2. Kapitel

Toni war sechs, als er das erste Mal zu Tante Ebba kam. Er verstand gar nicht, was los war. Mama ist zur Kur, hieß es. Wieder einmal. Und: Diesmal wirst du bei Tante Ebba bleiben. Da wird es bestimmt total schön. Du wirst den ganzen Tag mit deinen drei Cousins spielen können. Hier hast du ja keine Kinder in dem Alter.

Toni hatte versucht zu lächeln. Das schienen alle von ihm zu erwarten. Also sagte er keinem, was seine drei Cousins unter Spielen verstanden: ihn in Erdlöchern gefangen zu halten und mit Spinnen und Schnecken zu füttern. Er hoffte einfach, seine Mutter würde bald zurückkehren und ihn wieder zu sich nehmen.

»Du wirst eine Weile hierbleiben«, begrüßte ihn Tante Ebba in dem kalten Hausflur. Sie nahm sein Gepäck, und ihr Blick wanderte über seine Schulter hinweg in die Ferne. Für einen kurzen Moment wurde ihr hartes Gesicht ganz weich.

»An dir ist nichts falsch, min Jung. Hörst du? Es ist nur alles so kompliziert. Aber du trägst keine Schuld.«

Sie strich mit ihrer rauen, schwieligen Hand über sein Gesicht und kniff ihm viel zu fest in die Wange. Ihre Finger fühlten sich an wie Schmirgelpapier, aber er protestierte nicht.

»Und jetzt zieh deine Schuhe aus, und wasch dir die Hände. In diesem Haushalt wird Ordnung gehalten. Aber das wirst du noch lernen, dafür sorge ich.«

Tante Ebba war alt geworden. Das Haar war schlohweiß, und ihre Bewegungen wirkten längst nicht mehr so energisch wie früher. Dabei war es erst drei Jahre her, seit Toni sie das letzte Mal gesehen hatte. Oder vier? Aus irgendeinem Grund freute er sich plötzlich, sie zu sehen. Vielleicht lag das an dem Casting, das so furchtbar gewesen war. Da tat es gut, ein vertrautes Gesicht zu sehen.

Doch wenn er mit einer emotionalen Begrüßung gerechnet hatte, dann lag er falsch. Tante Ebba trat auf ihn zu, umfasste entschlossen seinen Oberarm und zog ihn zu sich heran.

»Toni, schön, dich zu sehen. Wir brauchen eine Toilette für Tante Kamilla. Und zwar schnell. Du weißt ja, wie sie ist. Sie hat sich geweigert, die Bustoilette zu benutzen. Lieber macht sie sich in die Hose, hat sie gesagt. Und lange wird das nicht mehr dauern.«

»Eine Toilette?« Er musste erst mal umschalten. »Na ja, da vorne ist McDonald’s. Sonst weiß ich auch nicht …«

»Gut. Das wird ihr nicht gefallen, aber es ist nicht zu ändern. Wir brauchen das Desinfektionsset aus ihrem Koffer. Wo ist denn der Busfahrer? Er muss ihren Koffer aus dem Gepäckraum holen.«

Tante Ebba blickte sich suchend um, dann ließ sie ihn los und steuerte den Busfahrer an. Über die Schulter rief sie Toni zu: »Kümmere dich so lange um die anderen, ich kläre das mit Kamilla. Dann kommen wir zurück.«

Bevor er antworten konnte, war sie bereits abgetaucht. Er blieb etwas irritiert zurück. Ein tränenreiches Wiedersehen sah anders aus.

Er beobachtete die anderen Landfrauen, die aus dem Bus stiegen. Als Nächstes war da Tante Claire.

»Du hast aber ein hübsches Kleid genäht. Ist das für deine Barbiepuppe?«

Toni strahlte. »Ja. Sie hat ja gar nichts mehr anzuziehen. Nur noch die Sachen aus der letzten Saison. Sie braucht im Prinzip eine ganz neue Garderobe.«

Nur mit Tante Claire konnte man über diese Dinge sprechen. Manchmal fehlte ihr zwar der Sinn für Farbkombinationen. Oder sie wusste einfach nicht, was sich gehört, zum Beispiel wenn Barbie zum Lunch in der besseren Gesellschaft eingeladen war. Tante Claire schlug dann vor, Barbie sollte ein schlichtes Businesskostüm tragen. Das muss man sich mal vorstellen!

Trotzdem. Bei Herrn Vollmer, dem Besitzer des Spielwarenladens, war das ganz anders gewesen. Unter seinen missbilligenden Blicken hatte Toni instinktiv gelogen: »Die Barbie ist für meine Schwester.« Und schlagartig hatte sich Herrn Vollmers Abscheu in Bewunderung gewandelt, und er schwärmte den Kunden vor: »Sein ganzes Taschengeld gibt der Junge für seine Schwester aus. So einen Bruder kann sich jedes Kind nur wünschen.«

Bei Tante Claire war sein Geheimnis in guten Händen. Sie hatte ein Bastelzimmer, und mittendrin bewahrte sie den unglaublichsten aller Schätze auf: eine Truhe, randvoll mit Stoffen, Fellen, Knöpfen, Perlen, Garn und Ketten. Und jedes Mal, wenn Toni bei ihr war, kam irgendwann die Frage: »Was meinst du, Toni? Sollen wir uns die Glitterkiste angucken?«

Die Gefühle, die das in ihm auslöste, waren überhaupt nicht zu beschreiben. Toni war schon als Kind der festen Überzeugung gewesen, kein Mädchen könne eine so reine und vollkommene Freude beim Öffnen von Tante Claires Glitterkiste empfinden wie er. Dieses heilige Glück beim Anblick einer strassbesetzten Öse, das war allein Jungen vorbehalten.

Das war gewesen, bevor es mit seiner Mutter schlimmer wurde. Da war sie noch regelmäßig von der Kur zurückgekommen. Später, als bei ihm zu Hause alles düster und traurig geworden war, da empfand er dieses Glück nicht einmal mehr in Tante Claires Bastelzimmer. Im Gegenteil, da war ihm jedes Mal, wenn die Glitterkiste geöffnet wurde, beinahe zum Weinen zumute gewesen. Als wäre dieser Schatz in ihrem Bastelzimmer ein Symbol für die unbeschwerte Zeit, die so jäh zu Ende gegangen war. Für seine verlorene Kindheit.

Tante Claire stieg mit der ihr eigenen Eleganz die Stufen des Busses herab. Wie Sophia Loren in einem alten Schwarz-Weiß-Film. Als Kind war es Toni gar nicht bewusst gewesen, wie schön seine Tante war. Natürlich, sie war immer gut angezogen gewesen, und außerdem hatte sie wunderschöne, lange und tiefschwarze Haare. Aber trotz allen Schicks war sie eben eine sehr alte Person gewesen. Knapp über vierzig, wenn er richtig zurückrechnete. Wahrscheinlich hatte Tante Claire mit ihren Stiltipps für Barbie in der Regel richtiggelegen. Hätte er nur auf sie gehört, Barbie hätte bestimmt davon profitiert.

Als sie ihn entdeckte, leuchtete ihr Gesicht auf. Ihre Lippen formten seinen Namen, und sie trat auf ihn zu. Es sah aus, als wollte sie ihn umarmen, aber dann lächelte sie nur und gab ihm höflich die Hand.

»Hallo, Toni. Wir haben uns lange nicht gesehen.«

»Das stimmt. Ich hoffe, es geht dir gut, Tante Claire.«

In dem Moment tauchte Tante Kamilla hinter ihr auf, mit roter Plastikbrille und modischer Kurzhaarfrisur. Wie es aussah, hatte sie in den letzten Jahren etwas an Gewicht verloren, trotzdem wirkte sie noch immer wie eine pralle Emsländer Walküre. Tante Kamilla schob sich an Tante Claire vorbei und lief hinter Tante Ebba her.

»Ebba, ich kann nicht zu McDonald’s! Doch nicht hier! Guck dich mal um. Da hol ich mir die Syphilis. Oder noch Schlimmeres. Ich setz da keinen Fuß rein.«

»Stell dich nicht so an. Das wird schon einmal gehen. Wir haben gleich deine Desinfektionstasche, eine Sekunde noch.«

»Selbst im Strahlenschutzanzug geh ich da nicht rein. Ebba, tu doch was. Ich mach mir gleich in die Hose.«

Ebba wandte sich an Toni. »Junge! Gibt es denn nur die Toilette bei McDonald’s?«

»Ähm, ich weiß nicht … Ich glaub, da ist noch eine Toilette im Bahnhofsgebäude.«

Tante Kamilla erstarrte. »Du meinst ein Bahnhofsklo?«

»Die sind doch heutzutage gar nicht mehr so. Komm schon, Kamilla. Für so einen Unsinn haben wir jetzt keine Zeit.«

Kamillas Stimme klang gepresst vor lauter Panik. »Lieber sterbe ich.«

Tante Ebba wurde ungeduldig. »Toni!«

»Ich weiß doch auch nichts anderes!«

Missmutig ließ Tante Ebba den Blick umherschweifen, dann fasste sie einen Entschluss.

»Komm, Kamilla. Wir gehen da vorne in die Büsche. Ich halte Wache.«

Bevor sie protestieren konnte, packte Tante Ebba ihre jüngere Schwester am Arm und zog sie einfach mit sich. Toni überlegte kurz, ob er den beiden sagen sollte, dass dort im Gebüsch ein Treffpunkt für Junkies war, die sich in Ruhe einen Schuss setzen wollten. Aber besser nicht. Er hoffte nur, dass Tante Kamilla nicht in eine Spritze trat.

Tante Claire lächelte ihn an.

»Du siehst, Kamilla hat sich nicht geändert.«

»Ja, das stimmt.«

Toni fühlte sich befangen. Er wünschte sich, etwas lockerer zu sein. War es denn schon so lange her, dass sie gemeinsam mit seiner Barbiepuppe gespielt hatten?

»Du bist ein sehr gut aussehender junger Mann geworden, Toni. Bestimmt liegen dir die Frauen zu Füßen.«

»Ich weiß nicht, Tante Claire. Aber danke fürs Kompliment.«

»Ich würde mir so gerne das Stück ansehen, in dem du mitspielst. Aber Ebba hat gesagt, diese Woche gibt es gar keine Vorstellungen? Stimmt das denn?«

Das war eine kleine Notlüge gewesen. »Ja, diese Woche ist Pause, leider.«

»Wie schade. Jetzt kann ich dich gar nicht als Schauspieler bewundern?«

»Leider nein, Tante Claire.«

Er wusste nicht, was er noch sagen sollte.

»Ebba! O Gott, hier liegt einer!«

Am Bus war plötzlich Bewegung.

»Antonius! Mein Antonius!«

Tante Immi stolperte heraus und eilte mit breitem Lachen auf ihn zu.

Nach der Beerdigung seiner Mutter kam Toni zu Tante Immi. So lange, bis eine Lösung gefunden wäre, hatte es geheißen. Tante Immis Herz war aus Gold und mindestens so groß wie ihr wuchtiger Körper. Ein besseres Zuhause gab es für ein verstörtes, tieftrauriges Kind wohl nicht.

Aber gleich am ersten Morgen kam die Kehrseite der Medaille zum Vorschein. Da saß Tante Immi in aller Herrgottsfrühe an seinem Bett und weckte ihn sanft, in ihrem Gesicht ein liebevolles Lächeln.

»Aufstehen, Antonius. Es ist Zeit.«

Dabei war es draußen noch nicht einmal hell gewesen.

»Ich bin so müde. Kann ich nicht noch ein bisschen liegen bleiben?«

Tante Immi sah ihn verständnislos an. »Aber die Kühe müssen gemolken werden. Du kannst dabei helfen, sie in den Melkstall zu treiben.«

Und damit war alles gesagt. Egal, was Toni auch versuchte, um die viele Arbeit kam er nicht herum.

»Ich mag aber auf dem Hof nicht mithelfen, das macht mir keinen Spaß. Verstehst du das denn nicht, Tante Immi?«

Doch Tante Immi drückte ihn einfach an ihren großen Busen, strich ihm liebevoll durchs Gesicht und sagte: »Ich mach dir erst einmal eine große Tasse heißen Kakao. Dann ist das Arbeiten auch gar nicht mehr so schlimm, oder?«

Es dauerte, doch irgendwann gewöhnte sich Toni an das Leben auf dem Bauernhof. Manchmal machte ihm die Arbeit sogar Spaß. Und als es sich endlich anfühlte, als hätte er nie ein anderes Zuhause gehabt, da hieß es: »Jetzt ist es so weit, Toni. Dein Vater wird dich wieder zu sich nehmen.«

Und Tante Immi hatte dagestanden, mit einem liebevollen Lächeln, und gesagt: »Dort gehörst du hin, Antonius. Das ist dein Zuhause.« Und weil er stumm zu Boden geblickt und sich nicht bewegt hatte, war er im nächsten Moment wieder in ihren Armen gewesen: »Na, komm schon, mein Engel, ich mach dir erst mal einen schönen heißen Kakao. Dann fällt das Abschiednehmen gar nicht mehr so schwer.«

Tante Immi raste wie eine Dampflok auf ihn zu.

»Antonius, mein Junge!«, rief sie und schloss ihn stürmisch in ihre Arme. Toni bekam keine Luft mehr. »Ich freu mich so, dich zu sehen. Wer hätte das gedacht, jetzt komm ich auf meine alten Tage noch mal nach Berlin. Beim letzten Mal hat ja die Mauer noch gestanden, das war dreiundsiebzig, und wir wurden in Helmstedt zwei Stunden lang gefilzt, du weißt schon, wo dieser Major war, der Margret Muggenborg zwei Stunden lang vernommen hat, also das muss man sich mal vorstellen, als wäre sie eine Spionin vom CIA, unsere Margret. Nun ja, seitdem hat sich wohl einiges getan. Ach, wie schön ist es, wieder hier zu sein. Ich freu mich so. Berlin, so eine große Stadt. Und du wirkst auch ganz weltmännisch. Ich hoffe doch, wir müssen dich jetzt nicht siezen.«

Hinter ihr stieg Tante Helga aus dem Bus. Wie immer stark geschminkt und mit perfekt sitzender Frisur. Doch heute lagen ihre Augen hinter einer Sonnenbrille verborgen, und ihre Bewegungen wirkten steif und schmerzvoll.

»… und was wir unterwegs alles gesehen haben«, plapperte Tante Immi weiter, »du machst dir keine Vorstellung. Die alten Grenzanlagen sind ja kaum noch auszumachen, ganz verrottet ist das alles, aber wer weiß, wo sie stehen, der kann sie noch entdecken. Ich habe zu deiner Tante Helga gesagt, sie soll …«

»Hallo, Toni«, kam es gepresst von Tante Helga.

In diesem Moment schallte Tante Ebbas Stimme über den Platz. »Immi! Komm her und hilf deiner Schwester!«

Tante Immi winkte ihr zu und wandte sich dann wieder an Toni. »Helga hat Rückenschmerzen. Die ganze Fahrt über hat sie dagesessen wie ein Stockfisch. Mir macht es ja nichts aus, im Bus zu sitzen, ich könnte tagelang mit dem Bus fahren, das wäre herrlich, aber Helga …«

»Immi!«, rief Tante Ebba. »Hörst du nicht?«

»Ist ja gut, ich komm schon.« Tante Immi lächelte Toni entschuldigend zu und lief Richtung Gebüsch.

Tante Helga stützte sich mit schmerzverzerrtem Gesicht auf einen Koffer. Toni wusste bei ihr nie so recht, was er sagen sollte. Sie mochte keine Kinder, und so hatten sie damals nur wenig miteinander zu tun gehabt.

Etliche Minuten verstrichen, bis die anderen zurückkehrten. Tante Kamilla hatte alles gut überstanden und war offensichtlich auch mit keiner Spritze in Berührung gekommen. Bevor Toni sie jedoch gebührend begrüßen konnte, übernahm Tante Ebba wieder das Zepter.

»So, sind alle da? Habt ihr eure Koffer? Ist nichts mehr im Bus?« Sie holte Luft. »Also gut. Dann kann es jetzt losgehen.«