11. Kapitel

Unter der Oberfläche war er immer noch da, dieser alte Schmerz, den sie damals empfunden hatte. Dabei war sie mit zwanzig Jahren ein ganz anderer Mensch gewesen. Einer, der kaum noch etwas mit der heutigen Claire zu tun hatte. Sie war impulsiv und abenteuerlustig gewesen. Furchtlos und neugierig. Doch das alles war schon so lange her. Es hatte sich so viel geändert in den Jahren.

Vielleicht wäre es besser, die alten Geschichten ruhen zu lassen. Einfach weiterzugehen und sich nicht umzudrehen. Zu Hause waren ihre Kinder, die Bäckerei, das vertraute ruhige Leben. Dort war alles gut. Maja, ihre Älteste, wünschte sich ein Kind mit ihrem Freund. Dann wäre wieder Kindergeschrei im Haus, und Claire hätte alle Hände voll zu tun, um ihre Tochter zu entlasten. Sie wäre dann Oma.

Stattdessen stand sie jetzt vor diesem hell erleuchteten Häuschen und fühlte sich wie Aschenputtel, das nicht zum Ball geladen war. Ein seltsames Aschenputtel, dachte sie, mit aschgrauem Haar und Altersflecken auf den Händen.

Sie blieb am Gartenzaun stehen und bewegte sich nicht. Auf der Terrasse standen ein paar Windlichter. Leise Musik war zu hören und das Zirpen von Grillen. Vor den Fenstern hingen Mückennetze, ein Vorhang wehte im Wind.

Das ist doch Unsinn, sagte sie sich. Jetzt klingelst du, oder du verschwindest wieder.

Sie gab sich einen Ruck und ging zur Tür. Auch wenn sie sich dünnhäutig und verletzlich fühlte. Sie ging, und mit jedem Schritt schmolzen die Jahre, bis sie schließlich die Klingel drückte und wieder einundzwanzig war. Frisch verliebt und voller Zuversicht. Die Welt lag ihr zu Füßen.

Die Tür öffnete sich. Ein alter Mann erschien auf der Schwelle. Etwas gebeugt, mit weißem Haar und buschigen Augenbrauen. Er war es. Hinter den Falten und der grauen Haut konnte sie es genau erkennen: seine Grübchen, die vorwitzigen grünen Augen, den spöttischen Mund. Tatsächlich, da war er, der Lausejunge, der Revoluzzer, der Romantiker, der Weltenveränderer, der Kiffer, der Draufgänger – ihre große Liebe.

Claire war wie erschlagen. Sie konnte nichts sagen.

Rainers Augen wurden groß. »Claire?«

Er hatte sie erkannt. Jetzt kämpfte sie mit den Tränen. Du liebe Güte, wie lächerlich das war. Sie konnte doch jetzt nicht weinen.

»Claire? Bist du das?«

Sie nickte. Lächelte. Blinzelte eine Träne weg.

»Hallo, Rainer.«

»Claire, mein Gott! Wie …? Was …?« Ein ersticktes Lachen. »Ich werd verrückt. Was machst du hier? Wie bist du …? Ich …« Wieder dieses Lachen. Er strich sich durchs Gesicht. »Mein Gott, jetzt komm doch erst mal rein.« Er trat zur Seite. »Komm rein.«

Und so kehrte Claire Müller nach beinahe vierzig Jahren zurück in das Leben von Rainer Bördemann.

»Was machst du in Berlin?«, fragte er. »Wie bist du hierhergekommen?«

»Ich besuche Toni, meinen Neffen. Ich bin mit meinen Schwestern hier. Ich … ach herrje, ich hätte mich anmelden sollen.«

»Ach was, das spielt keine Rolle.« Er sah sie an wie eine Erscheinung. »Mein Gott, ich kann es immer noch nicht glauben. Claire. Du hier bei mir.«

»Ich wusste gar nicht, ob du mich überhaupt sehen willst.«

»Ich dich nicht sehen wollen? Claire …« Es sah aus, als wollte er sie in den Arm nehmen. Doch er tat es nicht. Sie spürte, dass es ihm nicht anders ging als ihr. Er war aufgeregt und völlig durcheinander.

»Ich freu mich, Claire. Wirklich. Ich freu mich sehr, dass du hier bist.«

Er stand unschlüssig herum, dann sagte er: »Komm doch mit auf die Terrasse. Möchtest du ein Glas Wein?«

Er führte sie durchs Wohnzimmer. Claire blickte sich um. Alles war so gemütlich. Helle Möbel, ein riesiges Sofa mit zahllosen Kissen, überall Pflanzen. Es wirkte behaglich und einladend. Ein richtiges Zuhause. Dann ging es weiter auf die Terrasse. Rundherum war ein Blütenmeer. Dunkle Holzmöbel, der Boden aus Terrakotta und dahinter im Zwielicht der Garten mit den Obstbäumen.

Sie spürte einen Stich. Es hätte ihr Zuhause sein können. Der Verlust wurde übermächtig. Die vielen Jahre ohne Rainer. Das Gute in ihrem Leben, ihr Mann, ihre Kinder, alles war jetzt weit entfernt. Sie spürte nur noch den Verlust.

»Rainer, ich …« Sie musste weg von hier. Sie konnte es nicht mehr ertragen. »Gehen wir ein bisschen?«

»Ein Spaziergang? Gerne. Sollen wir in die Stadt fahren? Wie viel Zeit hast du überhaupt?«

»Wir fahren morgen zurück. Heute Abend habe ich nichts mehr vor.«

Er lächelte. Das Erwähnen ihrer Rückfahrt schien ihn traurig zu machen. Er versuchte sich nichts anmerken zu lassen, löschte die Windlichter und holte die Autoschlüssel.

»Also gut. Komm mit. Ich zeig dir die Stadt.«

Während der Fahrt waren sie noch zu aufgewühlt, um über sich und ihre Gefühle zu sprechen. Claire erzählte von Toni. Die ganze Geschichte. Das war unverfänglich und neutral, und so gewöhnten sie sich wieder daran, miteinander zu reden.

»Er ist bestimmt ein großartiger Junge«, sagte Rainer.

»Ja, schon.«

»Ihr werdet wieder zueinanderfinden, da bin ich ganz sicher.«

Dann schwieg er eine Weile.

»Wieso bist du damals in Papenburg geblieben?«, fragte er schließlich. »Darf ich dich das fragen? Ich hätte … alles für dich gegeben.«

Eine Schrecksekunde lang herrschte Stille im Wagen.

»Ich dachte, du wolltest mich nicht. Du hast mich doch nie gefragt, ob ich mitkommen wollte.«

»Aber … ich wollte dich nicht drängen. Ich wollte dich nicht erpressen. Du solltest die Wahl haben. Dich frei entscheiden.«

»Aber warum hast du denn nie was gesagt? Irgendwas? Nur, dass du mich gewollt hättest. Das wäre doch keine Erpressung gewesen.«

»Ich dachte, es wäre klar gewesen, dass ich dich haben wollte … Ja, was denn sonst?«

Die Erkenntnis lastete schwer zwischen ihnen. Dann tat Rainer, was er schon immer getan hatte, wenn eine Situation ihn überforderte. Er begann zu lachen. Er lachte und lachte, so sehr, dass der Wagen ins Schlingern geriet. Und Claire – sie saß einfach daneben und lachte mit. Sie konnte gar nicht anders. Was sollte man auch sonst tun in so einem Moment?

»Schön, dass du da bist«, sagte Rainer schließlich.

Claire hätte gern seine Hand genommen. Aber das schien immer noch unmöglich. Beide scheuten die Berührung.

»Ja, ich finde es auch schön. Ich bin froh, dass wir den Bus verpasst haben.«

Rainer spazierte mit ihr über die Museumsinsel. Durch die Säulengänge der Alten Nationalgalerie, vorbei am Berliner Dom und an der Spree entlang. Die Nacht war voller Lichter, das Wasser glitzerte, die Luft duftete nach Sommer, und irgendwo spielte ein Saxofon. Es war eine Nacht für Verliebte.

Während sie durch die Stadt spazierten, redeten sie. Sie hatten viel Zeit. Erzählten sich ihr Leben. Alles, was in den vergangenen vierzig Jahren passiert war. Irgendwann verloren sie die Scheu und berührten sich. Zuerst fassten sie einander an, ganz zaghaft, dann gingen sie Arm in Arm, und schließlich schlenderten sie eng umschlungen am Wasser entlang.

Rainer erzählte von seinem Leben in Berlin. Die Siebziger in der geteilten Stadt, die politisierte Jugendbewegung, seine Erfahrungen mit Drogen, das Experimentieren mit unterschiedlichen Lebensmodellen. Dann die Achtziger, die Zeit der besetzten Häuser und der Straßenkämpfe, in der er als Journalist bei der »taz« arbeitete und mit zwei Frauen gleichzeitig zusammenlebte. Der Mauerfall und das neue Berlin. Und schließlich seine Arbeit als Drehbuchautor fürs Fernsehen und der bescheidene Wohlstand, zu dem er es damit gebracht hatte.

Claire lauschte seiner Lebensgeschichte, die auch ihre hätte sein können. Und während er redete, war es, als hätte sie ein zweites Leben geführt: in den Siebzigern und Achtzigern, in dieser wilden Zeit in Westberlin. Weit weg von Papenburg und zusammen mit Rainer irgendwo in Kreuzberg. Zusammen mit der Liebe ihres Lebens.

»Weißt du, was ich mir damals für uns erträumt habe?«, fragte sie irgendwann. »Ich habe mir ausgemalt, wir würden ein Leben führen wie in Fellinis ›La dolce vita‹. Ich wäre Schauspielerin gewesen, mit großen Engagements beim Film, und du wärst ein Journalist, Tag und Nacht unterwegs für deine Reportagen. Ich habe mir vorgestellt, wir wären Bohemiens gewesen und in der ganzen Welt daheim. Wir hätten alles gemeinsam gemacht, Partys, meinetwegen auch Drogen, Liebe und Rock ’n’ Roll. Wir hätten alles ausprobiert und keine Grenzen gekannt. Das war mein Traum. Für uns beide.«

»Ach, Claire.«

Jetzt waren sie sich ganz nah. Sie blieben stehen und hingen der verlorenen Zeit nach, ihrem verlorenen Leben. Alles, was hätte sein können, teilten sie in diesem stillen Moment. Trotz der Trauer wusste Claire nicht, wann sie das letzte Mal so glücklich gewesen war.

Hinter ihnen war das Rote Rathaus. Claire entdeckte den Poseidonbrunnen. Eine große Fontäne wurde von Strahlern beleuchtet, das Wasser rauschte, und die feuchten übergroßen Statuen glitzerten im hellen Licht.

Es war das süße Leben.

Plötzlich löste sie sich aus der Umarmung und lief zum Brunnen. Streifte die Sandalen ab und stieg vorsichtig über den Rand ins Becken. Das Wasser war eiskalt. Aber das störte sie nicht. Sie war jetzt Anita Ekberg, bewegte sich wiegend, aufreizend, genoss ihre Bühne, tauchte unter die Fontäne, ließ das Wasser über ihren Körper laufen, drehte sich dann zu Rainer und lachte, lachte.

»Marcello!«, rief sie. »Come here!«

In der Straßenbahn ging es zu wie in einer fahrenden Schankwirtschaft. Partyleute auf dem Weg zu Klubs und Diskotheken. Bierflaschen wurden herumgereicht, Musik plärrte aus kleinen Lautsprechern, es herrschte überall gute Stimmung. Gestylte Frauen, hübsche Männer. Wo man hinsah, schöne und blutjunge Menschen. Kayla hatte ihre liebe Mühe, alle Tanten im überfüllten Zug unterzubringen.

Als sie eintraten, wurde das Durchschnittsalter um Jahrzehnte gehoben. Doch keiner nahm Notiz von ihnen. Auch das lautstarke Herumdiskutieren der Schwestern störte niemanden. Es ging im allgemeinen Geräuschpegel unter. Kayla stellte sich hinter sie, um sie vor angetrunkenen und herumstolpernden Jugendlichen zu schützen.

»Ich weiß immer noch nicht, was wir Toni sagen sollen, wenn wir ihn treffen«, meinte Helga.

»Wir machen ihm klar, dass er zur Familie gehört«, sagte Ebba. »Ganz einfach.«

»Genau«, fügte Kamilla hinzu. »Wie jeder andere von uns auch.«

»Ganz egal, was mit Curt ist?«

»Na ja, besser wär’s natürlich gewesen, er wäre gekommen.«

»Aber das ist er nun mal nicht. Und ich hab auch keine Lust mehr, weiter darüber zu sprechen.«

»Wir müssen Toni eben so überzeugen.«

»Richtig. Wir gehören schließlich genauso zur Familie wie Curt.«

»Meint ihr, er war bei seinem wirklichen Vater?«

»Das wollen wir mal nicht hoffen.«

»Und wenn doch?«

»Keine Ahnung.«

»Wie Gerd heute wohl aussieht?«

»Meint ihr, er sieht immer noch so umwerfend aus?«

»Nein. Ich glaube nicht, dass ihm das Altern gutgetan hat.«

»Na ja, wir sind alle nicht schöner geworden.«

»Höchstens Claire. Sie sieht doch immer noch blendend aus.«

»Schon. Aber ihr wisst, was ich meine. Schönheit, für die man nichts tun muss, vergeht.«

»Und wenn sonst nichts da ist …«

»… dann sieht man das Innere.«

»Na, und das ist bei Gerd nicht so schön.«

»Wie er wohl reagieren würde, wenn Toni ihm sagt, er sei sein Vater?«

Zwei Wachdienstmitarbeiter mit Hunden schoben sich durch die feiernden Menschen. Sie achteten nicht auf die Fahrgäste, plauderten gemütlich miteinander und streichelten nebenbei ihre Tiere. Als würden sie dazugehören und sich ebenfalls einen schönen Abend machen wollen.

»Gerd wird ihn wahrscheinlich fortgejagt haben.«

»Oder er hat sich überlegt, ob bei Toni Geld zu holen ist.«

»Meinst du wirklich?«

»Ja, was denn sonst?«

»Der arme Junge.«

»Ich hab ja schon damals gesagt, Curt hätte niemals diesen blöden DNA-Test machen dürfen.«

»Du meinst, alles schön unter den Teppich kehren, Ebba? So wie es immer gemacht wurde?«

»Nein, natürlich nicht. Ich meine nur …«

Die Bahn ruckelte durch eine Kurve, und es kam Bewegung in die Leute. Nicht alle hielten sich rechtzeitig fest, einige stolperten in andere Menschen hinein, Bier wurde verschüttet, ein Frauenschrei. Der guten Stimmung tat das keinen Abbruch. Und Kayla stand wie ein Schutzwall vor den Schwestern.

»Ich weiß immer noch nicht, was wir Toni sagen sollen«, beharrte Helga.

»Dass er zur Familie gehört, und basta.«

»Ich weiß nicht, Ebba. Dieses und basta, das ist schon mal schiefgegangen.«

»Ach was! Wir …«

Die Straßenbahn hielt, Türen öffneten sich, und ein paar Fußballfans kamen herein. »Nur nach Hause, nur nach Hause gehn wir nicht«, grölten sie, das Vereinslied vom Hertha BSC. Die jungen Menschen im Zug sahen sich missmutig um. Gesichter, die zu fragen schienen: Was machen denn diese Prolls hier? Gibt’s denn keinen Türsteher? Darf hier jeder rein?

»Kayla?«

»Wie bitte?«

Sie hatte gar nicht mitbekommen, dass Ebba sie angesprochen hatte.

»Was meinen Sie? Sie kennen Toni doch auch.«

»Ähm … ich?« Sie hätte sich lieber rausgehalten aus der ganzen Sache.

»Ja. Sagen Sie uns, was wir machen müssen.«

»Na ja. Sagen Sie ihm einfach, dass Sie ihn lieben.«

Auf diese Idee war Ebba natürlich nicht gekommen.

»Ach, Unsinn. Das weiß er auch so.«

»Sind Sie da sicher?«

»Wir haben ihn schließlich durchgefüttert, ihn herumgereicht und zur Schule gebracht. Seine halbe Kindheit hindurch wurde er von uns versorgt.«

»Ja, schon. Aber vielleicht …«

»Und das ist noch nicht alles! Claire hat ihn mit der Schauspielerei unterstützt. Ohne Claire wäre er niemals Schauspieler geworden.«

Kayla gab auf. Einen anderen Rat hatte sie nicht.

»Dumm, dass Claire nicht dabei ist«, meinte Immi. »Sie wüsste, wie man das am besten anstellen kann.«

»Wir hätten sie vielleicht doch wecken sollen«, gab Kamilla zu bedenken.

»Ach was! Sie hatte Kopfschmerzen und brauchte ihre Ruhe. Wir werden Toni auch so überzeugen.«

Die Straßenbahn hielt wieder. Kayla blickte hinaus.

»Das ist unsere Station«, sagte sie. »Wir sind da.«

Hektik brach aus. Alle drängten zur Tür. Kayla wechselte beim Aussteigen einen Blick mit Ebba. Die sah Kayla an, als wollte sie sagen: »Pfff! Liebe.« Dann wandte sie sich ab und trat auf die Straße.

Der Alkohol tat seine Wirkung. Toni fühlte sich wie in Watte gepackt. Er saß am Tresen und starrte in seinen Longdrink. Um ihn herum tanzende Körper, vibrierende Bässe, flackernde Lichter.

Hinter der Bar stand Ben, ein alter Kumpel. Sie hatten mal im selben Laden gekellnert, und so etwas verbindet. Ben ließ ihn aufs Haus trinken, die ganze Zeit schon. Er war nett genug, nicht zu fragen, was los war. Stattdessen präsentierte er seinen atemberaubenden nackten Oberkörper, flirtete mit den Gästen und kehrte immer wieder zu Toni zurück, wobei er sich sehr, sehr sexy gab. Das war wohl seine Art, Trost zu spenden, und Toni war ihm dankbar dafür.

Trotzdem. Das alles konnte nur unzureichend über das Gefühl hinwegtäuschen, der einsamste Mensch auf der ganzen Welt zu sein. Gestern hatte er erfahren, dass seine Familie gar nicht seine Familie war. Und heute hatte er den verbliebenen Rest seiner richtigen, biologischen Familie kennengelernt: seinen Vater. Ein versoffenes, rassistisches und homophobes Arschloch. Ein hässlicher, hasserfüllter alter Mann.

Und diese andere Familie, die ihm bis gestern noch furchtbar auf die Nerven gegangen war, sie fehlte ihm nun, mehr als alles andere. Unbegreiflich.

Ben beugte sich zu ihm. »Und, Toni? Noch einen Gin Tonic?«

»Gerne. Du bist ein Schatz, Ben.«

Er zwinkerte ihm zu und verschwand.

In diesem Moment legte sich eine Hand auf Tonis Schulter. Er drehte sich um. Es war Micha.

Toni war perplex. Und dann hin und her gerissen. Er wollte Micha am liebsten in die Arme fallen. Aber da war ja noch dieser Streit. Micha hatte ihm einiges vorgeworfen, und das meiste zu Recht. Wo standen sie jetzt eigentlich? Wie ging es weiter? Weshalb war er hier? Und wie hatte er ihn überhaupt gefunden?

Auch Micha wirkte verunsichert. Ängstlich sogar. Toni konnte sich keinen Reim darauf machen. Doch schließlich wagte Micha es, ihm die Hand an die Wange zu legen.

»Toni, verzeihst du mir?«, fragte er.

»Ich … dir?«

»Es tut mir schrecklich leid, dass ich nicht für dich da war. Ich will …«, Micha schien mit den Tränen zu kämpfen, »… alles anders machen.«

Die folgende Umarmung war wunderbar. Toni spürte, er war nicht allein. Die Welt hatte sich gar nicht gegen ihn verschworen. Ganz im Gegenteil. Das Wichtigste von allem, der wichtigste Mensch in seinem Leben, stand neben ihm. Obwohl Toni das gar nicht verdient hatte.

»Micha, wenn du immer noch mit mir zusammenziehen möchtest …«

»Nein, hör auf. Vergiss das.«

»Doch, wirklich. Ich will es. Ich …«

»Nicht jetzt. Das spielt keine Rolle. Ich will dich so, wie du bist. Vergessen wir alles andere.«

Micha löste sich aus der Umarmung und sah Toni an.

»Deine Tanten sind noch in der Stadt.«

Toni rückte von ihm ab. Der intime Moment war vorüber.

»Das sind nicht meine Tanten.«

»Es sind gute Menschen, Toni. Die sind nicht verkehrt. Wie auch immer. Sie möchten mit dir reden. Willst du das?«

»Ob ich …? Das fragst du mich?« Was hatte das alles zu bedeuten? Hatten seine Tanten Micha vorgeschickt? War er deshalb hier? »Nein, ich glaube nicht, dass ich mit ihnen reden möchte. Ich bin noch völlig durcheinander. Ich will das erst mal sacken lassen.«

»Gut.« Micha sah sich um. »Komm, verschwinden wir von hier.«

»Was? Wieso denn?«

»Sie müssten jeden Moment hier eintreffen.«

»Aber …«

Micha deutete zum Tresen. »Wie’s aussieht, hat Ben bei Kayla angerufen. Sie hat alle instruiert, ihr Bescheid zu geben, wenn sie dich sehen.«

Ben? Toni war fassungslos. Ben hatte Kayla einen Tipp gegeben? Diese falsche Schlange. Sie waren doch einmal Waffenbrüder gewesen. Und jetzt hatte er ihn ohne Not verraten. Da drehte Ben sich um und lächelte. Diese billige Barschlampe.

»Komm schon«, sagte Micha. »Wenn du deine Tanten nicht treffen willst, müssen wir uns beeilen.«

Vor ihnen lag ein bunkerartiges Gebäude. Eine lange Menschenschlange hatte sich vor dem schmalen Eingang gebildet. Kayla war an der Schlange vorbei zum Türsteher gegangen. Sie wechselte ein paar Worte mit ihm, deutete auf die Schwestern und winkte sie schließlich herbei. Der Türsteher, ein düster und gefährlich aussehender muskelbepackter Mann, nickte ihnen stumm zu und ließ sie ungehindert ins Innere treten.

Es war ein seltsamer Moment für die Müller-Schwestern, als beträten sie eine geheime Welt. Vor ihnen eine riesige Halle. Zuckende Lichter, stampfende Musik. An den Seiten beleuchtete Bars, dahinter Metalltreppen, nackte Betonwände, Balustraden. Und überall Menschen. Unendlich viel nackte Haut. Sich bewegende muskulöse Körper. So etwas hatte noch keine von ihnen zuvor gesehen. Ein seltsames Schauspiel. Schweigend und mit großen Augen blickten sie sich um.

»Also gut, wir teilen uns auf«, sagte Kayla. »Toni muss hier irgendwo sein. Wenn wir ihn gefunden haben, bringen wir ihn nach draußen. In zwanzig Minuten treffen wir uns vorm Eingang.«

Sie wies den Schwestern Bereiche zu, in denen sie suchen sollten. Sie selbst würde sich gemeinsam mit Helga in der Lounge umsehen. Da wäre Toni am wahrscheinlichsten zu finden, meinte sie.

»Hat jede verstanden, was sie machen soll? Gibt es noch Fragen?«

Entrücktes Kopfschütteln. Nicht einmal Ebba fand ihre Sprache wieder. Kayla betrachtete die Schwestern skeptisch, offenbar überlegte sie, ob es nicht vielleicht doch besser wäre zusammenzubleiben. Aber dann lächelte sie nur und sagte: »Na, dann würde ich sagen: Los geht’s.«

Immi stieg die Metalltreppe hinauf. Sie würde auf der Empore nach Toni suchen. In diesem Klub erregte sie Aufsehen. Die Leute blickten ihr hinterher. Eine Frau jenseits der fünfzig war hier so auffällig wie ein bunter Hund. Dazu kam, dass die Treppe ziemlich eng war und kaum einer an ihrem dicken Körper vorbeikam. Sie lächelte tapfer, entschuldigte sich ständig, versuchte die teils abfälligen Blicke zu ignorieren und kämpfte sich weiter. Sie musste Toni finden.

Oben angekommen, musterte sie die Menschen auf der Empore. Rotierende Strahler, blinkendes Licht, aufsteigender Nebel. Und die laute Musik tat das ihre dazu: Für Immi sahen hier alle gleich aus. Sie tastete sich an der Wand entlang und versuchte, den Klubgästen ins Gesicht zu blicken. Wenn Toni dabei war, würde sie ihn schon erkennen.

Doch schon nach einiger Zeit musste sie zugeben, dass sie komplett die Orientierung verloren hatte.

Kamilla überblickte die Tanzfläche. Ein Meer von Menschen, die zum Rhythmus der Musik tanzten. Wie ein einziger Organismus, der sich wellenartig vor und zurück bewegte. Kamilla fühlte sich nicht gut. Vielleicht hätte sie doch lieber zu Hause bleiben sollen. Aber sie hatte ja darauf bestanden mitzukommen. »Es geht mir wieder gut«, hatte sie gesagt. »Ich fühle mich fit, ganz ehrlich.« Doch hier, bei dem schnellen Rhythmus, der lauten Musik und den vielen Menschen, wurde sie nervös. Sie fühlte sich bedrängt. Als wollte sich dieses Wesen auf der Tanzfläche gleich erheben und sie verschlingen. Außerdem bekam sie sonderbare Blicke zugeworfen. Oder bildete sie sich das ein? Sie drängte sich durch die Masse. Nackte Haut, Schweiß, die unterschiedlichsten Gerüche. Ihr Atem ging schneller. Toni. Sie sollte ja nach Toni Ausschau halten. Das hätte sie beinahe vergessen.

Ein langer, hoher Ton legte sich über die Bässe, auf der Tanzfläche wurde gejubelt, Arme wurden in die Luft gerissen. Kamilla verlor den Halt. Sie krallte sich an das, was sie kannte: Ein unsichtbares Raster legte sich über die Tanzenden. Planquadrate erschienen. Und Kamilla begann zu zählen.

Ebba ging an den Garderoben vorbei und steuerte einen Durchgang an. Dahinter war eine weitere Halle, in der eine andere Art Musik lief. Kayla hatte ihr den Unterschied erklärt, doch Ebba hatte gar nicht verstanden, wovon sie redete.

Sie wollte dies alles so schnell wie möglich hinter sich bringen. Ebba mochte diesen Ort nicht. Er war ein einziges Sündenbabel. Sie wollte niemandem einen Vorwurf machen, das war nicht ihre Art. Trotzdem hatte sie ihre Überzeugungen, und dieses schmutzige und unanständige Verhalten hier lehnte sie aus tiefstem Herzen ab.

Im Durchgang kam ihr ein Pärchen entgegen. Ein tätowierter Junge mit rasiertem Schädel und tellergroßen Ohrringen, die eher wie Folterinstrumente aussahen. Daneben ein Mädel, das beinahe nichts anhatte. Ein durchsichtiges Fähnchen bedeckte die notwendigsten Stellen, der Rest war nackte Haut. Sie schmiegte sich an ihn, als wollte sie jeden Moment stehen bleiben und in aller Öffentlichkeit kopulieren. Ebba wusste gar nicht, wo sie hinsehen sollte.

Da rempelte der Tätowierte sie auch schon an.

»Passen Sie doch auf, wo Sie gehen!«, herrschte Ebba ihn an.

Der junge Mann sah sie mit großen Augen an. Ebba beachtete ihn nicht weiter und ging in den Nebenraum. Unmöglich, diese Leute.

»Wer hat denn die Gouvernante hier reingelassen?«

Das machte Ebba nun doch wütend. Sie drehte sich um.

»Was meinen Sie denn mit Gouvernante, bitte sehr? Ich bin einfach ein ganz normaler Mensch, auch wenn ich hier die Ausnahme bin. Stört Sie das etwa?«

Doch der Mann suchte offenbar keinen Streit. Er trat den Rückzug an. »Schon gut, ich wollte Sie nicht angreifen.«

Das halb nackte Mädchen verdrehte die Augen.

»Keine Angst«, fuhr Ebba die beiden an. »Ich habe weder Interesse an Ihnen noch an diesem …«, sie suchte nach dem passenden Wort, »… Etablissement. Ich suche nur meinen Neffen, und dann bin ich schon wieder weg.«

»Ist ja gut, wir haben es verstanden.«

Sie wandten sich ab und gingen zu den Garderoben.

»Meine Güte, was für eine Mistkrähe«, flüsterte das Mädchen. »Der arme Neffe, der kann einem echt leidtun.«

»Sie sollten sich was schämen, Sie schamlose Person. Laufen hier rum wie eine billige Schlampe und beleidigen anständige ältere Menschen. Ist das die Jugend von heute? Dann ist es wirklich ein Trauerspiel.«

Die Leute drehten sich neugierig nach ihr um, und sie erntete einige böse Blicke. Ebba war klar, dass sie sich hier besser nicht so aufspielte. Trotzdem hatte es gutgetan, dieser Göre die Meinung zu sagen.

Sie drehte sich um und ging weiter. Sie würde Toni schon finden. Und wenn sie sich erst mit ihm versöhnt hatte, würde sie mal ein Wörtchen mit ihm reden, wo er sich am Wochenende so herumtrieb.

Kayla ging mit Helga in die Lounge. Helga sah sich neugierig um. War das die Welt, in der Kayla zu Hause war? Wie sehr sich das von allem unterschied, was sie bisher in Papenburg gesehen hatte. Oder in Oldenburg. Aber Kayla bewegte sich hier so selbstverständlich, als wäre das ihr Wohnzimmer.

Sie ging zur Theke und sprach mit einem Barkeeper. Dann kehrte sie zurück und nahm Helga zur Seite.

»Toni ist schon gegangen, wir sind zu spät. Micha war hier, er hat ihn mitgenommen.«

»Micha? Dann ist er also tatsächlich hergefahren?«

»Ja, sieht ganz so aus. Er wollte Toni wohl vor euch warnen.« Kayla seufzte. »Wir haben ihn verpasst.«

»Dann war alles umsonst«, sagte Helga.

Sie blickte sich um. Hieß das, sie würden jetzt wieder gehen? Dabei fand sie doch alles so aufregend hier. Sie wäre gern noch ein bisschen geblieben. Wolfgang würde sie nie wieder mit den Schwestern fortlassen, so viel stand fest. Nicht, nachdem sie ihr Handy in die Spree geworfen hatte. Eigentlich sollte sie diese letzten Stunden in Berlin ja genießen. Vielleicht würde so eine Gelegenheit nie wiederkehren.

»Was hältst du davon, wenn ich uns was zu trinken hole?«, fragte Kayla, als hätte sie ihre Gedanken gelesen. »Der Barkeeper da ist ein Kumpel von mir. Er hat ein paar geheime Cocktails auf Lager, bei denen verschlägt es dir die Sprache. Ich könnte dich mit ihm bekannt machen.«

»Aber Toni …«

»Toni ist eh über alle Berge. Wir sind zu spät. Ihr werdet ihn heute Nacht nicht mehr finden. Nicht, wenn er nicht gefunden werden will.«

»Du meinst …«

»Ganz genau«, sagte Kayla. »Ich meine, wir genehmigen uns jetzt erst mal einen anständigen Drink. Und dann sehen wir weiter. Schließlich haben wir noch die ganze Nacht vor uns.«

Kamilla dröhnte der Kopf. Es war unmöglich, die vielen Körper in diesem zuckenden Organismus zu zählen. Sie fühlte sich verloren, und langsam stieg Panik in ihr auf. Das dahinten waren Zwanzigergruppen, insgesamt hundertvierzig. Sie fürchtete aber, dass ihr welche durch die Lappen gegangen waren. Oder dort drüben: Waren in das bereits gezählte Kästchen schon wieder neue Menschen eingedrungen? Sie stolperte zurück und rempelte gegen eine Säule. Benommen blickte sie sich um.

Das war gar keine Säule. Es war ein Mann. Ein Riese. Kamilla, die mit ihren eins achtzig alles andere als eine kleine Person war, reichte ihm gerade mal bis zur Brust.

Sie sah auf. Ein bärtiges Gesicht. Er schien sich über sie zu amüsieren. In seiner Hand brannte eine bauchige Zigarette. Die sah genauso aus wie die von Henrik.

»Ist das eine Haschzigarette?«, fragte sie.

Er grinste. »So ist es.«

Sie dachte an das Gefühl, das sich bei ihr eingestellt hatte, nachdem sie von Henriks Zigarette probiert hatte. Da hatte sie sich ganz leicht und entspannt gefühlt. So unbedarft, dass ihr dummerweise das größte Familiengeheimnis herausgerutscht war. Trotzdem. Es war ein großartiges Gefühl gewesen, und wenn sie den Zwang loswerden wollte, die Tänzer zu zählen, genügte vielleicht schon ein kleiner Zug davon.

»Sagen Sie, dürfte ich vielleicht einmal daran ziehen?«

Sein Grinsen wurde breiter. »Aber sicher.«

Er reichte ihr die Zigarette, und Kamilla nahm einen tiefen Zug. Zu tief, denn sie musste furchtbar husten. Also nahm sie noch einen Zug, diesmal vorsichtiger. Und es funktionierte.

»Bist du das erste Mal hier?«, fragte der Mann.

Er wollte sie wohl auf den Arm nehmen. Kamilla spürte, wie sie sich entspannte.

»Was wäre, wenn ich Nein sagen würde?«, fragte sie keck.

»Dann würde ich dich für eine Hochstaplerin halten.«

Sie lachte ein perlendes Lachen. Dann fragte sie: »Darf ich noch mal?«

So plötzlich, wie der Türsteher hinter Ebba aufgetaucht war, hatte sie keine Gelegenheit gehabt zu reagieren. Und im nächsten Moment war sie auch schon ein paar Meter zur Seite gedrängt worden.

»Na, hören Sie mal! Was denken Sie sich dabei?«

»Kommen Sie mit«, sagte er kühl. »Leisten Sie keinen Widerstand.«

Als wäre er ein Polizist und Ebba ein räudiger Taschendieb.

»Ich muss Sie doch sehr bitten! Ich … Aua!«

Er hatte sie am Handgelenk gepackt und schob sie weiter vor sich her. Ebba konnte nichts dagegen tun, sein Griff war wie Stahl. Er war ein Bär von einem Mann.

»Ich habe nichts verbrochen. Lassen Sie mich los.«

Doch innerlich hatte sie längst aufgegeben. Der Mann war stärker als sie, und er war es gewohnt, Leute hinauszubefördern.

Bestimmt hatte sich dieses Flittchen mit dem tätowierten Freund über sie beschwert. Ebba hatte einen Fehler begangen. Sie hätte sich mit den Leuten hier nicht anlegen dürfen.

»Also gut, ich gehe ja. Aber lassen Sie mich los. Ich komme freiwillig mit.«

Doch nichts. Sie blickte in ein unbewegtes Gesicht. Eine Maske der Entschlossenheit. Als hätte Ebba randaliert oder um sich geschossen.

»Ich gehe alleine!«, versuchte sie es noch mal. Aber keine Chance.

Am Eingang sah sie Toni. Er ging gerade ins Freie, gefolgt von Micha.

»Toni! Toni!«

Der drehte sich um, entdeckte sie – und erstarrte. Völlig perplex verfolgte er, wie seine Tante an ihm vorbei nach draußen geschoben wurde.

»Lass dich hier nie wieder blicken«, brummte der Türsteher und setzte Ebba ab. »Hast du gehört? Du hast hier Hausverbot.«

Toni sah fassungslos zwischen ihm und Ebba hin und her. Dann schüttelte er den Kopf, gab Micha ein Zeichen und wandte sich zum Gehen.

»Toni! Lauf nicht weg! Du bleibst, wo du bist!«

Der vertraute Befehlston hatte noch immer Erfolg. Wenn auch nur instinktiv, jedenfalls drehte sich Toni zu ihr um.

Ebba klopfte sich die Hände ab und zog ihre Bluse glatt, die unter den Griffen des Mannes gelitten hatte. Sie war außer sich vor Wut. Hausverbot. Was bildete sich dieser Vogel eigentlich ein?

»In diesem schmutzigen Bordell verbringst du deine Wochenenden? Ich muss mich doch sehr über dich wundern, Toni Müller. Ich hatte gedacht, wir hätten dir mehr Anstand und Benehmen beigebracht. Du solltest dich was schämen!«

Es sah aus, als wollte er etwas sagen. Doch dann winkte er nur genervt ab, drehte sich um und ging weiter.

»Bleib stehen, wenn ich mit dir rede!«

»Und weshalb? Was hast du mir schon zu sagen? Gar nichts.«

»Ich habe dir sehr wohl was zu sagen, junger Mann. Und dein Ton gefällt mir überhaupt nicht. Bei allen Problemen, die wir miteinander haben, brauchen wir nicht so einen Ton anzuschlagen. Hast du das verstanden?«

»Dir kann völlig egal sein, was ich für einen Ton anschlage. Du hast mir nämlich nichts mehr zu sagen. Wir haben nichts miteinander zu tun. Wir sind nicht verwandt.«

»Ach was, natürlich sind wir das! Was redest du für einen Unsinn! Du bleibst mein Neffe und aus.«

»Hör doch auf mit deinen Lügen. Ich war heute bei meinem Vater. Ich weiß, wer mich gezeugt …«

»Ach, dieser Idiot! Dein Vater ist Curt. Bei all seinen Fehlern und bei allem, was man gegen ihn sagen kann. Er ist immer noch besser als dieser Gerd Kowalski.«

»Besser? Darum geht es also? Wer besser ist? Euren Curt könnt ihr schön behalten. Als Vater brauche ich den nicht.«

Ebba wollte was erwidern, doch Toni fuhr ihr über den Mund. »Jetzt lasst mich doch in Ruhe! Was soll das überhaupt? Ich kenne jetzt die Wahrheit. Warum verschwindet ihr nicht endlich aus meinem Leben?«

»Mein Gott, wir lieben dich!«, herrschte sie ihn an. »Wir lieben dich, und wir wollen dich nicht verlieren. Ist das denn so schwer zu verstehen?«

Stille. Da waren nur die Bässe, die aus dem Klub drangen. Ebba und Toni starrten sich wortlos an. Beide atmeten schwer, als hätten sie gerade einen Boxkampf hinter sich gebracht.

Die Eingangstür öffnete sich, und eine Gestalt kam herausgelaufen. Es war Kamilla. Sie entdeckte Toni und Ebba auf dem Vorplatz und kam mit ausgestrecktem Arm auf sie zugelaufen. Erst da erkannte Ebba, dass es ein Handy war, das Kamilla vor sich her trug. Ihr Gesicht war schreckensstarr.

»Da war Rainer dran«, sagte sie. »Weißt du noch? Rainer Bördemann aus Papenburg.«

»Ja, und weiter?«, fragte Ebba.

»Claire. Sie ist im Krankenhaus. Die Ärzte sprechen von Unterkühlung mit Verdacht auf Lungenentzündung. Wir sollen sofort kommen.«