Postmoderne Mogelpackungen als letztes Wort der Moderne
Statt die Postulate des esoterischen Marx angesichts der Weltkrise endlich ernst zu nehmen und zu einer kritischen Reflexion auf höherer Ebene jenseits des erschöpften Modernisierungs-Paradigmas zu gelangen, versucht sich die abgerüstete Gesellschaftswissenschaft an dieser Aufgabe vorbeizumogeln. Nicht nur wird keine neue Ebene der Reflexion angestrebt, sondern die frühere immanente Reflexionsform der kapitalistischen Durchsetzungsgeschichte soll über ihr Verfallsdatum hinaus noch einmal verlängert werden. Der Soziologe Ulrich Beck hat dafür die Formel der „reflexiven Modernisierung“ erfunden. Aber diese inzwischen sehr beliebte und besinnungslos heruntergebetete Formel ist eine Leerformel und eine Mogelpackung, denn die hier postu- lierte Reflexivität bezieht sich gar nicht mehr auf eine noch um- kämpfte weitere Ausformung des Kapitalismus, sondern nur noch auf eine pure Phänomenologie: Die in ihrem kategorialen kapita- listischen Zusammenhang sogar mehr denn je blind vorausge- setzte Gesellschaft soll sich „reflexiv“ lediglich zu den einzelnen Erscheinungen und Folgen ihres irren und destruktiven Tuns verhalten.
Entsprechend kläglich sind die vorgeschlagenen Rezepte, von der „unentgeltlichen Bürgerarbeit“ bis zur „bürgernahen Verwaltung“ usw. Nicht eine neue Gesellschaftsform jenseits von Markt und Staat wird angestrebt, sondern die sogenannte „Zivilgesellschaft“, die in Wahrheit durch die kapitalistische Kolonialisierung der Lebenswelt längst weitgehend aufgefressen wurde, soll als Reparaturinstanz in den Poren und Nischen zwischen Markt und Staat die Krise bewältigen. Diese Perspektive ist ebenso hoffnungslos unrealistisch wie das Ansinnen, den untergehenden keynsianischen Sozialstaat wiederzubeleben. Im Grund genommen läuft sie bloß darauf hinaus, den Abbau der Sozialleistungen durch private Almosen und unkritische moralische Selbsttätigkeit kompensieren zu wollen.
Wie man es auch dreht und wendet: Es führt kein Weg an Marx vorbei, auch wenn das „Zurück zu Marx“ sich jetzt nur noch auf die bislang verdrängte radikale, kategorische Kritik am Fetischis- mus der Moderne beziehen kann. Und es trifft diesen esoteri- schen Marx auch nicht, wenn man ihn etwa eines schlechten Uto- pismus verdächtigen würde. Es ist gerade umgekehrt der exoteri- sche Modernisierungs-Marx, der die Utopisten gnädig in das Pan- theon seiner Vorläufer aufgenommen hat. Utopie kann in der Modernisierungsgeschichte immer gelesen werden als der Appell an das (ideologische) kapitalistische Ideal gegenüber der schlechten kapitalistischen Wirklichkeit. Die Utopie ist die Kinderkrankheit des Kapitalismus, nicht des Kommunismus.
Deshalb ist auch der esoterische Marx gänzlich un- und antiutopisch. Ihm geht es weder um das Paradies auf Erden noch um die Konstruktion eines neuen Menschen, sondern um die Überwindung der kapitalistischen Zumutungen an den Menschen, um ein Ende der kapitalistisch erzeugten Gesellschaftskatastrophen. Nicht mehr und nicht weniger. Dass dies nur durch ein Hinausgehen über alle bisherige Geschichte als eine Geschichte von Fetischverhältnissen möglich ist, liegt nicht in der Hybris der Kritik, sondern an der Hybris des Kapitalismus selbst. Auch nach dem Kapitalismus wird es Krankheit und Tod, Liebeskummer und Arschlöcher geben. Aber eben keine paradoxe, durch abstrakte Reichtumsproduktion erzeugte Massenarmut mehr, kein verselbstständigtes System von Fetischverhältnissen und dogmatischen gesellschaftlichen Formen mehr. Das Ziel ist groß, gerade weil es an der utopistischen Überschwänglichkeit gemessen relativ bescheiden ist und nichts verspricht als die Befreiung von völlig unnötigen Leiden.