Universelle Aneignung einer Totalität von Produktivkräften:

Kriterien für die Überwindung des Kapitalismus

Der kapitalistisch sozialisierte Normalmensch wird enttäuscht sein, wenn er feststellen muss, dass Marx außer einer Analyse und Kritik der kapitalistischen Produktions- und Lebensweise keine umfassende Blaupause für das hinterlassen hat, was noch vor einiger Zeit in der Linken und in den staatskapitalistischen Staaten „Aufbau des Sozialismus“ genannt wurde, keine Anweisung, wie man das denn „richtig“ zu machen hätte. Es fehlt jedenfalls das, worauf der kapitalistische Normalmensch bei Gesellschaftskritik einen Anspruch zu haben glaubt, nämlich eine beigepackte sozialökonomische Gebrauchsanweisung. Das liegt ganz einfach daran, dass ein solches Konstrukt aus der kritischen Gesellschaftstheorie beim besten Willen nicht ableitbar ist. Kritische Theorie kann die negativen und destruktiven Erscheinungen des Kapitalismus, wie sie von allen Menschen in irgendeiner Weise erfahren werden, erklären und auf den Begriff bringen, analysieren und damit die Kritik des Kapitalismus und die Notwendigkeit seiner Überwindung begründen. Diese Begründung der Kritik ist aber etwas ganz anderes als eine Gebrauchsanweisung für den konkreten Aufbau einer „idealen“ und womöglich „widerspruchsfreien“ Gesellschaft, ein Reißbrettentwurf für eine Gesellschaftsarchitektur nach irgendeinem Modell des Menschen, wie er zu sein hätte.

Wer eine solche Gebrauchsanweisung einfordert, verlangt unbewusst, dass selbst noch die Überwindung der Marktgesellschaft nach dem gewohnten und eingefleischten Muster des Kaufens und Verkaufens vonstattengehen soll: er sieht die kritische Theorie in der Rolle des Verkäufers, der gefälligst ein Angebot mit garantiertem Rückgaberecht zu machen hat, und sich selbst in der Rolle des wählerischen (und ewig betrogenen) Konsumenten, der eine umfassende Produktinformation wünscht, um die erworbene Ware problemlos konsumieren zu können. Dabei vergisst er, dass ja keineswegs von einem Warenangebot auf dem Markt der Meinungen, Weltverbesserungsvorschläge usw. die Rede ist, sondern von den realen Leiden seines eigenen Lebens und den an ihn gerichteten gesellschaftlichen Zumutungen, von denen er sich nur selber im Verein mit anderen Menschen befreien kann. Kritische Theorie ist in diesem Sinne kein Angebot, sondern ein Spiegel der Selbsterkenntnis, eine Wut des Begreifens und eine „Aufforderung zum Tanz“ mit ungewissem Ausgang.

Indem das Normalbewusstsein die Kritik als fix und fertige Utopie einfordert, die man wie ein Supermarktangebot kaufen oder verschmähen kann, macht es (wiederum unbewusst) auf den inneren Zusammenhang zwischen Utopismus und Warenform aufmerksam. Deshalb ist bei der Frage nach der Überwindung des Kapitalismus und dem Weg in eine andere Gesellschaft noch einmal auf den nicht-utopischen Charakter der Marxschen Theorie und auf die These zurückzukommen, dass wir in Wahrheit heute mitten in einer verwirklichten Negativutopie leben, denn nichts Anderes ist der zum Weltsystem ausgewachsene Kapitalismus. Oder wie soll man es sonst nennen, dass in diesem System die Individuen durch den „stummen Zwang der Verhältnisse“ (Marx) ebenso wie notfalls durch Staatsgewalt „eindimensional“ (Herbert Marcuse) gemacht und zur Exekution blinder Systemgesetze an sich selbst genötigt werden? Der „neue Mensch“ war von Anfang an ein Postulat der modernen Form versachlichter Herrschaft. Die Zwangsvorstellung eines „ideal“ kontrollierten „Menschenmaterials“, das auch innerlich unter dem Bann eines ihm vorgegebenen abstrakten Selbstzwecks steht, gehörte schon zu den frühesten Ideen kapitalistischer Rationalität. Und heute wird bekanntlich unter dem Totalitarismus des Marktes der total modellierbare und sich selbst nach Marktimperativen modellierende „neue Mensch“ gewissermaßen im Jahres-, Monats- und Wochentakt abgefordert.

Im Zuge dieser Verwirklichung eines totalitären utopischen Anspruchs unter der Maske der Sachlichkeit setzte eine Umwertung der Begriffe ein: Die utopische Irrationalität und Eindimensionalität des kapitalistischen Selbstzwecks wurde zur „natürlichen Ordnung der Dinge“, und die betriebswirtschaftliche Zerstörungslogik, die das Universum der sinnlichen Welt gnadenlos auf die eine dürre Abstraktion des Geldes zurechtschneidet, zum „pragmatischen Umgang“ mit den Dingen erklärt. Umgekehrt mussten dann aber auch in der einmal verwirklichten kapitalistischen Utopie das Geltendmachen der elementarsten menschlichen Regungen und Bedürfnisse wie die einfachste pragmatische Vernunft im Umgang mit der erfahrbaren sinnlichen Welt den falschen Namen des Utopischen annehmen. Indem der Kapitalismus die Ortlosig- keit zum realen Ort der Welt machte, verbannte er die menschli- che Vernunft in die reale Ortlosigkeit. Es ist „utopisch“ geworden, den zur mörderischen Plage ausgeuferten Transport von der Straße auf die Schiene zu verlegen, die gemeingefährlichen und viele Generationen als Hypothek belastenden Atomkraftwerke früher als in 30 Jahren abzuschalten oder mit Hilfe der mikroelektronischen Netzwerke und Automaten, der größten Arbeitsersparnis aller Zeiten, weniger als die Bauern des Mittelalters zu „arbeiten“ – um bloß einige Beispiele zu nennen. In der Welt des vollendeten Kapitalismus ist nur der offene Wahnsinn realistisch. Unter diesen Bedingungen nimmt der sogenannte Pragmatismus zwangsläufig selber endzeitliche Züge an.

Es gibt also, und das ist die Botschaft von Marx, erstens kein „neues Jerusalem“ welcher Art auch immer zu verwirklichen, sondern schlicht mit dem verwirklichten Irrsinn der herrschenden Produktionsweise Schluss zu machen, die alle Produktivkräfte in Destruktivkräfte verwandelt hat. Und zweitens kann die Aufgabe der praktischen Veränderung in diesem Sinne nicht mehr in das Ressort einer die Kritik begründenden Theorie fallen, sondern nur die Tat einer praktischen sozialen Aneignungs- und Aufhebungsbewegung sein. Allenfalls kann die Theorie dafür allgemeine Zielsetzungen und bestimmte, aus der begründeten Negation des Kapitalismus folgende Kriterien angeben; und nur solche Kriterien finden sich dementsprechend bei Marx. Diese aber sind in der Regel explizit wie implizit stets bereits Bestandteil der kritischen Analyse selber.

Der vernünftige Umgang mit den Dingen selber ist also nicht aus den Abstraktionen der kritischen Theorie herzuleiten, sondern diese kann nur als Begründung dafür dienen, dass sich die Individuen bewusst zu einer negatorischen Organisation zusammenschließen, um die kapitalistische Antivernunft zu sprengen, sich die gesellschaftlichen Potenzen anzueignen und in einem von den irrationalen betriebswirtschaftlichen Zwängen befreiten praktischen Umgang mit den Dingen deren vernünftigen Gebrauch eigentlich erst herauszufinden, also die vom Kapitalismus in einer destruktiven Form hinterlassenen Produktivkräfte gewissermaßen „auszusortieren“, sie umzuformen, in andere Konstellationen zu bringen, teilweise auch wegen erwiesener Unsinnigkeit oder Gemeingefährlichkeit stillzulegen usw. Während der Kapitalismus ohne Rücksicht auf die besondere Qualität, auf den spezifischen Stoff oder Inhalt, auf die jeweilige Eigenart usw. der Dinge und Beziehungen alles nach ein und demselben abstrakt-allgemeinen Prinzip zurichtet, nämlich dem Prinzip der Verwertung des Werts oder der Plusmacherei, wäre es gerade das „Prinzip“ des Kommunismus im Marxschen Sinne, gar kein solches Prinzip mehr zu haben, sondern erstmals bewusst pragmatisch mit der Welt umzugehen.

Das Kriterium dafür besteht darin, dass kein fetischistisches Medium mehr zwischen die gesellschaftlichen Individuen und die Welt tritt. Insofern eben kann darüber keine allgemeine theoretische Aussage Auskunft geben, sondern nur die praktische Erfahrung im veränderten Umgang mit den Dingen selbst und der Prozess dieser Veränderung selbst. Der Begriff einer „Aneignungsbewegung“ trifft vielleicht dieses Marxsche Kriterium am besten, weil er den Charakter der umwälzenden Aneignung als Prozess erfasst: nicht die beschränkte und äußerliche „juristische“ Form der Aneignung, worauf sich dieser Gedanke im Arbeiterbewegungsmarxismus weitgehend reduzierte, sondern die tatsächliche, praktische, stofflich-sinnliche, intellektuelle usw. Aneignung einer „Totalität von Produktivkräften“, also die Verfügungsgewalt nicht im Sinne von bloß auf „das Volk“ oder „die Gesellschaft“ übertragenen bürgerlichen Eigentumstiteln, sondern von tatsächlicher inhaltlicher Beherrschung der eigenen universellen Gesellschaftlichkeit und ihrer Potenzen.

Die Produktivkräfte müssen dem Kapitalismus nicht nur entrissen, somit ihrer bürgerlichen Rechtsform überhaupt entkleidet werden, sondern sind in diesem weit umfassenden Sinne anzueignen und gerade dadurch umzuformen. Marx wendet sich bewusst und deutlich gegen die „juristische Illusion“ einer Pseudo-Aufhebung des Kapitals innerhalb der bürgerlichen Rechtsformen. Diese juristische Illusion besteht eben darin, die kodifizierte Eigentumsform (eben jene vermeintliche Verfügungsgewalt) für das Eigentliche und Wesentliche zu nehmen, obwohl sie doch nur die notwendige Konsequenz bestimmter, ihr vorgelagerter Produktionsverhältnisse und gesellschaftlicher Beziehungsformen ist. Es wäre also nur absurd, ein direktes gesellschaftliches Eigentum einführen zu wollen und dennoch die dem gerade nicht gesellschaftlichen Eigentum zugrundeliegende Warenproduktion, abstrakte Arbeit usw. beizubehalten (wie dies im „Realsozialismus“ der Fall war).

Es bereitet wenig Schwierigkeiten, bei der Benennung solcher Kriterien für die tatsächliche Überwindung des Kapitalismus den esoterischen vom exoterischen Marx zu trennen. Das „Proletariat“ als solches kann mit seinem schon dem Begriff nach in den vorgegebenen Rahmen des Kapitalismus eingebrannten „Klassenkampf“ die Marxschen Kriterien für eine Aufhebungs- und Aneignungsbewegung über den Kapitalismus hinaus nicht erfüllen. Deshalb blieb der „Arbeitssozialismus“ auch stets in der Rechtsform und damit der „juristischen Illusion“ über die Verfügungsgewalt befangen. Teilweise legt Marx selber schon eine andere Logik der Aufhebung und Aneignung nahe, wenn er dabei streckenweise nicht vom „Proletariat“, sondern von den „Individuen“ spricht. In der Tat kann Träger einer im Sinne des esoterischen Marx umwälzenden sozialen Bewegung keine vom Kapitalismus selber apriorisch vordefinierte Klasse sein, die sich gerade auf ihre Stellung im Kapitalismus beruft, wie sie ihr „unbewusst“ schon zukommt, sondern nur ein bewusster Zusammenschluss der Individuen, der von ihrer eigenen Einsicht und nicht von ihrer objektiv vorgegebenen Stellung im System abhängt.

Während innerhalb der kapitalistischen Kategorien und ihres scheinbar objektiv vordefinierten, quasi-naturgesetzlichen Zusammenhangs der Wille der Individuen bloß eine Illusion ist, kann umgekehrt die Aufsprengung dieses irrationalen Fetischverhältnisses wirklich nur eine Funktion des Willens sein, und zwar eben des Willens derjenigen Individuen, die aufgrund ihrer Erfahrung und eigenen kritischen Einsicht „nicht mehr wollen“ (also ihre bisherige, unerträglich gewordene bürgerliche Willensform abstreifen wollen). Insofern wäre eine vom Kapitalismus und überhaupt vom Fetischismus befreite Gesellschaft erstmals eine, deren Gestalt, Leben und Tätigkeit tatsächlich auf ihre freien Willensverhältnisse zurückzuführen ist. Wenn es um eine nicht bloß illusorische Überwindung des Kapitalismus geht, stürzt also nicht eine innerkapitalistische Klasse die andere, sondern der Zusammenschluss der kritischen Individuen (ungeachtet ihrer jeweiligen innerkapitalistischen Position), die sich das „automatische Subjekt“ vom Hals schaffen wollen, stößt mit dem Teil der Gesellschaft zusammen, der es (ebenfalls ungeachtet seiner vorgegebenen Stellung) unbedingt erhalten und sein Heil in der umso hemmungsloseren Konkurrenz suchen will. Der „Materialismus“ der Aufhebungsfrage besteht in der Art und Weise, wie die in einem umfassenden gesamtgesellschaftlichen Sinne negativen Erfahrungen der kapitalistischen Realität verarbeitet werden, nicht in der Art und Weise, wie die Individuen a Priori sozial festgenagelt sind.

Insofern ist die alte marxistische Frage nach dem (objektiv vorgegebenen) „Subjekt“ der Kapitalismuskritik, wer es denn „an sich“ schon sei, ohne von seinem historischen Glück zu wissen, schlicht falsch gestellt und daher heute bloß noch eine ratlose. In der kapitalistischen Welt des 21. Jahrhunderts, in der die fixierten sozialen Funktionskategorien real fließend geworden und die Individuen tatsächlich und handgreiflich atomisiert worden sind (bei gleichzeitiger Verschärfung der globalen Massenarmut und vielfältiger Verelendungsprozesse), kann es weitaus eher als im 19. Jahrhundert einleuchten, dass die Kriterien des esoterischen Marx für die Überwindung des Kapitalismus gerade nicht von ei- ner systemisch vorbestimmten Klassenbewegung, sondern nur von einer bewusst sich selbst konstituierenden Bewegung der „assoziierten (bzw. sich im Prozess der praktischen Kritik selber assoziierenden) Individuen“ erfasst und wirksam gemacht werden können.

Mag diese Einsicht aufgrund der heutigen empirischen Evidenz auch relativ leichtfallen (außer für die in ihrer ideologischen Identität gefesselten restlichen Marxisten der vergangenen Epoche), so haben es doch die anzulegenden Kriterien selber in sich und sperren sich dem Bewusstsein, wie es in dieser kapitalistischen Welt geworden ist. Der scheinbar plausible Begriff der Aneignung lässt schnell die Scheuklappen herunter, wenn klar wird, dass dieses Kriterium unvereinbar mit der Rechtsform ist. Denn in dieser Hinsicht sind die kapitalistisch sozialisierten Individuen, und gerade die postmodernen, allesamt „Arbeiterbewegungsmarxisten“, weil hier ja der obsolet gewordene Marxismus mit dem bürgerlichen Bewusstsein zusammenfällt. Das bürgerliche Individuum kann sich zunächst einmal nicht selber außerhalb der Rechtsform denken, die ja seine Subjektform und damit seine Beziehungsform zur Welt ist. Diese bürgerliche Rechtssubjektivität kommt aber, wie Marx offengelegt hat, überhaupt nur durch die Aufspaltung des bürgerlichen Menschen in ein Wirtschafts- und ein Staatsbürgersubjekt zustande, in den „homo oeconomicus“ und den „homo politicus“, den „bourgeois“ und den „“citoyen“, den Geldmenschen und den Staatsmenschen. Geld und Staat aber sind laut Marx die beiden polaren Formen einer bloß abstrakten und daher unwahren Allgemeinheit, jener bloß „illusorischen Gemeinschaftlichkeit“. Damit die unwahre Gesellschaft der nach blinden Gesetzmäßigkeiten atomisierten Individuen wirklich zu einer Gesellschaft, zu einer bewusst agierenden Gemeinschaftlichkeit wird, müssen die Individuen die beiden entfremdeten, irrationalen Formen abstrakter Allgemeinheit, nämlich Geld und Staat, „in sich zurücknehmen“, also aufheben und überwinden.

Jene scheinbar so plausible Aufgabe einer bewussten Aneignung der in ihrer kapitalistischen Form destruktiv gewordenen Produktivkräfte verlangt also nicht weniger als die Aufhebung der Geld und Staat übergreifenden Rechtsform, in der sich die Individuen nur als „Repräsentanten von Ware“ gesellschaftlich aufeinander beziehen können. Es ist klar, dass vor dieser Aufgabe, der praktischen Überwindung seiner eigenen Subjektform (und genau das ist der Kern der Gesellschaftskritik des esoterischen Marx, die man kurz als „Wertkritik“ bezeichnen kann), das kapitalistisch sozialisierte Massenbewusstsein erst einmal zurückschreckt.

So kommt es, dass die intellektuellen Dinosaurier des übriggebliebenen Arbeiterbewegungsmarxismus paradoxerweise gerade in ihrer eigenen Obsoletheit diese Sperre des bürgerlichen Bewusstseins am deutlichsten formulieren, weil sie aufgrund ihres Wissens um die Marxschen Kriterien (die sie schon immer verkürzt, verhunzt und naserümpfend beiseitegeschoben haben) am leichtesten imstande sind, das Problem so zu identifizieren, dass es zurückgewiesen werden kann, während der offizielle bürgerliche Verstand erst einmal nur „Bahnhof“ versteht. Es ist eine Ironie der Geschichte, dass sich ausgerechnet der übriggebliebene Marxismus zum Sprecher des gemeinbürgerlichen Bewusstseins macht und gegen die „Wertkritik“ alle Register der denunziatorischen Abwehr und Verdächtigung zieht, indem er das in Wahrheit originäre Marxsche Kriterium einer Überwindung des Fetisch-Mediums als Idee eines „Steinzeitkommunismus“ à la Pol Pot und als drohenden Rückfall hinter die Zivilisation abzuqualifizieren sucht. So etwa Wolfgang Fritz Haug, ein emeritierter Papst bundesdeutscher Marxbeschäftigung, und andere akademische Marxisten. Mitten in der neuen Großkrise und der barbarischen Verwilderung des globalisierten Kapitalismus wird also die Idee der Befreiung von der modernen Zumutungsgesellschaft selber zur Barbarei erklärt, womit der Marxismus nebenbei noch in seinem letzten Röcheln beweist, dass er sich in krassem Gegensatz zum esoterischen Marx unter Zivilisation nie etwas anderes als die entfremdete Vergesellschaftung durch Geld und Staat vorstellen konnte und wollte.

In Wahrheit schafft der Kapitalismus mitsamt seiner unwahren „Menschenrechts“-Zivilisation, die Marx schon vor 160 Jahren in Grund und Boden kritisiert hat, für einen stetig wachsenden Teil der Weltbevölkerung selber das Geld und zunehmend auch bereits Staaten ab, aber eben in seiner negativen Art und Weise. In den großen globalen Zusammenbruchsregionen mit immer mehr Ländern, die ihre eigene Währung bereits aufgegeben haben, leben massenhaft Menschen ohne jedes Geldeinkommen und ohne jeden Zugang zu Devisen. Dieser Zustand ist in der Tat die Barbarei, aber eben nur deswegen, weil zwar für die Menschen das Geld, aber nicht die Vergesellschaftungsform und das Kriterium des Geldes als „stummer Zwang“ abgeschafft worden ist. Für Marx geht es gerade nicht um eine oberflächliche Abschaffung oder einen bloßen Entzug des Geldes, während die bürgerliche Rechtsund Subjektform beibehalten wird, sondern um die Aufhebung dieser Form selbst, die dann eine weitere Vergesellschaftung als Geldwirtschaft überflüssig macht und als irrational erkennen lässt. Wo aber die bürgerliche Subjektform unangetastet bleibt, können immer nur die beiden Pole der Entfremdung gegeneinander ausgespielt werden. Der Kapitalismus war überhaupt nur in der Lage, sich bis zu seiner Krisenreife zu entwickeln, indem der Staat das Geld bzw. den Markt in Schach hielt und umgekehrt. Wo diese wechselseitige Begrenzung nicht mehr wirkt, kommt der barbarische Kern dieser Zivilisation zum Vorschein. Das Regime von Pol Pot etwa etablierte den totalen sozialen Terror, indem sich der Staat in Gestalt eines Parteiapparats Geld bzw. Markt gegenüber absolut setzte, wie umgekehrt ebenfalls der soziale Terror die Folge ist, wo Geld bzw. Markt gegenüber dem Staat absolut gesetzt werden. In beiden Fällen sind die Menschen in potenzierter Form das, was sie auch im kapitalistisch-demokratischen Normalfall sind: bloße Objekte, bloßes Material eines über sie hereinbrechenden Verhängnisses. Es ist eine weitere Ironie, dass die „Wertkritik“ als „unmögliche“ Marx-Interpretation gerade von einer Position aus denunziert wird, die nicht nur stets ein Arbeitsmarxismus, sondern damit auch ein Staatsmarxismus geblieben ist, also gerade das Moment selber enthält, das in Gestalt des Pol Pot-Regimes eine besonders üble Erscheinungsform angenommen hat. Heute ziehen sich weltweit Geld/Markt und Staat gleichermaßen von einer wachsenden Masse der auf der Erde lebenden menschlichen Individuen zurück, ohne diese jedoch aus ihren Kriterien zu entlassen. Die herangereiften Verhältnisse selbst sind es also, die nach einem Praktischwerden der Kriterien verlangen, wie sie der esoterische Marx als Schlussfolgerung seiner kritischen Analyse entwickelt hat: kein wechselseitiges Ausspielen von Geld/Markt und Staat mehr, sondern die Überwindung dieses irrationalen Dualismus durch eine bewusste Selbstverwaltung und Selbstorganisation der Gesellschaft unter Beteiligung aller ihrer Mitglieder jenseits von Markt und Staat.

Marx war sich bewusst, dass die Aufsprengung der obsolet werdenden bürgerlichen Subjektform nicht nur an sich schwierig sein wird, sondern auch unter ganz unterschiedlichen und ungleichzeitigen Bedingungen stattfinden muss. Indem der Kapitalismus sich ungleichförmig und ungleichzeitig entwickelt hat, stößt er in dieser Ungleichmäßigkeit an seine Grenzen. Und auch heute, da wir erst 160 Jahre nach Marx den Horizont seiner esoterischen Fragestellungen tatsächlich erreicht haben, kann die Überwindung dieser Gesellschaftsordnung nur unter ganz verschiedenen Bedingungen stattfinden. Die erzwungene Gleichzeitigkeit des Weltsystems durch die kapitalistische Globalisierung ist eben bloß eine negative, während die Ruinen der Ungleichzeitigkeit die realen Ausgangspunkte möglicher sozialer Aufhebungs- und Aneignungsbewegungen bilden.

So ist die letzte kapitalistische Produktivkraft der Mikroelektronik eine universelle Aneignungsbedingung geworden, die den vom exoterischen Marx ausgeheckten Sozialismusbegriff einer „niederen Stufe des Kommunismus“, auf der noch immer nach individuellen Leistungseinheiten und Arbeitszeiten abgerechnet und „geplant“ werden soll (von Marx immerhin bewusst als Restbestand bürgerlicher Rechtsförmigkeit benannt), vom Kapitalismus selber überholt und ad absurdum geführt worden. Insofern spielt für die wirkliche gesellschaftliche Reproduktion der Zeit- und Leistungsanteil des einzelnen Individuums gegenüber den gesellschaftlichen wissenschaftlich-technischen Aggregaten keine Rolle mehr. Mit anderen Worten: In den Dingen, also materiell ist der Kommunismus bereits da, lediglich noch in den falschen, irrationalen und destruktiv wirkenden kapitalistischen Formen. Mit den weltweit heute vorhandenen Ressourcen könnten wir bereits einem Mehrfachen der heutigen Weltbevölkerung ein reiches angenehmes Leben gewährleisten.

Andererseits kann aber die reale Aneignung dieser Potenz nur unter Bedingungen und in sozialen Zusammenschlüssen vor sich gehen, die in den verschiedenen Weltregionen ganz unterschiedlich sind, je nachdem wie die kapitalistische Globalisierungswalze die Gesellschaft hinterlassen hat. Die von Marx als Kriterium benannte transnationale Universalität der Aneignungs- und Aufhebungsbewegung schließt also diese Unterschiedlichkeit der Ausgangslage ein, und insofern kann es auch eine noch für das 21. Jahrhundert bedeutsame Aussage von Marx sein, dass er die damalige russische Agrarkommune durchaus als möglichen Ausgangspunkt einer emanzipatorischen Umwälzung bezeichnet hat, unter der Voraussetzung jedoch, dass sie ihre lokale Borniertheit überwindet und in Verbindung mit der Aneignung der modernen Produktivkräfte Teil einer übernationalen, die industriellen Zentren einschließenden Weltbewegung wird. Zwar finden sich heute keine Reste der alten „kommunistischen“ Agrarverfassungen mehr, aber solche Formen könnten durch die Zerfallsprozesse des kapitalistischen Weltsystems hindurch in bestimmten Weltregionen durchaus in neuer Gestalt entstehen. Für einen neuen Antikapitalismus im Sinne des esoterischen Marx wird es darauf ankommen, dass er als universelle, bewusst a-nationale (und damit antinationale), global vernetzte und kommunizierende Weltbewegung gleichzeitig unterschiedliche Formen und Ausgangsbedingungen entwickeln und in sich bergen kann.

An einem allerdings hat Marx niemals einen Zweifel gelassen, und auch das ist ein entscheidendes Kriterium: der Kapitalismus kann nicht durch isolierte doktrinäre „Experimente“ überwunden werden, nicht durch Beispiele im Kleinen, die bloß aufzusummieren und zu verbreiten wären. Eine solche Vorgehensweise wäre wirklich ein Rückfall hinter den Kapitalismus, denn es geht ja gerade um die bewusste und vernünftige Aneignung gesamtgesellschaftlicher Potenzen und Aggregierungen, die nicht auf ein Miniaturformat herunter zu brechen sind. Der Vergesellschaftungsgrad kann nicht zurückgenommen werden, und deshalb kann die emanzipatorische „Assoziation der Individuen“ auch nicht im kleinen Maßstab erst einmal „neben“ der Gesellschaft stattfinden. Auch insofern hat Marx mit Recht dem Utopismus eine Absage erteilt. Was unmittelbar möglich ist, sind Organisationsformen der Solidarität oder der Betrieb gemeinschaftlicher Einrichtun- gen, die weder kommerziellen noch staatlichen Zwecken dienen etc. Projekte also, die aber nicht mit einer umfassenden Aneig- nung der gesellschaftlichen Produktivkräfte verwechselt werden dürfen.

In einer weltgesellschaftlichen Situation wie heute, in der einerseits der Kapitalismus überreif bis zum Platzen, andererseits aber keine soziale Aneignungsbewegung in Sicht ist, schon gar keine Weltbewegung, wird die Reformulierung kritischer Theorie selber zu einem bedingenden Moment künftiger Emanzipation. Den historisch abgelebten exoterischen und den erst heute aktuell werdenden esoterischen Marx auseinander zu dividieren, ist vielleicht am fruchtbarsten bei der Benennung der Zielsetzungen und Kriterien für eine Überwindung des Kapitalismus, die mit der Vorstellungswelt des Arbeits-, Staats- und Nationalmarxismus nichts mehr zu tun hat. Dass kritische Theorie gerade in dem Maße, wie sie diese Aufgabe erfüllt, umso weniger an der Inflation der gängigen billigen Konzept- und Rezeptmacherei beteiligt ist, wird letzten Endes ihr Vorteil sein.

Lies hierzu noch etwas vom esoterischen Marx: