Marxistische Totenbeschwörungen
Die wenigen Häuflein übriggebliebener Marxisten tun größtenteils so gut wie nichts dafür, diesen Zustand zu ändern. Im Gegenteil, sie bekräftigen diese Paralyse noch und bestätigen sie, indem immer wieder und wieder das untergegangene Paradigma des exoterischen Marx klappernd und mit hilfloser Zwanghaftigkeit abgespult wird.
Die Insignien und Parolen der nachholenden Entwicklungsrevolutionen sind bereits in der postmodernen Ramschkiste gelandet. „Hammer und Sichel“ tauchen neben religiösen und anderen Zeichen als von ihrem historisch gewordenen Inhalt abgelöstes Accessoire der Beliebigkeitskultur auf, Investmentfonds oder Autoverleiher werben für ihre „revolutionären“ Geschäftsideen mit verfremdeten Leninbildern. Aber der Restmarxismus rätselt unverdrossen über die für ihn weiterhin selbstverständliche qualitative Differenz zwischen dem entrealisierten Realsozialismus und der kapitalistischen Produktionsweise, obwohl doch die qualitative Identität praktisch bewiesen wurde, indem dieser Sozialismus nur deswegen an den kapitalistischen Kriterien scheitern konnte, weil sie auch seine waren.
Gegenwärtig zeichnet sich eine neue Rückzugsfront der globalen Linken ab, in der Begriffe des exoterischen Marx („Klassenkampf“ usw.) mit Elementen der keynesianischen volkswirtschaftlichen Doktrin (partielle Staatseingriffe und sozialstaatliche Flankierung des Kapitalismus etc.) verbunden werden sollen. Der französische Soziologe Pierre Bourdieu hat geradezu die „Verteidigung der keynesianischen Zivilisation“ gegen den Vormarsch des Neoliberalismus ausgerufen. Angesichts des Gros von ex-linken „Realisten“, die inzwischen von der Forderung nach Billiglohn-Sektoren bis hin zum NATO-Kriegseinsatz alles blindlings mitmachen, was der Kapitalismus verlangt, erscheint der von persönlicher Integrität getragene Aufruf Bourdieus zum intellektuellen und sozialen Widerstand als durchaus sympathisch. Aber diese linksoppositionelle Positionierung hat keine historische Eigenständigkeit, keine Substanz und keine gesellschaftliche Perspektive mehr.
Die Bourdieu-Initiative kann sich im Gegensatz zur dogmatischen Totenbeschwörung der weltfremd gewordenen letzten „Gläubigen“ nur deshalb äußerlich als undogmatisch und neu darstellen, weil es sich um eine ideologische Legierung zweier alter und abgelebter, einst gegensätzlicher Gehalte handelt. Der Bezug auf den exoterischen Marx erscheint dabei nur noch als rituelle Erinnerung an den Klassenkampf und bleibt begleitende Rhetorik, während wir es inhaltlich mit kaum mehr als einer matten keynesianischen Nostalgie zu tun haben. So repetiert etwa die hoffnungslos blauäugige Forderung nach einer „politischen Kontrolle der transnationalen Finanzmärkte“ das Muster des vergangenen Zeitalters, nämlich die Idee einer staatlich-politischen Regulation und Moderation der unaufgehobenen kapitalistischen Realkategorien in einer darüber längst hinweggegangenen Welt. Das „deficit spending“ der keynesianischen staatlichen Moderation wurde von der Inflation der 70er und 80er Jahre verschlungen, die nationalstaatliche Kontrolle des Geldes durch die Globalisierung ausgehebelt. Dieses Muster hat daher keinen innerkapitalistischen Realitätsgehalt mehr. Es bleibt ideologische Reminiszenz, und nur deshalb ist die seltsame Mischehe von Marx und Keynesianismus möglich, über die sogar der Siebziger-Jahre-Marxismus gespottet hätte, der selber bloß noch ein historischer Nachklang war. Real ist der westliche Keynesianismus genauso gescheitert wie der östliche Staatskapitalismus der zweiten nachholenden Modernisierung.
Nur weil sich inzwischen das Koordinatensystem der Entwicklung und des gesellschaftlichen Bewusstseins verschoben hat, kann diese Position formal als fast schon wieder „linksradikal“ erscheinen. Aber die in diesem Zeichen zum wiederholten Rückzugsgefecht sich sammelnde Linke tritt in Wahrheit gar nicht mehr in einem eigenen marxistischen Namen an, sondern klaubt nur die abgetragenen und abgelegten Klamotten der bürgerlichen Volkswirtschaftslehre von der Müllkippe auf. Dass wir es keinesfalls mit einer nochmaligen Wiederkehr des exoterischen Marx zu tun haben, ist auch daran abzulesen, dass sich die Perspektive Bourdieus nicht mehr auf die Zukunft eines fieberhaft debattierten neuen kapitalistischen Entwicklungsschubs bezieht, der wie einst im Mai vermeintlich „antikapitalistisch“ zu besetzen wäre, sondern nur noch auf die entschwundene Vergangenheit des kapitalistischen Nachkriegsbooms, seiner sozialstaatlichen Regularien und seiner Expansion des öffentlichen Dienstes.