Das fremde Wesen und die Organe des Hirns
Kritik und Krise der Arbeitsgesellschaft
Am wenigsten deutlich lässt sich der andere, der esoterische, der im kategorischen Sinne radikal kritische Marx wohl im Hinblick auf eine Kritik der Arbeit herauspräparieren. In diesem Punkt scheint Marx am meisten mit dem positivistischen Arbeiterbewegungsmarxismus kompatibel. Über weite Strecken kann seine Argumentation als Selbstverständlichkeit, als ewige Naturnotwendigkeit der Arbeit oder gar die Arbeit als überhistorisches Wesen des Menschen interpretiert werden. Marx kommt dabei der historischen Arbeiterbewegung entgegen, der die Arbeit als die menschliche Voraussetzung schlechthin erschien, die vom Kapital (der Kapitalistenklasse) bloß äußerlich und usurpatorisch überformt worden sei. Allerdings ist es kein Zufall, dass sich Marx nie zu einer derartigen Glorifizierung der Arbeit, der schwieligen Hände, des protestantischen Leistungsethos und des „Werteschaffens“ durch Arbeit hinreißen ließ, wie sie in Gewerkschaften, sozialdemokratischen und kommunistischen Arbeiterparteien mit einschlägiger Ikonographie und Symbolik üblich wurde. Denn unter der Hand verwandelt sich die Arbeit in vielen Marxschen Texten in etwas an sich Negatives. Die Kritik der kapitalistischen Arbeit wird so formuliert, dass es unglaubwürdig wirkt, denselben Begriff der Arbeit dann ausgerechnet als überhistorisches positives Menschsein gegen den Kapitalismus ins Feld führen zu wollen.
Das Problem liegt im abstrakten Charakter des Arbeitsbegriffs. Arbeit an sich, Arbeit überhaupt, Arbeit als abstrakte Verausgabung menschlicher Energie: diese Begrifflichkeit hat nur Sinn als Tätigkeitsform des modernen kapitalistischen Systems von Warenproduktion für anonyme Märkte. Und es handelt sich hier, wie Marx selber bereits bei der Analyse der Ware gezeigt hat, keineswegs bloß um eine Abstraktion im gedanklichen, sprachlichen Sinne, sondern um eine gesellschaftliche „Realabstraktion“: Das betriebswirtschaftliche Kalkül und die unter dem Bann dieser Logik der Geldverwertung produzierenden Menschen abstrahieren tatsächlich auch praktisch vom stofflich-sinnlichen Inhalt, vom menschlichen Sinn oder Unsinn, von den Folgen, die ihre rastlose Tätigkeit für die Gesellschaft und die natürlichen Lebensgrundlagen hat. Es geht nur um das selbstzweckhafte Immergleiche, dass sich menschliche Energie in Geld verwandelt und dass aus Geld mehr Geld wird. Die abstrakte, inhaltslose Gleichsetzung der verschiedensten (und eben auch destruktiven) realen Inhalte liegt in der Gleich-Gültigkeit des Geldes als Selbstzweck, der als Gleich-Gültigkeit der abstrakten Arbeit im Produktionsprozess des Kapitals wieder erscheint. Symbolisch und unfreiwillig deutlich hat ein Unternehmensberater diese abstrahierende Gleichgültigkeit mit der paradoxen Devise benannt: „Um Erfolg zu haben, musst Du an etwas glauben, an was, das ist wurscht.“
Indem Marx den abstrakt-gleichgültigen Charakter der kapitalistischen Produktion unter dem Begriff der „abstrakten Arbeit“ negativ gefasst hat, fällt er eigentlich auch schon das Urteil über den positiven Arbeitsbegriff überhaupt, denn die Abstraktion „Arbeit“ bedeutet letztlich nichts Anderes. Die Lohnarbeit der abhängig Beschäftigten fällt unter diesen Begriff der (abstrakten) Arbeit, der sich damit aber nicht erschöpft. Er umfasst auch die Tätigkeit der Kapitalisten und des Managements selber, erstreckt sich also auf alle Klassen und Gruppen der kapitalistischen Funktionshierarchie. Kapitaleigner im ursprünglichen Sinne ebenso wie bloße Manager oder „fungierende Kapitalisten“ sind je nicht untätig, sondern verausgaben ebenfalls menschliche Energie, die ebenso wie diejenige der Lohnarbeiter direkt oder indirekt auf die Warenproduktion des Verwertungsprozesses bezogen ist und daher auch den Charakter abstrakter Arbeit annimmt. Ebenso wie die Form der Konkurrenz bildet die Form der abstrakten Arbeit ein übergreifendes, gemeinsames Bezugssystem der kapitalistisch bestimmten Menschheit, ungeachtet aller Unterschiede der funktionellen Stellung, des Salärs und des persönlichen Geldreichtums oder der persönlichen Geldarmut.
Marx hat diese Identität immer wieder benannt, wenn auch in ihrer sozial gegensätzlichen Form. Und selbst wobei ihm dieser Gegensatz noch ganz in der Diktion des Arbeiterbewegungsmarxismus als der von Arbeit und „Nichtarbeit“ erscheint, kommt die innere Gemeinsamkeit in dieser Gegenüberstellung zum Ausdruck. Denn Marx will keineswegs die „Nichtarbeiter“ wieder in das ewige Universum der Arbeit hereinholen, sondern das Kapitalisten und Lohnarbeitern gemeinsame Bezugssystem des „automatischen Subjekts“ überwinden. Wenn die Form der abstrakten Arbeit ebenso wie die Form der Konkurrenz die sozial übergreifende Tätigkeitsform des Kapitalismus selbst ist, kann nicht mehr vom „Standpunkt der Arbeit“ aus eine vermeintliche Opposition gegen das Kapital konstituiert werden. Dieser Standpunkt erweist sich als Illusion, weil Arbeit und Kapital nur zwei verschiedene Aggregatzustände desselben irrationalen Fetisch-Verhältnisses sind: einmal in flüssiger Gestalt (Arbeit) und einmal in geronnener Gestalt (Geld). Arbeit ist Kapital, nämlich seine Substanz.
Gerade an diesem Punkt wird der „doppelte Marx“ besonders deutlich, denn hier erweist sich der Wert- und Fetischkritiker als völlig unvereinbar mit seinem Zwilling, dem Arbeiterbewegungs-Marx. Zusammen mit dem positiven, überhistorischen Arbeitsbegriff wird nämlich auch das Motiv des in der kapitalistischen Hülle geführten Klassenkampfs fragwürdig, denn jede Kritik muss sich dann, indem sie sich auf das gemeinsame, übergreifende Bezugssystem in seiner geronnenen Geldgestalt richtet, damit eben auch auf die Gemeinsamkeiten der abstrakten Arbeit beziehen. In den einschlägigen Passagen seiner Argumentation bezeichnet Marx die Repräsentanten des Kapitals nicht einfach nur als (gegnerische) „Charaktermasken“ des Geldes, sondern er degradiert sie auch zu bloßen Funktionären oder „Offizieren und Unteroffizieren“ des Kapitals, womit die Grenzen zur Lohnarbeit auch im soziologischen Sinne fließend werden.
Es mag sein, dass für die letzten Mohikaner des Arbeitsmarxismus die radikale Negation der Arbeit die unerträglichste aller Neuinterpretationen der Marxschen Theorie darstellt. Denn damit wird das identitäre Konstrukt des mit einem positiven, emphatischen Begriff der Arbeit verbundenen Marxismus in seinem innersten Kern getroffen, hatte sich die Arbeiterbewegung doch, obwohl selbst >nur< „Charaktermaske des variablen Kapitals“, inbrünstig mit dem lebendigen, flüssigen Aggregatzustand des Kapitals identifiziert, ohne dieser Lebenslüge jemals auf die Spur zu kommen. Deshalb mag die in irgendeiner Verfallsgestalt des Arbeits- oder Arbeiterbewegungsmarxismus befangen bleibende Linke beim Thema „Arbeit“ vielleicht besonders laut aufschreien und es als philologisches Sakrileg anprangern, wenn der vertraute größere Teil der Marxschen Textmasse zu diesem Begriff rücksichtslos weggeschnitten wird, um jene negatorischen Passagen freizulegen, die auf einen ganz fremden Marx verweisen, sobald sie abgetrennt werden vom Kontext des Arbeiterbewegungs-Jahrhunderts und für sich stehen.
Aber es ist unsere Wirklichkeit in der Frühdämmerung des 21. Jahrhunderts, die das bislang verborgene Moment der Arbeitskritik bei Marx so brennend aktuell macht, während der „Arbeitsfreund“ Marx nur noch von historischem Interesse ist. Denn alles, was Marx über den Charakter der abstrakten Arbeit als einer übergreifenden, gemeinsamen Form kapitalistischer Vergesellschaftung gesagt hat, ist über seine Formulierungen hinaus eingetroffen. Während in der Zweiten industriellen Revolution seit Henry Ford das Management jeden ständischen Charakter verlor und Fleisch vom Fleische der Arbeiterklasse wurde als Teil einer bloßen Funktionshierarchie, mutieren die flexibilisierten Lohnarbeiter heute im Zuge der Dritten industriellen Revolution zu Unternehmern ihrer Arbeitskraft. Die Manager der Weltkonzerne ebenso wie die Gründergeneration des Internet-Kapitalismus sind keine dickbäuchigen Nichtarbeiter mehr, sondern durchtrainierte und fanatisch arbeitssüchtige Funktionsroboter „ihres“ Kapitals. Umgekehrt kalkulieren die Lohnarbeiter der Kernbelegschaften ebenso wie die zwangsflexibilisierten Opfer des „Outsourcing“ und das breite Spektrum der Elendsunternehmer mit ihrem nackten Humankapital wie mit einem Fabrikinventar: „Ich“ ist eine Betriebswirtschaft. Als Ende der 90er Jahre deutsche Stahlarbeiter mit der Parole „Wir sind das Kapital“ durch das Frankfurter Bankenviertel zogen, ratifizierten sie damit das negative Ende des Klassenkampfs zwischen Arbeit und Kapital. Diese Ebene der Konkurrenz zwischen den verschiedenen Funktionskategorien des Kapitals tritt zurück hinter die Konkurrenz zwischen den Unternehmen und Staaten (Standort-Debatte) und zwischen den atomisierten Individuen (auch innerhalb der Lohnarbeit).
Mögen diese Individuen heute auch scheinbar völlig in ihren kapitalistischen Funktionen aufgehen, wie ein wildes Tier in seiner natürlichen Umwelt aufgeht, so können sie doch in Wahrheit nicht jene tiefe Entfremdung des Menschen von sich selbst verleugnen, wie sie Marx als Wesensmerkmal der abstrakten Arbeit analysiert hat. Diese Entfremdung geht eben nicht in der äußeren Geldarmut der vielen Erniedrigten und Beleidigten im Kapitalismus auf und selbst nicht in der physischen Verelendung. Das ökonomische Bewusstsein der postmodernen Generationen trägt gerade in den Spitzen der Entwicklung, etwa in den Software-Klitschen der „neuen Märkte“, Züge einer funktionalistischen Selbstreduktion, wie man sie noch vor wenigen Jahrzehnten nicht für möglich gehalten hätte. Das Leiden an dieser paranoiden ökonomischen Selbstverbrennung und am Infantilismus der meisten ihrer Produkte steht den „Computersklaven“ ins Gesicht geschrieben, auch wenn sie es nicht wahrhaben wollen.
Aber seinen eigentlichen theoretischen Triumph feiert der verborgene „andere“ Marx mit seiner Prognose einer objektiven inneren Schranke der auf abstrakter Arbeit beruhenden gesellschaftlichen Form. Was nach dem Zweiten Weltkrieg als vage Ahnung einer kommenden „Krise der Arbeitsgesellschaft“ (Hannah Arendt) aufschien, ist nicht nur heute handgreifliche Wirklichkeit, sondern längst schon von Marx vorausgesehen und begrifflich analysiert worden. Diese vielleicht erstaunlichste Leistung der Marxschen Theorie ergibt sich aus der logischen Deduktion des inneren Selbstwiderspruchs, der die kapitalistische Produktionsweise kennzeichnet: nämlich einerseits die Verausgabung menschlicher Energie als Selbstzweck zu setzen und andererseits durch die Vermittlung der anonymen Konkurrenz auf wachsender Stufenleiter Arbeit im Produktionsprozess des Kapitals vermittels Anwendung der Wissenschaft überflüssig zu machen. Dieser Widerspruch ist die tiefste Grundlage der kapitalistischen Krisen und daher die Voraussetzung der Marxschen Krisentheorie. Und das ist auch der Kontext, in dem bei Marx explizit das ominöse Wort vom „Zusammenbruch“ fällt: Die periodischen Strukturbrüche, in denen das nach „Arbeitssubstanz“ gierende Kapital ungesättigt bleiben muss, weil es aufgrund seiner eigenen Bedingungen nicht mehr zur rentablen Konsumtion ausreichender Arbeitsmengen in der Lage ist, münden in eine ausweglose Situation.
Alle Indizien deuten darauf hin, dass diese von Marx deduzierte Situation mit der mikroelektronischen Revolution in Sichtweite rückt. Erstmals wird auf dieser Entwicklungsstufe der „Produktivkraft Wissenschaft“ dauerhaft mehr Arbeit überflüssig gemacht, als durch die Verbilligung der Produkte und die damit verbundene Erweiterung der Warenmärkte rentabel reabsorbiert werden kann. Das geschieht, empirisch nachweisbar, bereits seit ca. 40 Jahren. Wir befinden uns sozusagen schon in der „Nachspielzeit“ des Kapitalismus. Was wir erleben, sind die Erscheinungsformen seines Zerfallsprozesses.
Die Selbstunternehmer der Wissensgesellschaft mögen sich so hyperflexibel drehen und wenden, wie sie wollen – der kapitalistischen Ausweglosigkeit einer permanent schwindenden Arbeitssubstanz werden sie nicht entkommen. Bei Marx können sie nicht nur etwas über die Sinnlosigkeit und Gemeingefährlichkeit ihres arbeitswütigen Tuns und Treibens erfahren, sondern auch über dessen definitives Ende. Die realisierte Wissensgesellschaft kann keine kapitalistische mehr sein, weil sie nicht mehr auf der Quantifizierung abstrakter gesellschaftlicher Arbeitsmengen beruht. Die Grenze der Arbeitsgesellschaft ist identisch mit der Grenze des Kapitalismus. Die entfremdete Arbeit zerstört sich selbst.
Hierzu findest Du den esoterischen Marx in folgenden seiner Schriften:
Die entfremdete Arbeit. In: Ökonomisch-philosophische Manuskripte, 1844;
Die heilige Familie oder Kritik der kritischen Kritik. Zusammen mit Friedrich Engels, 1845;
Theorien über den Mehrwert, geschrieben 1861-1863;
Über Friedrich Lists Buch „Das nationale System der politischen Ökonomie“, 1845
Das Pech, produktiver Arbeiter zu sein. In: Das Elend der Philosophie, Antwort auf Proudhon „Philosophie des Elends“, 1847;
Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie, Erster Band. Nach der vierten Auflage, 1890
Das Kapital als beseeltes Ungeheuer der Arbeit. In: Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, Rohentwurf, 1857-1858
Die Offiziere und Unteroffiziere des Kapitals. In: Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie, Erster Band. Nach der vierten Auflage, 1890; ebd. Nach der ersten Auflage, Hamburg 1894;
Theorien über den Mehrwert, geschrieben 1861-1863
Die Zerstörung der Erde durch Arbeit. In: ebd. Nach der vierten Auflage, 1890
Die Macht der wissenschaftlichen Agentien und der Zusammenbruch des Tauschwerts. In: Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, Rohentwurf. 1857-1858