Die wahre Schranke der kapitalistischen Produktion ist das Kapital selbst:

Mechanik und historische Tendenz der Krisen

Kaum etwas an Marx ist so aktuell und taufrisch wie seine Krisentheorie, und kaum etwas liegt den akademischen Wirtschafts- und Gesellschaftswissenschaften ebenso wie den übriggebliebe- nen Marxisten ferner, als diese Marxsche Krisentheorie aufzugrei- fen oder sogar zuzuspitzen. Das hat natürlich seine Gründe. In der akademischen Welt gilt Marx heute als der große Verlierer, und man kann mit ihm nicht mehr graduieren und wissenschaftlich reüssieren wie noch in den 70er Jahren, als die damaligen neuen sozialen Bewegungen eine Art kurzlebige und oberflächliche Marx-Mode in den Wissenschaftsbetrieb hineingetragen hatten. Umgekehrt ist Marx aber auch als Gegenstand der Kritik aus der Mode gekommen. Im Vollgefühl des vermeintlich endgültigen Sieges des Kapitalismus gilt die Marxsche Theorie im allgemeinen und seine Krisentheorie im Besonderen als nicht mehr satisfaktionsfähig, obwohl sich die akademischen Apologeten und Claqueure des Kapitalismus damit selber überflüssig und arbeitslos zu machen drohen; denn wo wäre jenseits von Marx noch ein Gegner, an dem sie ihre Kräfte messen und ihre Existenzberechtigung unter Beweis stellen könnten?

Andererseits verzichten sie mit ihrer hochmütigen Siegerarroganz unbewusst auf eine nicht unerhebliche Marktchance. Nichts fände das vom marktwirtschaftlichen Weltkonsens zu Tode gelangweilte Publikum schärfer, als auf die Geisterbahn eines großen Krisenromans gesetzt zu werden, abermals in wohligem Schauer geschreckt vom klapprigen Marx-Gespenst, um sich dann natürlich im unvermeidlichen Happy-End dem glorreich aus der Krise erstehenden Kapitalismus an die zum wer weiß wievielten Male gestärkte Brust werfen zu dürfen.

Das Fähnlein der letzten aufrechten Arbeiterbewegungsmarxisten andererseits zeigt erst recht geringe Neigung, ausgerechnet mit der reformulierten Marxschen Krisentheorie wieder die Offensive zu gewinnen, denn entgegen anderslautenden Gerüchten hat gerade die Krisentheorie nie eine endscheidende Rolle in der Marx-Rezeption der alten Arbeiterbewegung gespielt. In der Tat bildet die Krise aus der Perspektive des exoterischen Marx nur ein Epiphänomen, einen äußeren Faktor im Klassenkampf, wenn sie – wie es zuweilen in marxistischen Traktaten erschien – nicht gar dessen bloße Funktion ist: Krise im strengen Sinn wäre dann letztlich durch die Aktion der Klasse bestimmt, nicht objektiv, sondern subjektiv durch die bloßen Willensverhältnisse. Krise würde dann nur bedeuten: Der Kapitalismus kann nicht mehr, wie er will, weil die Lohnarbeiter nicht mehr wollen, wie sie sollen.

Hier zeigt sich wieder generell die Beschränkung des Marxismus im modernen bürgerlichen Denken; je mehr die Kategorien des Kapitalismus in ihrer gesellschaftlichen Objektivierung zur „stummen Voraussetzung“ erstarren, desto schriller muss die Beschwörung der gerade von dieser stummen Objektivität bestimmten und durchdrungenen Subjekte werden, als ob sie doch (und ent- gegen ihrer eigenen Verfasstheit) Herren des Handelns sein könn- ten, in welcher Form auch immer.

Da der Argumentationsstrang des exoterischen Marx in letzter Instanz nur der Legitimation eines Kampfes der Arbeiterbewegung um Anerkennung im Kapitalismus diente, ist es leicht einsichtig, dass dieser Marxismus im Grunde eine „starke“ und objektive Krisentheorie überhaupt nicht brauchen konnte, ja sie im Gegenteil scheuen musste, intendiert doch der Begriff einer Objektivität der Krise das Obsoletwerden gerade der kategorialen gesellschaftlichen Formen, in denen man sich auf unabsehbare Zeit selber weiterzubewegen gedenkt, und damit auch das umso schlimmere Obsoletwerden der eigenen Subjektform. So ist es weder ein Wunder noch als Verrat zu bezeichnen, dass die westliche Sozialdemokratie schon unter der Fahne ihrer marxistischen Legitimation zum „Arzt am Krankenbett des Kapitalismus“ mutierte, also die Objektivität der Krise nicht nur ideologisch, sondern auch praktisch abzuwehren und zu bannen suchte.

Die Regimes nachholender Modernisierung an der kapitalistischen Peripherie hatten dagegen ein Interesse, die Krise des Kapitalismus zu betonen. Aber weil dieses Interesse lediglich der Legitimation der historischen Nachzügler diente, musste diese Betonung der Krise einen besonders subjektiven Zug annehmen (im Sinne einer strategischen Ausrichtung des Weltmarxismus auf die eigenen Erfordernisse), während die Objektivität des Krisenprozesses als innerer Mechanismus des Kapitals selbst ebenso abgewehrt und ausgeblendet wurde wie im westlichen Marxismus. Krise durfte so im Wesentlichen nur die legitimatorische, moralische, kulturelle usw., vor allem aber politische Krise des Kapitalismus sein, bewerkstelligt durch die Aktion und Allianz von westlicher Arbeiterbewegung und östlicher bzw. südlicher Entwicklungsregimes.

So leuchtet es ein, dass die eigentliche Marxsche Krisentheorie viel mehr dem esoterischen als dem exoterischen Marx angehört. Das wird besonders deutlich, wenn man begreift, dass die Grundlage und Voraussetzung der Marxschen Krisentheorie jene Argumentation ist, die das Verschwinden der Arbeit selber darstellt. Gerade in diesem Punkt aber stehen sich wie bereits gezeigt der esoterische und der exoterische Marx besonders schroff gegenüber. Während die „Arbeit“ für den letzteren eine überhistorische, anthropologisch-ontologische Naturnotwendigkeit bildet, macht sie für den ersteren die spezifisch kapitalistische, abstraktifizierte Tätigkeitsform aus – und zugleich die „Substanz“ des Kapitals.

Krise aber ist nichts anderes als der objektivierte Substanzverlust des Kapitals durch seinen eigenen inneren Mechanismus: die Arbeit läuft aus wie Sand aus einem Loch im Sack oder Wasser aus einem Leck im Tank: Das Kapital wird leer und schlaff, sein von Arbeit genährtes Leben kommt zum Stillstand. Wenn der eine Aggregatzustand des automatischen Subjekts versiegt, nämlich die Arbeit, muss auch der andere erlahmen, nämlich das Geld – es wird substanzlos und damit „ungültig“ und selber obsolet. Das Verhältnis oder die allgemeine gesellschaftliche Verkehrsform der dreifachen Vermittlung durch abstrakte Arbeit, Geldeinkommen und Warenkonsum kommt zum Stillstand. Die ganze auf diesen Fetischbeziehungen beruhende, scheinbar selbstverständliche Lebensweise wird zerrüttet und praktisch unmöglich. Und es tritt die Absurdität an den Tag, dass alle Mittel und Fähigkeiten einer reichen Reproduktion im Übermaß vorhanden sind, die Menschen aber von der „unsichtbaren Hand“ des Kapitals gelähmt werden und ihre eigenen Möglichkeiten nicht mehr ins Werk setzen können, weil sie dem irrationalen Selbstzweck des automatischen Subjekts nicht mehr entsprechen. Dieser unheimliche Stillstand aller Räder nicht durch den „starken Arm“ der Arbeiterklasse, sondern gewissermaßen durch den Kolbenfresser der Kapitalmaschine selbst führt einen gesellschaftlichen Zustand herbei, der dem Fluch des Tantalus gleicht: Aller Reichtum der Welt ist greifbar, aber dieser Reichtum weicht unter dem Bann des kapitalistischen Fetischs vor den hungernden und dürstenden Menschen zurück.

Hatte Marx diesen logischen Endpunkt der Krise im Kontext seiner Kritik der Arbeit klar und unmissverständlich dargestellt, so entwickelt er in seiner eigentlichen Krisentheorie den selbstwidersprüchlichen inneren Mechanismus des Kapitals, indem er den zunächst bloß allgemein formulierten Widerspruch in seinem konkreten Wirken zeigt. Ausgehend von den Begriffen des sogenannten absoluten und relativen Mehrwerts baut er gewissermaßen Schritt für Schritt die Logik und Mechanik der kapitalistischen Krise auf: wie aus der Veränderung der organischen Zusammensetzung des Kapitals, bewirkt durch den Modus der Konkurrenz, der (relative) Fall der Profitrate und schließlich, zumindest als abstrakte Möglichkeit, der (absolute) Fall der Profitmasse hervorgeht und damit die kapitalistische Reproduktion und Akkumulation zum absoluten Stillstand kommen könnte.

Während Marx dieses absolute Endstadium, die absolute innere Schranke der kapitalistischen Produktionsweise, in seiner früheren Formulierung einer Kritik der Arbeit deutlich benennt, lässt er dieses Problem bei der späteren Analyse des Krisenmechanismus eher offen. Der periodische Charakter der Krisen konnte diese in der Tat als schwere Hypothek des Kapitalismus, aber doch gleichzeitig als bloß zeitweilige Unterbrechung der Akkumulation und somit als bloß relative innere Schranke des Kapitals erscheinen lassen. Weit über die Lebzeiten von Marx hinaus erwiesen sich die Krisen gewissermaßen als „Durchsetzungskrisen“ des Kapitalismus auf seinem noch weitergehenden Entwicklungspfad. Und damit als zwar mehr oder minder verheerende Rezessionen, Strukturbrüche und gewaltsame ökonomische Eruptionen, aber noch nicht als absolute innere Schranke.

Dennoch lässt Marx auch bei seiner Darstellung des Krisenmechanismus keinen Zweifel daran, dass sich die Krise nicht linear, sondern progressiv entwickelt, eine ansteigende historische Tendenz aufweist. Es verhält sich also nicht etwa so, dass die Krise nur ein Modus ist, einen früheren Zustand wieder herzustellen, damit die Akkumulation von neuem auf demselben Niveau beginnen kann. Wie Kapitalismus überhaupt kein bloßer Zustand, keine bloße Struktur ist, sondern ein dynamischer historischer Prozess auf stets wachsender Stufenleiter, so mit logischer Notwendigkeit auch seine Krise. Wenn der letzte Grund der Krise darin besteht, dass die durch Konkurrenz erzwungene Entwicklung der Produktivkräfte Arbeit überflüssig macht und damit die Substanz des Kapitals wegätzt, ist auch klar, dass das beständig erhöhte Niveau der Produktivkräfte auch die Krise in immer größeren Dimensionen herbeiführt. Und dann ist auch denkbar, dass das Kapital eine absolute innere Schranke erreicht, ein Niveau der Entwicklung, auf dem nicht mehr genügend menschliche Arbeitskraft neu reabsorbiert werden kann, um den Selbstzweck der Kapitalakkumulation wieder in Schwung zu bringen. Das Kapital hat zwar den immanenten Trieb, möglichst alle Arbeitskraft der Welt für diesen Zweck zu verbrennen, aber es kann dies objektiv nur auf dem von ihm selbst gesetzten Niveau der Produktivität. In der Krise entspricht der Tantalusqual der Menschen, die ihre eigenen materiellen und technischen Ressourcen nicht mehr in Bewegung setzen können, die Tantalusqual des „automatischen Subjekts“, das sich die massenhaft brachliegende menschliche Arbeitskraft nicht mehr einverleiben kann.

Wenn bei der Darstellung des inneren, objektiven Krisenmechanismus die Frage der absoluten Schranke des Kapitals zwar angedeutet wird, aber offenbleibt, so ist dies nicht zuletzt darauf zurückzuführen, dass sich der esoterische und der exoterische Marx wieder einmal ins Gehege kommen. Die Marxsche Aussage, dass „die wahre Schranke des Kapitals das Kapital selbst“ sei, musste dem Arbeiterbewegungsmarxismus ebenso Anathema und Unbegriff sein wie das automatische Subjekt. Und zwar vor allem deswegen, weil damit die Arbeiterklasse als der vermeintlich objektiv-subjektive Hebel der Umwälzung in Frage gestellt wird. Konnte die alte Arbeiterbewegung zusammen mit dem exoterischen Marx noch jubeln: „Wir werden immer mehr“, so hätte sie sich vom esoterischen Marx anhören müssen: „Ihr werdet immer weniger“.

Marx hat diese Widersprüche selber nicht mehr entwirren können. Aber seine Entfaltung der Krisentheorie führt ebenso unmissverständlich wie seine Kritik des Kapitalismus als „Arbeitsgesellschaft“ zu einem Denkmuster jenseits des immanenten Modernisierungs-Marxismus. Es ist ja nicht so, dass die strikte Objektivität der Krise so etwas wie einen objektiven Automatismus der sozialen Emanzipation beinhalten würde. Die Krise macht den Kapitalismus obsolet, aber sie führt keine andere Gesellschaftsordnung herbei. Das müssen die Menschen schon selber tun. Dem Marxismus schmeckte die radikale Krisentheorie des esoterischen Marx gerade deswegen nicht, weil er zusammen mit dem subjektiven Akteur Arbeiterklasse auf dem Boden der kapitalistischen Objektivität und damit der Formen eines warenproduzierenden Systems verharren wollte. Die ihrerseits objektive Krise dieser negativen, „falschen“ Objektivität legt nicht etwa eine Haltung ruhiger Heilserwartung nahe (wie es aus der Sicht des Arbeitsmarxismus scheinen könnte), sondern im Gegenteil eine viel grundsätzlichere Kritik und negatorische Aktivität, die sich überdies nicht mehr auf die kapitalistische Tätigkeitsform Arbeit als womöglich noch einzuklagendes Menschenrecht berufen kann. Mit anderen Worten: Je mehr die Krise als absolute innere Schranke des Kapitals ins Blickfeld rückt, desto mehr wird die Kritik des Kapitalismus zu einer kategorialen Frage und hört gerade deswegen auf, eine bloße Klassenfrage zu sein, sondern wird zu einer Frage, die sich unausweichlich von jedem sozialen Standort aus stellt.

Insofern könnte, wenn man den Umkehrschluss wagt, das „Ende des Klassenkampfs“ ganz im Gegensatz zu den landläufigen Auffassungen gerade nicht auf den Endsieg und die Verewigung des Kapitalismus, sondern auf die Kulmination seiner objektiven Krise verweisen. Vielleicht befinden wir uns mitten im Auge des Taifuns, und die marktwirtschaftlich-demokratischen Apologeten sind närrisch, wenn sie sich zur sozialen Ruhe beglückwünschen. Nach dem Ende der auf ihren alten, immanenten Paradigmen sitzengebliebenen Kapitalismuskritik wirkt die gegenwärtige Weltlage wie eine grausam ironische Illustration zu jener Marxschen Sentenz, dass die wahre Schranke des Kapitals das Kapital selbst sei. Der westliche Kapitalismus konnte die morschen Gesellschaften der gescheiterten nachholenden Modernisierung besiegen, aber er kann nicht seine eigene innere Logik besiegen. Er kann sich an alles anpassen, nur nicht an sich selbst. Die Paradoxie dieses Verhältnisses drückt sich auch darin aus, dass die Evidenz der Krisenerscheinungen im Weltmaßstab immer härter durchschlägt, je mehr die Kritik im Weltmaßstab verstummt. Welcher Hohn: Nachdem ein Jahrhundert der schrecklichsten immanenten Kämpfe endlich dazu geführt hat, dass die Menschheit nichts mehr lieber will, als sich schrankenlos vom Kapital ausbeuten zu lassen, ist dieser säkularisierte Gott in seiner Ausbeutungspotenz impotent geworden.

Es muss merkwürdig berühren, dass selbst die Erkenntnis oder auch nur Ahnung dieser Tatsache gegenwärtig den Glauben an das Kapital und an die Selbstverewigungsfähigkeit des Kapitalismus kaum zu beeinträchtigen scheint, allein deswegen, weil ihm jede äußere Gegnerschaft abhandengekommen ist.

Sicherlich bedarf es der genaueren Überprüfung, ob die Dritte industrielle Revolution der Mikroelektronik wirklich an die absolute innere Schranke des Kapitals geführt hat. Aber genau diese Überprüfung wird verweigert, vom akademischen Wissenschaftsbetrieb ebenso wie vom kläglichen Rest der politischen Linken. Weniger analysiert wird die Krise als verdrängt und verleugnet. Die Paradoxie setzt sich darin fort, dass die ökonomische Theorie umso rascher verfällt, je klarer die Krise der ökonomischen Kategorien hervortritt. Je mehr die Welt ökonomisiert wird, desto krisenhafter wird sie, und je krisenhafter sie wird, desto ökonomischer wird das Bewusstsein, aber in einer völlig untheoretischen und unkritischen Form. In den längst versunkenen Zeiten der Prosperität hatte die Kritik der politischen Ökonomie Konjunktur, in der heraufdämmernden Krise des 21. Jahrhunderts ist die Kritik der politischen Ökonomie erloschen. Linke wie Rechte, Liberale wie Konservative haben sich in den postmodernen Kulturalismus geflüchtet. Die Krise ist da, und alle reden vom Wetter.

Es wird also höchste Zeit, sich gegen den Strom eines oberflächlichen Kulturalismus, der schon in Hysterie überzugehen scheint, erneut einer theoretischen Kultur der Kritik der politischen Ökonomie zu bemächtigen. Es bedarf keiner prophetischen Gabe, um vorauszusehen, dass die Marxsche Krisentheorie im Zentrum einer unausweichlichen Reformulierung dieser Kritik stehen wird, ebenso wenig wie es prophetische Fähigkeiten für die Voraussage bedarf, dass die Realität der kapitalistischen Krise das soeben begonnene Jahrhundert begleiten und prägen wird.

Lese hierzu den esoterischen Marx in seinen hier genannten Schriften: