, sondern ganz im Gegenteil die nachholende Modernisierung der Peripherie. Konnte die Aufholjagd aus der Perspektive der kapitalistischen äußeren (nationalen) Ungleichzeitigkeit im 19. Jahrhundert noch relativ erfolgreich sein, so ist sie im 20. Jahrhundert nach anfänglichen Erfolgen trotz ungeheurer Anstrengungen zusammengebrochen. Die Gründe dafür liegen im Entwicklungsstand des kapitalistischen Weltsystems selbst: Unter den Bedingungen fortschreitender Integration durch Welthandel und Finanzmärkte musste den historischen Nachzüglern spätestens mit der dritten (mikroelektronischen) industriellen Revolution die Puste ausgehen. Denn sie waren nicht mehr (oder nur um den Preis einer prekären äußeren Verschuldung) in der Lage, die Kapitalkraft für diese erneute technologische Aufrüstung des gesamten Produktionsapparats aufzubringen. Damit verloren sie die Konkurrenzfähigkeit auf dem Weltmarkt, und in einer Kettenreaktion ging die Schere zwischen Import- und Exportpreisen (terms of trade) zu ihren Ungunsten auf, sie konnten nicht mehr ausreichend Devisen verdienen und mussten schließlich als selbstständige Nationalökonomien bedingungslos kapitulieren.
Inzwischen dämmert selbst den marktwirtschaftlich-demokratischen Hofsängern und den neoliberalen Hardlinern, dass die von reihenweisen nationalökonomischen Zusammenbrüchen ausgelöste und fortschreitende Weltkrise keineswegs durch einen bloßen politisch-ideologischen und institutionellen Seitenwechsel vom Staatsplan zur Marktkonkurrenz, von der relativen Abschottung zur Öffnung und von der gescheiterten Einparteien-Entwicklungsdiktatur zum demokratischen Parlamentarismus bewältigt werden kann. Diese Krise geht viel tiefer. Wie die keineswegs bewältigten Zusammenbrüche der südostasiatischen „Tigerländer“ mit ihrer angeblichen Wunderwirtschaft gezeigt haben, sind nicht nur die dezidiert sozialistischen Ökonomien der Peripherie an historische Grenzen gestoßen. Es wird immer deutlicher: Der westliche Kapitalismus kann die mit ihren eigenständigen Aufholversuchen gescheiterten historischen Nachzügler nicht in ein unter seiner alleinigen Ägide vereinheitlichtes Weltsystem integrieren. Die innerkapitalistische Ungleichzeitigkeit wurde nicht positiv, sondern negativ aufgehoben. Unter dem Zwang global vereinheitlichter Produktivitäts- und Rentabilitätsstandards kann bereits jetzt der größere Teil der Menschheit nicht mehr in den kapitalistischen Gesellschaftsformen weiterexistieren. Mehr noch: Ganz unzweideutig manifestiert sich die Weltkrise auch in den kapitalistischen Kernländern selber, wenn auch bis jetzt gedämpft durch einen abgehobenen neuen Finanzkapitalismus, der selber schon als Krisenphänomen gedeutet werden kann.
Je klarer die Tatsachen diese Wahrheit hinausschreien, desto größer wird die Irritation. Soll man etwa die gerade begrabene Marxsche Kapitalismuskritik wieder ausbuddeln und die inzwischen abhanden gekommenen Begriffe des Klassenkampfs und einer alternativen politischen Ökonomie einfach revitalisieren und wiederholen, wo sie doch offensichtlich einem untergegangenen Zeitalter angehören? Die offizielle Wissenschaft und die bürgerliche Öffentlichkeit sträuben sich mit einigem Recht, eine abgehakte und gegenstandslos gewordene Debatte wiederzubeleben. Doch aber dann gibt es scheinbar keine Möglichkeit mehr, die evidenten Krisenerscheinungen auf den Begriff zu bringen und historische gesellschaftliche Alternativen zu entwickeln (daher auch die bis zur Ignoranz sture Rede von der „alternativlosen Marktwirtschaft“). Weil nach 160 Jahren nur der exoterische Marx einer positiven Modernisierungstheorie im gesellschaftlichen Bewusstsein präsent ist, leidet die Gesellschaftstheorie unter einer galoppierenden Paralyse.