Jagd über die ganze Erdkugel, die Konkurrenz rast:
Globalisierung und Fusionitis des Kapitals
Sogar den beflissenen Befürwortern der Globalisierung, wie sie seit dem Ende des 20. Jahrhunderts die öffentliche Debatte beherrscht, ist mit einer gewissen widerwilligen Bewunderung aufgefallen, dass kein anderer als Karl Marx diesen Prozess bereits vor 160 Jahren beschrieben hat, teilweise mit Formulierungen, die ganz unerkannt in der Wochenendbeilage einer großen Tageszeitung des Jahres 2000 standen und als aktueller Beitrag durchgehen konnten. Nicht gerade messerscharf haben sowohl die notorischen Apologeten jedweder kapitalistischen Entwicklung als auch die Reste der (in gewisser Weise geradezu konservativ gewordenen, weil inzwischen auf die kapitalistische Vergangenheit fixierten) marxistischen Linken daraus geschlossen, dass die Globalisierung und alle damit zusammenhängenden Erscheinungen eigentlich gar nichts Neues seien, schon gar nicht eine neue Qualität der kapitalistischen Dynamik. Gemeint ist damit natürlich: nichts Beunruhigendes, nichts, worüber man sich Sorgen machen müsste ob seiner Krisenpotenz, sondern nur der ewig gleiche, gute, alte Kapitalismus. Also Entwarnung – für die einen im Sinne ihrer hoffnungsfrohen Erwartung eines neuen globalen Wirtschaftswunders, für die anderen im Sinne eines sturen Weitermachens in den Begriffen der alten Kapitalismuskritik, also in den Kategorien des Kapitals selbst. Nichts Neues unter der Sonne, also auch nichts Neues zu lernen und zu analysieren.
Damit tun die Leugner einer neuen empirischen Qualität der heutigen Globalisierung Marx aber bitter unrecht. Denn verhielte es sich so, wie sie meinen, hätte Marx also bloß etwas beschrieben, was sich unter seinen Augen wie denen seiner Zeitgenossen real nicht anders als heute abspielte, dann hätte es schon vor 160 Jahren eine Globalisierungsdebatte geben müssen, und die Position von Marx wäre keine besondere, sondern bloß eine Stimme unter vielen gewesen. In Wirklichkeit ist das natürlich keineswegs der Fall. Waren Weltbürgertum und abstrakter Universalismus im 18. und frühen 19. Jahrhundert vorerst nur bloße Ideen oder Ideale gewesen, so betraten zur Zeit der Marxschen Theoriebildung faktisch bereits Nationalismus, forcierte Schutzzollpolitik und nationalökonomische Formierung die Bühne der kapitalistischen Weltgeschichte und drängten die Universalisierungstendenz des Kapitals zunächst einmal eher zurück.
Was also die heutige Aktualität der Marxschen Aussagen zur Logik des Weltmarkts und seiner Entfesselung ausmacht, ist nicht ihr unmittelbar empirischer Gehalt für die Verhältnisse des 19. Jahrhunderts und den damaligen kapitalistischen Entwicklungsstand, sondern vielmehr ihre unerhörte prognostische Kraft. Die optische Täuschung für den heutigen Leser rührt vielleicht daher, dass der Prognostiker (wie oft in solchen Fällen) so formuliert, als ob er eine bereits vollzogene und verallgemeinerte Entwicklung beschriebe, während er in Wirklichkeit anhand einiger weniger, erst embryonal entwickelter Tatsachen und Parameter im geistigen „Adlerflug“ auf einen bereits vollendeten Prozess schließt. Wenn etwa bei Marx von „unendlich erleichterten Kommunikationen“ die Rede ist in einer Welt ohne Flugzeuge, ohne Fernsehen und ohne Mikroelektronik, mit einer vergleichsweise noch primitiven und räumlich beschränkten Telekommunikation, dann darf man diese Begrifflichkeit natürlich nicht so werten, als würde ihr ein qualitativer Zustand der heutigen Welt entsprechen, bloß weil sie für diese überraschend vertraut klingt.
Marx hat also nicht einfach nur die empirischen Verhältnisse seiner Zeit beschrieben, sondern aus seiner Analyse des kapitalistischen Verwertungsprozesses als solchen eine immanente Tendenz des Kapitals zur Globalisierung herausgearbeitet; und zwar teilweise geradezu im Gegensatz zur empirisch vorherrschenden Entwicklungstendenz seiner Zeit.
Garade deshalb ist Marx aber im Gegensatz zu manch überschwänglichen publizistischen Chancen-Rittern der heutigen tatsächlichen Globalisierung des Kapitals kein bloßer Rechtfertigungsliterat dessen, was ohnehin geschieht. Zwar geht, zumindest in den einschlägigen, berühmten Passagen des „Kommunistischen Manifests“, gewissermaßen der exoterische Marx mit dem esoterischen Intellekt durch, wenn er die Heldentaten der Bourgeoisie beim „Niederreißen“ aller patriarchalen, idyllischen Verhältnisse usw. bewundert oder gar das „Hineinreißen der Barbaren in die Zivilisation“, auch wenn diese dann schon im übernächsten Satz bloß noch „die sogenannte Zivilisation“ heißt. Hier finden wir wieder die Spuren der von Aufklärungsphilosophie und Liberalismus übernommenen Geschichtsmythologie eines linearen und „gesetzmäßig“ determinierten Fortschritts, und man sieht Marx als „Menschen in seinem Widerspruch“, wenn man seine zornbebenden Ausführungen über denselben historischen Prozess im Kapital über die „ursprüngliche Akkumulation“ liest.
Aber ungeachtet dieser Widersprüche sieht Marx die universalisierende Tendenz des Kapitals, ob er den vergangenen realen bzw. den prognostizierten zukünftigen Prozess nun bewundert oder bespeit, immer eng verbunden mit der immanenten Selbstzerstörungstendenz der kapitalistischen Produktionsweise. In diesem Sinne ist für Marx (und hier berühren sich der exoterische und der esoterische Pol seiner Theorie gewissermaßen funkensprühend) der Kapitalismus überhaupt nur eine negative, transitorische Form, eine Art Explosion der bisherigen Geschichte. Universalisierung und Globalisierung brechen sich dabei doppelt am schreienden kapitalistischen Selbstwiderspruch: einmal, weil die nationale Bornierung nichts wesentlich Vorkapitalistisches, sondern im Gegenteil selber ein Wesensmerkmal der modernen Gesellschaft ist im Widerspruch zu deren universalisierender Tendenz, aus der sie mörderisch immer wieder hervorbricht, zum anderen, weil die Triebkraft der Globalisierung ihrerseits eine bornierte und negative ist: kein bewusster und freiwilliger Zusammenschluss der Menschheit, sondern eine blinde Flucht des beschränkten betriebswirtschaftlichen Kalküls aus den zu klein werdenden Binnenmärkten – letztlich eine Flucht des Kapitals vor sich selbst hinaus in die Welt, wo es immer nur wieder sich selbst findet.
Bei näherem Hinsehen zeigt sich also, dass die universalisierende und globalisierende Dynamik nur die Konsequenz des dieser Produktionsweise immanenten Krisencharakters ist, der in Form einer zunächst latenten oder nur kurzzeitig und zyklisch aufflackernden, schließlich aber manifesten und (erst heute!) strukturell werdenden Weltkrise des Kapitals zum Vorschein kommt. Strukturelle Krise und Globalisierung sind also ein und dasselbe, nur unter verschiedenen Aspekten betrachtet. Was Marx noch an lediglich punktuellen Situationen oder Teilprozessen (etwa den Zusammenhang der Arbeitslosigkeit Londoner und indischer Weber mit Freihandel und Kapitalkonzentration) empirisch vorfand und mit seiner prognostischen Sicht der kapitalistischen Universalisierungstendenz kurzschloss, ist erst heute tatsächlich zu einem unmittelbaren, universellen, ausnahmslos alle Regionen und Produktionszweige erfassenden Weltverhältnis geworden und bringt seine negativen Wirkungen nicht mehr partiell und punktuell als indirekte hervor, sondern flächendeckend und weltumspannend als direkte. Vollendeter kapitalistischer Universalismus ist die vollendete Universalität der Katastrophe, heute ablesbar auf allen Lebensgebieten. Die Marxschen Aussagen zur Globalisierung sind nicht als separate Argumentationen zur geschichtlichen Tendenz des Kapitals zu lesen, als Hinweis auf dessen bloß räumliche Expansion, sondern vielmehr als Erläuterungen seiner Krisentheorie. Denn die Krise aufgrund des inneren Selbstwiderspruchs bildet die alle besonderen Tendenzen und strukturellen Entwicklungen übergreifende geschichtliche Grundtendenz der kapitalistischen Produktionsweise.
Wie sie eine Folgeerscheinung der immanenten Krisentendenz ist, so ist die Globalisierung gleichzeitig eine Funktion der allseitigen Konkurrenz. War der Weltmarkt, wie Marx sagt, einerseits immer schon eine Voraussetzung des Kapitalismus und seiner Konkurrenzverhältnisse, so wurde er doch andererseits durch die Herausbildung der Nationalökonomien und Nationalstaaten zunächst in seiner Wirkung begrenzt und insofern die Konkurrenz bis zu einem gewissen Grad domestiziert. Gepeitscht von der Krisentendenz muss die Konkurrenz aber diese Schranken durchbrechen; ihre Dynamik ist es ja, von der die Dynamik der Globalisierung getragen wird. Was für Marx als „Logik“ des Kapitalismus sich darstellt, wird erst unter unseren Augen empirische Realität: Indem sich die Konkurrenz durch die nationalstaatlichen Grenzen hindurchfrisst und die nationalökonomische Kohärenz auflöst, um das unmittelbare Weltkapital herzustellen, wird sie selber auch zur ungefilterten unmittelbaren Weltkonkurrenz. Indem dieser Prozess vermittelt ist durch die Transformation der partiellen Krisen zur totalen Weltkrise, handelt es sich um eine totale Weltkrisenkonkurrenz – schon daran ablesbar, dass die erbitterte und ausufernde „Standortdebatte“ immer deutlicher mit militärischen Metaphern und in den Vorstellungen eines Überlebenskampfes geführt wird. Dieselben Schönwetterpolitiker und Entertainer der Management-Philosophie, die hinsichtlich der Globalisierung in einer Rhetorik des Optimismus und der Chancen schwelgen, strafen sich mit unbewusster Ehrlichkeit selber Lügen, wenn sie die anzustrebende Verwirklichung dieser „Chancen“ in Begriffen eines Weltkriegs darstellen und damit statt eines zukunftsfreudigen Optimismus das gesellschaftliche Angstpotential wecken.
Die blinden „Naturgesetze“ des „Kapitals im allgemeinen“, lange Zeit darstellbar auf der Ebene des nationalökonomischen Zusammenhangs, werden zum unmittelbaren Weltgesetz des einen, universellen, grenzenlosen Weltmarkts, der nicht mehr die Sphäre der Beziehungen zwischen den Nationalökonomien bildet, sondern die universelle Sphäre der unmittelbaren, ungefilterten Weltkrisenkonkurrenz. Das bedeutet nichts Anderes, als dass diese Konkurrenz marodierend wird und der Umgang der Unternehmen und Individuen miteinander jene Züge annimmt, wie sie die nach außen hin durch kein einklagbares Gesetz gebundenen Nationalstaaten schon immer in ihren wechselseitigen Beziehungen an den Tag gelegt hatten. Die Enthemmung des Menschen, die schon im Begriff des Kapitals angelegt ist und sich in den Gräueln der kapitalistischen Durchsetzungsgeschichte immer wieder geäußert hat, droht zum unmittelbaren Weltverhältnis zu werden. Die Kehrseite der Globalisierung ist die moralische Verwahrlosung der Individuen, deren Atomisierung nun ebenfalls eine planetarische Dimension angenommen hat. Man muss also die Marxsche Theorie der Globalisierung nicht nur mit seiner Theorie der Krise, sondern auch mit seiner-Theorie der Barbarisierung des Kapitalismus zusammendenken – und man wird das präzise Bild der heutigen Weltsituation erhalten.
Obwohl Marx nicht mehr dazu gekommen ist, den vierten Band des „Kapital“ über Weltmarkt und Staat zu schreiben, also seine begrifflich-analytische Darstellung der Logik und der historischen Tendenz gesamtkapitalistischer (und damit auch weltkapitalistischer) Reproduktion zu vollenden, entwickeln seine Texte und Fragmente zum Universalisierungsprozess des Kapitals nicht nur die Grundgedanken der Probleme, die heute manifest werden, sondern wie in der Krisentheorie auch die Grundbegriffe der dazugehörigen ökonomischen Mechanismen. In dieser Hinsicht ist besonders seine Theorie der fortschreitenden Zentralisation des Kapitals von Bedeutung. Auch diese Tendenz folgt wie die Globalisierung aus der Logik von Krise und Konkurrenz, wird aber im Kontext der Globalisierung vielfach potenziert. Je mehr das Kapital aus den Binnenmärkten flüchtet und den universellen Weltmarkt herstellt, desto mehr führt die unmittelbare Weltkrisenkonkurrenz auch zu Kapitalagglomerationen, die auf nationalökonomischer Basis undenkbar gewesen wären, zu unmittelbaren Weltkapitalen, die den Staaten Konkurrenz machen können. Auch dieser Aspekt Marxscher Theorie hat sich voll bewahrheitet: Globalisierung und sich überschlagende Mega-Fusionen bilden heute die beiden Seiten desselben Prozesses.
Freilich macht sich auch dabei noch einmal der Gegensatz des exoterischen und des esoterischen Marx bemerkbar, so frappierend die Präzision der prognostischen Kraft über 160 Jahre hinweg auch ist. Während in der Krisentheorie fast ausschließlich der esoterische Marx zum Zug kommt, indem deren Kern das vom Konkurrenzprozess letztlich erzwungene Abschmelzen der „Arbeitssubstanz“ und damit das Obsoletwerden von Arbeit und Arbeiterklasse bildet, steht hinter den Marxschen Aussagen zur Globalisierung/Universalisierung und zur damit verbundenen Zentralisation des Weltkapitals zwar eben diese Krisentheorie – aber hier mischt sich abermals der exoterische Arbeiterbewegungs- Marx ein, der konträr zum Kern der Krisentheorie Globalisierung und Zentralisierungsprozess des Kapitals mit einer ebenso universellen Vermassung und Konzentration der Arbeiterklasse identifiziert. Dies traf jedoch nur zu, solange die Krisen- und Globalisierungstendenz ihr manifest universelles Stadium gerade noch nicht erreicht, also der Universalisierungsprozess seine kritische Masse noch nicht überschritten hatte, die eben keine entspre- chende Masse von rentabler Arbeitskraft mehr darstellt. Sieht man davon ab, so trifft die Marxsche Globalisierungstheorie ins Schwarze der heutigen Weltverhältnisse und erhellt gleichzeitig deren instabilen, explosiven Charakter, der keine positive Weltgesellschaft der Menschheit stiften, sondern nur zu ihrer Verwilderung in einer universell gewordenen „zweiten Natur“ führen kann.
Das kannst Du Dir detailliert anschauen, wenn Du folgende Texte insbesondere des esoterischen Marx liest:
Der Weltmarkt bildet selbst die Basis dieser Produktionsweise, der industrielle Kapitalist hat beständig den Weltmarkt vor sich. In: Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie, Dritter Band. Nach der ersten, von Friedrich Engels herausgegebenen Auflage, 1894
Ewige Unsicherheit und Bewegung, ganz andere Züge als Völkerwanderungen und Kreuzzüge. In: Manifest der Kommunistischen Partei. Zusammen mit Friedrich Engels, 1848;
Theorien über den Mehrwert, geschrieben 1862/63
Die Universalität des Kapitals findet Schranken an seiner eigenen Natur, es ist selbst die größte Schranke dieser Tendenz. In: Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, Rohentwurf, geschrieben 1857- 1858
Nachfrage im Ausland suchen müssen, Universalisierung der Konkurrenz. In: Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie, Dritter Band. Nach der von Friedrich Engels herausgegebenen ersten Auflage, 1894; Die deutsche Ideologie. Zusammen mit Friedrich Engels, geschrieben 1846
Die Religion des Freihandels. In: Pauperismus und Freihandel – Die drohende Handelskrise, 1852
Je ein Kapitalist schlägt viele tot: die Konzentration und Zentralisation des Kapitals. In: Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie, Erster Band. Nach der vierten Auflage, 1890;
Theorien über den Mehrwert, geschrieben 1862/63