Die kategoriale Krise und die Tabuzone der Moderne

Warum sperrt sich das gesellschaftliche Bewusstsein quer durch das Spektrum der Ideen so sehr gegen den Gedanken, dass die neue Weltkrise des 21. Jahrhunderts womöglich eine kategoriale Krise des Kapitalismus sein könnte? Warum kommt der verdrängte und ins Philosophische oder in eine ferne, für jede praktische Kritik bedeutungslose Zukunft abgeschobene esoterische Marx so schwer zu seinem Recht? Dafür gibt es eine ganze Reihe von Gründen. Und alle haben sie etwas mit dem Tiefgang jener neuen Krise zu tun, die nicht mehr in den bislang gewohnten Handlungs- und Bewusstseinsformen zu bewältigen ist.

Weil der innere kapitalistische Entwicklungshorizont verschwunden ist, kann emanzipatorische Opposition nicht mehr in den Kategorien des modernen warenproduzierenden Systems formuliert werden. Das bedeutet aber auch, dass nicht mehr einfach ein leicht definierbarer äußerer Feind bekämpft werden kann (die „besitzende Klasse“, die „reaktionären Kräfte“, der „Imperialismus“ der alteingesessenen Mächte usw.), sondern auch die eigene (kapitalistisch konstituierte) Subjekt- und Handlungsform zur Disposition steht. Das ist nicht nur schwer zu begreifen, son- dern auch schwer zu ertragen.

Offenbar ist die historische Entwicklung in eine Tabuzone eingetreten. Nur an der Oberfläche war der Kapitalismus ein Prozess der Enttabuisierung. In dieser Gesellschaft ist am Ende ihrer Entwicklung (fast) alles erlaubt, vorausgesetzt allerdings, es kann geund verkauft werden. Die scheinbare universelle Beliebigkeit wird gleichzeitig aber begrenzt durch die völlig unbeliebigen, gewissermaßen dogmatischen, eindimensionalen und „alternativlosen“ Formen von Wert, Ware, Geld und Konkurrenz, denen die betriebswirtschaftliche Form und Substanz der „Arbeit“ zugrunde liegt. Diese Diktatur der gesellschaftlichen Form, die inzwischen sogar die Liebe, den Sport, die Religion, die Kunst usw. erfasst hat, duldet keine anderen Götter neben sich.

Da dieses Tabu aber nicht allein aus äußeren Geboten und Verboten besteht, sondern durch die moderne Bewusstseins- und Subjektform selber gesetzt, also tiefer verankert ist als alle früheren Tabuzusammenhänge, ist es auch umso schwerer zu durchbrechen. Wer etwa das System des Geldverdienens als solches in Frage stellt, kann damit rechnen, vom Alltagsverstand spontan als Fall für die Psychiatrie erklärt zu werden. Gerade auch den letzten übriggebliebenen Dinosauriern des exoterischen Marxismus, dessen Vertreter schon immer mit Angst und Abwehr auf die esoterischen Konsequenzen ihres Meisters reagiert hatten, erscheint ein solches Ansinnen als – „Esoterik“, was aus ihrer Sicht allerdings bloß Irrationalität, Scharlatanerie usw. heißen soll. Die Idee, dass der Kapitalismus selber die Produktivkräfte über die Grenzen der „Geld verdienenden“ Subjektivität des modernen Menschen hinausgetrieben haben könnte, kann nur auf völligen Unglauben stoßen.

Um der kategorischen Kritik des esoterischen Marx an der kapitalistischen Produktionsweise diskursiven Raum zu verschaffen, muss offenbar erst ein Vorfeld überwunden werden, eben jene Zone der Tabuisierung von Fragen, die man nicht stellt, und von Dingen, über die man nicht redet, sondern die man hat. Es geht also um die offene Thematisierung von bislang stummen Voraussetzungen, die nicht hinterfragbar waren. Das machte ja gerade die angebliche „Schwerverständlichkeit“ und „philosophische Abgehobenheit“ des esoterischen Marx aus, dass er als erster und einziger moderner Theoretiker das stumme Apriori des warenproduzierenden Systems „zur Sprache gebracht“ hat. Die Volkswirtschaftslehre dagegen und mit ihr alle anderen ausdifferenzierten Gesellschaftswissenschaften (die heute endgültig zu bloßen Hilfswissenschaften, um nicht zu sagen theoretischen Hilfspolizisten der Volkswirtschaftslehre degradiert sind) haben die kapitalistischen Kategorien von Arbeit, Wert, Ware, Geld, Markt, Staat, Politik usw. nicht als Gegenstand, sondern als blinde Voraussetzung ihres „wissenschaftlichen“ Räsonnements. Die Subjektform des Warentauschs, die Verwandlung von Arbeitskraft in Geld und von Geldkapital in Mehrwert (Profit), wird nicht nach ihrem „Was“ und „Warum“, sondern nur nach ihrem funktionalen „Wie“ befragt, ähnlich wie die Naturwissenschaftler nur das „Wie“ der sogenannten Naturgesetze untersuchen. Die erste Hürde einer kategorischen Kritik des Kapitalismus besteht also darin, diese Kategorien aus dem Status stummer Selbstverständlichkeit herauszulösen, sie explizit und damit überhaupt erst kritisierbar zu machen.