Auf der Treppe, die zum U-Bahnhof hinunterführte, rief Tante Ebba: »Bleibt alle zusammen! Hört ihr? Alle zusammenbleiben!«
Mit Taschen und Rollkoffern bewaffnet, bildeten die Tanten eine Ellipse und bewegten sich dann wie ein Panzer durchs Gewühl. Tante Ebba steuerte einen Fahrkartenautomaten an, den sie am anderen Ende der Halle entdeckt hatte.
»Warte, Tante Ebba! Lass uns lieber …«
Doch Toni wurde nicht gehört.
»Tante Ebba! Jetzt warte doch!«
Nur Tante Helga bemerkte, dass er etwas gesagt hatte, und drehte sich zu ihm um. Doch als sie die anderen unbeirrt weiterlaufen sah, beschloss sie nach kurzem Zögern, doch lieber so zu tun, als wäre nichts gewesen. Im Zweifelsfall folgte man besser Tante Ebba.
Toni seufzte. Er hatte eigentlich geplant, sich am Fahrkartenhäuschen beraten zu lassen. Aber jetzt würden sie es eben mit dem Automaten versuchen. Das war vielleicht etwas schwieriger, aber natürlich nicht unmöglich. Er beeilte sich also, um Tante Ebba einzuholen.
Ein junger Tourist versperrte den Weg. Stand einfach vor dem Automaten herum und studierte seinen U-Bahn-Plan.
»Wie lange brauchen Sie denn noch?«, herrschte Tante Ebba ihn an. Er sah erschrocken auf, wahrscheinlich ohne ein Wort verstanden zu haben, und hastete verstört davon.
»Also wirklich, Leute gibt’s«, murmelte sie und stellte den Rollkoffer ab. Dann nahm sie den Automaten in Augenschein.
Toni wurde auf Tante Kamilla aufmerksam. Sie stand ein wenig abseits, hatte die Stirn in Falten gelegt und beobachtete nervös die Menschenmenge. Dabei wirkte sie irgendwie fiebrig und gehetzt.
»Tante Kamilla …?«
Doch sie hatte weder Augen noch Ohren für Toni.
Tante Claire trat neben ihn. »Es ist in letzter Zeit schlimmer geworden mit ihr«, sagte sie leise. »Sie zählt nun auch Menschen.«
Toni kannte natürlich Kamillas Zählzwang. Doch bisher hatte sie nur tote und unbewegte Dinge gezählt. Häuser zum Beispiel oder Geländerstreben und Marmeladengläser. Dann zählte sie, addierte, subtrahierte, stellte Zahlenpaare gegeneinander, bildete Quersummen und berechnete Perioden – mit anderen Worten: fand ihren Frieden in der Welt. Es war eine mühselige Angelegenheit, doch Tante Kamilla konnte nicht anders. Sie musste das nun mal tun. Und alle anderen hatten sich daran gewöhnt.
»Seit wann zählt sie denn Menschen?«, fragte er.
»So genau wissen wir das nicht. Seit einem Jahr etwa. Sie macht das aber nur, wenn sie in einer Stresssituation ist.«
Toni hätte ihr gern irgendwie geholfen, doch er hatte früh gelernt, sie am besten nicht zu stören, wenn sie gerade zählte. Er erinnerte sich, wie sie jeden Samstag zum Großeinkauf in die Stadt gefahren waren und Toni auf der Rückbank immer schweigen musste, um Tante Kamilla nicht beim Straßenlaternenzählen zu stören.
Einmal hatte er ein riesiges Feuerwehrauto gesehen, mit ausgefahrenem Leiterwagen und einem Feuerwehrmann, der ein Kätzchen von einem Baum holte, und er hatte gerufen: »Tante Kamilla, guck mal! Der Mann da mit der Muschi!« Und Kamilla, völlig aus dem Konzept geraten, war mit dem großen Kombi so schwer ins Trudeln geraten, dass sie beinahe ins Schaufenster einer Bäckerei gerast wären.
Nach der Vollbremsung hatten sie quer auf dem Bürgersteig gestanden, und Toni hatte sofort gewusst, dass er an dieser Eskalation schuld war: Hätte er doch nur geschwiegen. Tante Kamilla erholte sich zwar schnell von dem Beinaheunfall, doch das änderte nichts an ihrer Fassungslosigkeit. Sie hatte nur noch Augen für die Kette der Straßenlaternen, die sie bereits passiert hatten.
Es dauerte, bis sie ihr Unglück in Worte fassen konnte: »Jetzt hab ich die Zahl vergessen.« Der Satz lastete schwer in der Stille des Wagens. Bis Toni irgendwann fragte: »Müssen wir jetzt zurückfahren?« Kamilla rang einen Moment mit sich und wirkte plötzlich ganz verloren, bis sie schließlich sagte: »Nein. Das ist doch Unsinn. Wir fahren nach Hause.« Und sie fuhr. Ohne zurückzublicken. Doch für den Rest des Tages war alle Freude von ihr gewichen.
»Wie geht das denn hier, verflucht noch mal!« Tante Ebba schlug mit der Hand auf den Automaten ein. »So eine blöde Maschine!«
Toni versuchte sich vorzudrängen. »Tante Ebba …«
Doch Ebba bewegte sich nicht vom Fleck.
»Ebba, jetzt lass Toni doch mal ran«, versuchte Tante Claire zu vermitteln.
»Irgendwie muss das hier funktionieren! Ah, jetzt hab ich’s.«
»Tante Ebba …«
»Geht doch mal alle weg, ich hab’s ja gleich.«
»Aber …«
»Und jetzt muss ich hier drücken, seht ihr?« Sie hielt inne. »Aber welches Ticket brauchen wir denn? Wer soll das alles verstehen?« Sie blickte sich suchend um. »Toni! Wo bleibst du denn? Jetzt hilf doch mal!«
Toni stellte sich neben sie. Dabei versuchte er Tante Kamilla nicht aus den Augen zu lassen. Die sah nämlich inzwischen ganz blass aus. Das Zählen der vielen Menschen überforderte sie offensichtlich. Sie stolperte ein paar Schritte zurück. Er würde aufpassen müssen, dass sie nicht verloren ging.
»Am besten guckst du dir die Gruppenkarten an, Tante Ebba«, sagte er. »Siehst du, hier?«
Sie fegte seine Hand vom Monitor. »Nein, warte! Ich will keine Karte, die nur für heute gültig ist.«
»Aber ihr seid doch …«
»Ach was! Jetzt lass mich mal machen!«
Toni atmete durch. Er wollte sich nicht aufdrängen, schließlich hatte er das Tarifsystem der BVG selbst nie so ganz verstanden. Also ließ er Tante Ebba ein vermutlich viel zu teures Ticket wählen, ohne sich weiter einzumischen. Alle zückten ihre Portemonnaies und kramten nach Kleingeld.
Nur Tante Kamilla nicht. Die stand inzwischen mit dem Rücken an der gekachelten Wand, und ihre Lippen bewegten sich stumm beim Zählen.
Hinter ihnen fuhr ein Zug in den Bahnhof ein.
»Ist das unserer?«, fragte Tante Ebba aufgeschreckt.
»Ja, schon. Aber wir können auch den nächsten …«
»Beeilung! Den kriegen wir noch!«
In Windeseile gingen die Münzen in den Schlitz, und das Ticket wurde gedruckt. Dann rafften alle ihr Gepäck zusammen, und es ging los.
»Schnell, den kriegen wir noch!«
Toni spürte, wie auch sein Herzschlag sich beschleunigte. Er blickte sich um. Tante Kamilla. Er hastete auf sie zu, nahm sie am Arm und zog sie mit sich. Ein schwaches »Nein!« entfuhr ihr, doch darauf konnte er keine Rücksicht nehmen. Es war ohnehin das Beste, einer beendete diese sinnlose Zählerei. Tante Ebba hatte den Zug bereits erreicht.
»Zurückbleiben, bitte!«, tönte es aus den Lautsprechern.
Die anderen holten auf. Tante Ebba stellte sich breitbeinig zwischen die Türen. »Beeilt euch!«
Tante Claire und Tante Immi huschten an ihr vorbei in den Waggon.
»Können Sie nicht hören?«, donnerte es aus den Lautsprechern. »ZURÜCKBLEIBEN!«
»Schnell!«, rief Tante Ebba. Schon hatten Toni und Kamilla die Zugtüren erreicht. Plötzlich erstarrten Ebbas Gesichtszüge. Tante Helga fehlte. Sie war weder im Zug, noch stand sie auf dem Bahnsteig.
»Wat is denn an ›Zurückbleim‹ so schwer zu vastehn, junge Frau!«, rief es aus dem Lautsprecher.
»Hört ihr schlecht?«, brüllte jemand aus dem Zug. »Rein oder raus, ihr verdammten Vogelscheuchen!«
Tante Ebba gab die Bahn verloren. Alle traten zurück auf den Bahnsteig. Die Türen schlossen sich, und der Zug fuhr ohne sie los. Die Niederlage war ihr anzumerken. Dann wandte sie sich an die anderen und fragte: »Wer hat Helga als Letztes gesehen?«
Die Suche begann am Fahrkartenautomaten. Die Halle war immer noch voller Menschen. Da konnte leicht einer verloren gehen. Toni ärgerte sich, nur auf Tante Kamilla achtgegeben zu haben.
»Was würdet ihr denn an Tante Helgas Stelle tun?«, fragte er. »Würdet ihr nicht auch zum Ausgangspunkt zurückgehen?«
»Das möchte man annehmen«, knurrte Tante Ebba. »Aber bei deiner Tante Helga würde ich nicht darauf wetten. Sie ist noch nie mit viel Vernunft gesegnet gewesen.«
»Da ist sie ja!«, rief Tante Immi und deutete mit ausgestrecktem Finger quer durch die Halle. »Da hinten, am Zeitungsstand!«
Tatsächlich, Tante Helga stand seelenruhig vor einem Kiosk und betrachtete den Postkartenständer. Als wäre sie gerade auf dem Weg zum Friseur, ohne es dabei sonderlich eilig zu haben. Die Gelassenheit in Person.
Tante Ebba erreichte sie als Erste.
»Helga! Was machst du denn hier?«
Tante Helga wirbelte herum.
»Oh, da seid ihr ja! Was für ein Glück!« Sie schob sich die Sonnenbrille ins Haar. »Ich wusste nicht, was ich machen sollte. Auf einmal wart ihr alle weg.«
»Und dann stehst du hier herum und siehst dir Postkarten an? Warum suchst du uns nicht? Wir wären beinahe mit der Bahn weggefahren.«
»Ich …« Tante Helga sah verlegen in die Runde.
»Du hättest wenigstens zum Automaten zurückgehen können. Da sucht man doch als Erstes!«
»Ich hab kurz drüber nachgedacht. Aber dann hätte ich ausgesehen wie eine Touristin. Die Leute hätten am Ende noch gedacht, ich wäre irgendein Bauerntrampel, der sich in der Großstadt nicht zurechtfindet.«
Sie nahm Haltung an, und ihr perfekt geschminktes Gesicht erstarrte zu einer vornehmen Maske.
»Ich möchte nicht wie ein Landei wirken.«
Toni lächelte. Im Grunde war damit alles über Tante Helga gesagt. Tante Ebba seufzte, vergewisserte sich, dass alle da waren, und steuerte wieder den Bahnsteig an.
»Kommt! Und jetzt bleiben wir zusammen!«
Es dauerte nicht lange, bis der nächste Zug einfuhr. Er war ebenfalls überfüllt, und es war gar nicht so einfach, fünf Tanten samt Gepäck hineinzubefördern. Sitzplätze waren ohnehin keine mehr frei, und so drängten sich alle in den Gang, während Toni die Koffer an einem freien Fleck neben dem Eingang übereinanderstapelte.
Tante Ebba umklammerte die Haltestange und betrachtete konzentriert das Gruppenticket.
»Bitte entwerten«, las sie vor. Und schlagartig änderte sich ihr Gesichtsausdruck. »O Gott! Die muss abgestempelt werden! Die ist gar nicht gültig!«
Mit einem Satz war sie draußen. »Wartet kurz!« Und dann hastete sie zurück zum Automaten.
Toni drehte sich ruckartig um. Der Gepäckstapel geriet aus dem Gleichgewicht, und Tante Immis schwerer Koffer rutschte ihm gegen das Schienenbein. Er unterdrückte einen Aufschrei.
»Zurückbleiben bitte!«, erklang es aus den Lautsprechern.
Seine Tanten sahen unruhig hinaus. Wenn Ebba sich nicht beeilte, würde sie es nicht mehr schaffen. Endlich hatte sie das Ticket abgestempelt und begann loszulaufen.
»Beeil dich!«, rief Tante Immi.
Aber da erklang schon der Signalton. Es war zu spät. Die Türen schlossen sich, und die Bahn setzte sich in Bewegung. Das Letzte, was Toni sah, bevor der Zug in den Tunnel fuhr, war Tante Ebbas völlig verdattertes Gesicht auf dem Bahnsteig.
»Beruhigt euch! Jetzt beruhigt euch doch! Kein Problem! Wir rufen sie einfach an!« Toni fingerte umständlich sein Handy hervor. Er hatte schweißnasse Hände. »Ich habe ihre Handynummer, hört ihr? Alles gar kein Problem.«
Doch so leicht waren Ebbas Schwestern nicht zu beruhigen.
»Wir wissen nicht einmal, wo unser Hotel ist«, jammerte Tante Kamilla. »Ebba hat sich ja um alles gekümmert.«
»Wo sollen wir denn jetzt übernachten?«, wollte Helga wissen.
»Wie hieß das Hotel denn noch?«, fragte Claire.
»Im … Im … Im … Irgendwas mit Im, oder?«, glaubte Immi.
»Ich mein ja eher Am, wie Ambrassador.«
»Nie im Leben hieß das Ambrassador.«
»Ja, aber so ähnlich. Imperial?«
Tante Immi streckte die Arme in die Luft. »Ebba hat mir die Buchung doch gezeigt! Ich dumme Gans, warum habe ich mir den Namen nicht gemerkt?«
»Immi, versuch dich zu erinnern!«
»Erinnere dich doch!«
»Mein Gott, ich weiß es nicht mehr!« Sie sah hoffnungslos in die Runde. »Dabei hat Ebba mir alle Unterlagen gezeigt. ›Was sind das für hübsche Zimmer‹, habe ich noch gesagt. ›Und so vornehm sehen die aus. Das wird die reinste Wonne sein, in so einem hübschen Hotel zu wohnen.‹ Und dann hab ich ihr alles zurückgegeben. Ach, hätte ich doch nur besser aufgepasst!«
Endlich stand die Verbindung. Toni drückte sich das Handy ans Ohr. Eine elektronische Stimme erklang: »Der Teilnehmer ist vorübergehend nicht erreichbar.«
»Wenn ich es sehen würde, glaubt mir, ich würde es sofort erkennen. Aber so?«
»Ach herrje! Was passiert jetzt nur mit uns?«
»Sie hat ihr Handy ausgeschaltet!«, mischte sich Toni ein. »Warum hat Tante Ebba ihr Handy nicht an?«
Die Tanten blickten irritiert. Schließlich sagte Tante Kamilla: »Sie stellt es nur zum Telefonieren ein. Um Strom zu sparen. Das machen wir alle so.«
»Aber …«
Toni sah in Kamillas verwundertes Gesicht. Es hatte wohl wenig Sinn, weiter darauf einzugehen.
Draußen wurde es wieder hell. Der Zug fuhr in den nächsten Bahnhof ein.
»Los, kommt«, sagte er. »Wir steigen erst mal aus. Ich nehme Tante Ebbas Gepäck.«
Völlig verstört stolperten die Tanten mit ihren Sachen hinaus auf den Bahnsteig. Ausgerechnet Tante Ebba musste verloren gehen. Jede andere wäre zu verkraften gewesen, weil Ebba dann schon gewusst hätte, was zu tun war. Doch so musste jemand anders das Kommando übernehmen. Und Toni fühlte sich kaum dazu in der Lage.
Panik schlich sich in Tante Kamillas Stimme.
»Ich schlafe jedenfalls nur in unserem Hotel, das steht schon mal fest. Ich brauche Laternenlicht im Zimmer, so wie bei mir zu Hause. Sonst mache ich die ganze Nacht kein Auge zu. Ebba hat extra im Hotel angerufen, damit ich ein Zimmer kriege, wo Laternenlicht hereinfällt.«
»Kamilla, es geht jetzt mal ausnahmsweise nicht um dich, hörst du?«
»Weiß Ebba denn, wo Toni wohnt? Vielleicht kommt sie zu ihm und wartet dort auf uns. Hat sie seine Adresse?«
»Toni? Weiß Ebba, wo du wohnst?«
»Toni!«
»Weiß ich doch nicht, ob sie meine Adresse hat!«
Toni atmete tief durch und unterdrückte die aufkommende Hysterie. Du hast die Situation unter Kontrolle, sagte er sich. Lass dich nicht aus der Ruhe bringen.
»Also gut, hört zu«, sagte er. »Wir bleiben hier stehen und warten auf den nächsten Zug. Wenn Ebba klug ist, nimmt sie einfach die nächste U-Bahn und hält nach uns Ausschau. Dann kann sie uns gar nicht übersehen.«
Das wirkte. Die Gesichter blieben zwar noch sorgenvoll, aber die drohende Panik war erst einmal abgewendet.
Sie warteten. Kurz darauf fuhr die nächste U-Bahn ein, und alle hielten Ausschau nach Ebba. Die Türen öffneten sich, Leute traten auf den Bahnsteig und steuerten die Ausgänge an, die Türen schlossen sich wieder, und die Bahn fuhr weiter. Von Tante Ebba keine Spur.
»Toni! So tu doch was!«
»Wir müssen zurück! Ebba wartet bestimmt auf uns!«
»Genau! Wenn wir nicht zurückfahren, verlieren wir sie.«
»Vielleicht für immer.«
»Ich schlaf nirgendwo anders! Nur im Hotelzimmer mit der Laterne!«
Toni versuchte sich zu konzentrieren. In diesem Moment fuhr am gegenüberliegenden Bahnsteig der Zug ein.
»Hört zu, ihr bleibt hier und wartet«, sagte er. »Ich fahre schnell eine Station zurück und gucke, ob Tante Ebba noch auf dem Bahnsteig steht. Dann kommen wir gemeinsam wieder hierher zurück.«
»Du kannst uns doch hier nicht alleine lassen!«
»Und was machen wir, wenn du dann auch verschwunden bleibst?«
»Ich bleibe nicht verschwunden. Ich komme gleich zurück. Wichtig ist nur, dass ihr euch nicht vom Fleck bewegt. Schafft ihr das?«
Er erhielt keine Antwort. Nur bange Gesichter.
»Zurückbleiben bitte!«, ertönte es aus dem Lautsprecher.
»Ich bin gleich wieder da, versprochen!«
Und damit sprang Toni in den Zug. Die Türen schlossen sich, jenseits der Fenster wechselten die Tanten bekümmerte Blicke, dann fuhr die Bahn los und verschwand im Tunnel.
Plötzlich war er allein. Er stieß einen schweren Seufzer aus. Drei Tage, sagte er sich, das wirst du schon irgendwie überleben. Eigentlich waren es ja nur zweieinhalb Tage, denn die Tanten fuhren übermorgen schon am Nachmittag zurück. Außerdem würden sie sicher ein straffes Besichtigungsprogramm haben, tröstete er sich.
Der Zug fuhr im U-Bahnhof Zoologischer Garten ein. Toni stieg aus und sah sich um. Menschen trotteten in alle Richtungen davon. Der Bahnsteig leerte sich. Tante Ebba war wie vom Erdboden verschluckt.
Er nahm sein Handy und versuchte es wieder bei ihr, aber das Gerät war noch immer ausgeschaltet. Also wählte er die Nummer von Tante Claire. Doch vergebens. Auch Tante Kamilla war nicht zu erreichen. Er war ja selbst schuld: Er hätte sie bitten müssen, die Handys einzuschalten.
Er blickte sich hilflos um. Und was jetzt?
In seinem Kopf war eine lockende Stimme, die flüsterte: Und wenn du dich einfach davonschleichst? Er könnte sich in ein Straßencafé setzen, bei einer Tasse Tee eine Illustrierte durchblättern und danach gemütlich nach Hause schlendern.
Doch so schön die Vorstellung auch war – das brachte er ja doch nicht übers Herz. Also setzte er sich in die nächste Bahn und fuhr wieder zurück.
Auf dem Bahnsteig hielt er Ausschau nach den verbliebenen Tanten. Zuerst konnte er sie nicht entdecken, aber dann wurde er auf eine Menschentraube neben dem Treppenaufgang aufmerksam. Da waren Uniformierte von der BVG, Straßenkehrer, ein Bauarbeiter. Und mittendrin seine Tanten. Sogar Tante Ebba. Offenbar hatte sie die nächste Bahn genommen und ihre Schwestern wiedergefunden. Tante Immi redete und gestikulierte wild herum. Offenbar amüsierten sich alle blendend. Plötzlich entdeckte Tante Immi ihren Neffen und winkte ihm zu.
»Antonius! Da bist du ja! Wir dachten schon, du wärst verloren gegangen.«
»Ebba wollte dich schon ausrufen lassen«, sagte Tante Kamilla. »Die netten Herren haben ihre Hilfe angeboten.«
Einer der Uniformierten sprach in ein imaginäres Mikrofon: »Achtung, Achtung. Der kleine Toni wird von seiner Tante Ebba gesucht.«
Alle lachten, selbst die grobschlächtigen Bauarbeiter. Aber es war kein nettes Lachen.
»Wie damals«, rief Tante Immi, »als du dich in dem Brautmodenladen unterm Tisch versteckt hast, weil du nachts alle Kleider anprobieren wolltest.«
Und dann war kein Halten mehr. Es wurde gejohlt und gewiehert. Toni errötete und hätte sich am liebsten in Luft aufgelöst. Einer der Uniformierten schlug ihm auf die Schulter.
Toni betrachtete seine Tanten. Für einen Moment befielen ihn Mordgedanken. Doch dann trat Tante Ebba vor und packte ihn am Oberarm.
»Kommt schon«, sagte sie. »Jetzt sollten wir endlich mal los. Schließlich müssen wir heute Abend wieder bei den Landfrauen sein.«
Im Treppenhaus war es mucksmäuschenstill. Doch Toni traute dem Frieden nicht. Kayla und Lutz hatten ihm zwar versprochen, nicht aufzutauchen, wenn seine Tanten zu Besuch waren. Doch man konnte bei den beiden nie so genau wissen. Am wenigsten bei Kayla. Also hielt er Augen und Ohren offen.
Seine Tanten folgten ihm schweigend durchs Treppenhaus. Normalerweise gab es immer eine Menge Aaahs und Ooohs, wenn Leute zum ersten Mal hier waren. Die heruntergekommene Pracht des Gründerzeithauses nahm für gewöhnlich alle gefangen: blätternde Stuckdecken, gedrechselte Geländerstreben und morsche Türschnitzereien – es sah aus wie in einem verwunschenen Märchenschloss.
»Wie weit müssen wir denn noch?«, stöhnte Tante Helga.
»Wir sind gleich da. Nur noch ein Stockwerk.«
»Und alles ohne Fahrstuhl.«
Toni bemerkte, dass wenigstens Tante Kamilla ihre Umgebung wahrnahm: Sie berührte jede Geländerstrebe mit der Fingerspitze und bewegte dabei stumm die Lippen.
»Und dein Mitbewohner ist wirklich nicht da?«, fragte Tante Claire, als sie endlich vor seiner Wohnungstür standen.
»Nein, leider nicht. Er musste arbeiten.«
»Ach, wie schade. Ich dachte, wir lernen ihn kennen.«
»Was arbeitet er denn?«, wollte Tante Ebba wissen.
Lutz? Toni verkniff sich ein Lächeln. Wenn man Lutz fragte, würde der wohl sagen: Ich bin Barkeeper. Dabei hatte keine seiner Anstellungen länger als zwei Wochen gedauert. Meistens bekam er Probleme, weil er lieber mit den Gästen flirtete, als sich um ihre Getränke zu kümmern. Außerdem kiffte er zu viel, manchmal auch während der Arbeit.
Seinen Lebensunterhalt bestritt Lutz von der Erbschaft einer fernen Großtante. Es war kein wirkliches Vermögen, aber für zwei bis drei weitere Jahre im Berliner Nachtleben würde es noch reichen.
»Lutz ist bei der Sparkasse«, sagte Toni. »Er hat Bankkaufmann gelernt.«
Tante Ebba nickte anerkennend.
Er steckte den Schlüssel ins Schloss und öffnete die Tür. Was er sah, verschlug ihm den Atem. Garderobe, Spiegel, Teppiche, Bilder, Kommode – alles strahlend sauber! Kaum wiederzuerkennen. Und es roch weder modrig noch nach scharfen Putzmitteln. Wie hatte Kayla das nur geschafft?
Er lächelte stolz. »Kommt doch herein!«
Jetzt war die Neugierde seiner Tanten geweckt. Sie traten ein und blickten sich genau um. Schließlich brannten sie darauf zu sehen, wie ihr Neffe in der Großstadt lebte.
Toni ging in die Küche: eine noch größere Überraschung. Keine Flecken, kein Dreck, keine Stapel von ungespültem Geschirr. Alles sah ganz anheimelnd aus. Die bunt bemalten Möbel wirkten plötzlich verspielt und nicht mehr chaotisch, und die Holzregale mit den Lebensmitteln sahen jetzt einladend aus und nicht mehr eklig. Alles war verändert. Es war ein einziges Wunder.
»Hübsch habt ihr es hier«, sagte Tante Claire.
Ja, das stimmte. Sie hatten es hübsch. Richtig hübsch sogar. Das war ihm gar nicht klar gewesen. Vielleicht sollten er und Lutz in Zukunft häufiger mal aufräumen.
»Hier musst du aber mal gründlich sauber machen«, hörte er Tante Ebba sagen.
Er drehte sich mit großen Augen um. »Wie bitte?«
Tante Ebba hatte einen Küchenschrank geöffnet und hineingeblickt. Natürlich hatte Kayla es in der kurzen Zeit nicht geschafft, auch die Schränke auszuwischen.
»Das sieht ja aus hier bei dir!«
»Ebba, lass den Jungen doch«, sagte Tante Claire.
Widerstrebend schloss Ebba die Schranktür. »Ich mein ja bloß.«
»Setzt euch doch«, sagte Toni. »Ich koche Kaffee. Ihr müsst gar nichts tun.«
Eine ungewohnte Situation für seine Tanten, die sich normalerweise selbst um alles im Haushalt kümmerten. Aber Toni wollte verhindern, dass weitere Schranktüren geöffnet wurden. Er drehte ihnen den Rücken zu und machte sich an der Kaffeemaschine zu schaffen. Gab Kaffeepulver in den Filter und füllte Wasser auf.
»Ist das dein Zimmer?«
Toni wirbelte herum.
Tante Ebba war in Begriff, eine Tür zu öffnen. Dahinter hatte Kayla natürlich nicht geputzt.
»NEIN!« Hektisch wirbelte er herum und warf dabei die Kaffeedose um. Das Pulver stob über die Arbeitsfläche. »Das ist Lutz’ Zimmer!«
Die Tanten zuckten zusammen.
»Er mag es gar nicht, wenn jemand da reingeht«, versuchte er zu erklären.
Doch da steuerte Tante Ebba schon die nächste Tür an.
»Aha, dann ist das hier also dein Zimmer?«
»Nein! Warte, Tante Ebba – NEIN!«
Doch da flog die Tür schon auf.
Seine Tanten sahen unbewegt in das düstere Drecksloch, in dem er lebte. Toni schloss die Augen. Am liebsten wäre er im Boden versunken.
»Herr im Himmel! Wie sieht’s denn hier aus?«
»Das hätte es bei uns früher nicht gegeben.«
»Wie bei Luis Trenker in der Berghütte.«
»Du liebe Güte, Toni, wann hast du denn das letzte Mal hier sauber gemacht?«
Jetzt drehten sich alle zu ihm um.
Tonis Herz setzte einen Schlag aus. Fiebrig suchte er nach irgendwelchen Ausflüchten.
Doch dann keimte plötzlich Ärger in ihm auf. Er hatte seine Tanten doch nicht mal eingeladen, das hatten sie selbst getan. Ganz im Gegenteil: Er hätte sein altes Leben in Papenburg am liebsten ein für allemal hinter sich gelassen. Und jetzt standen seine Tanten hier herum und machten ihm das Leben zur Hölle.
Er fasste sich ein Herz, ging zu seiner Zimmertür und zog sie mit einem kräftigen Ruck ins Schloss.
»Ich habe NEIN gesagt!«, fauchte er.
Tante Ebba war völlig perplex.
»Was in diesem Raum ist, geht dich gar nichts an.«
Tante Ebba starrte ihn an. So hatte er noch nie mit ihr gesprochen. Sein Herz klopfte wild, doch er wollte keinesfalls einlenken. Er ging zurück in die Küche.
»Setzt euch doch«, sagte er. »Der Kaffee ist gleich fertig.«
Er stellte die Maschine ein und begann den Kuchen zu schneiden, den er am Morgen in der Bäckerei besorgt hatte. Seine Tanten setzten sich stumm an den Tisch.
Toni atmete durch. Er durfte sich nichts anmerken lassen.
»Soll ich dir mit dem Tischdecken helfen?«
Das war Tante Claire, sie schlug einen versöhnlichen Ton an. Toni nahm ein paar Teller aus dem Schrank und gab sie ihr. »Danke«, sagte er.
Siehst du, Toni?, dachte er. Ist doch gar nicht so schlimm. Sag einfach, was du willst, und dann wirst du diesen Besuch schon über die Bühne bringen. Du darfst nur keine Schwächen zeigen.
Er zog die Besteckschublade auf. Sofort waren seine guten Vorsätze vergessen. Zwei Kuchengabeln. Er besaß nur zwei Kuchengabeln. Für fünf Tanten. Und er wusste doch, wie viel Wert Tante Ebba auf solche Dinge legte.
Panisch sah er sich um. Was sollte er denn nur machen?
Ohne seine Mutter wirkte das Haus düster und leer. Am Ende hatte sie zwar kaum noch ihr Zimmer verlassen. Trotzdem war es jetzt anders, und Toni spürte ihre Abwesenheit. Die Stille war erdrückend.
Sein Koffer wog schwer. Doch der Vater machte keine Anstalten, ihn ihm abzunehmen. Er stand auf der Schwelle und starrte ihn an.
»Da bist du ja«, sagte er schließlich.
»Guten Tag, Vater.«
Er betrachtete Toni wie einen Fremden. »Es gibt gleich Essen.« Dann verschwand er.
Toni hievte den Koffer hinauf in sein Kinderzimmer. Der Raum war kühl, und die Dämmerung tauchte ihn in blaues Licht. Er sah sich um. Ab jetzt würde er hier leben und nicht mehr bei seinen Tanten.
Er ging hinunter in die Küche und setzte sich an den Tisch. Der Vater hatte Bratkartoffeln und Spiegelei gemacht. Toni betrachtete den Teller. Er aß grundsätzlich nichts, was in der Pfanne braun geworden war. Alle wussten das, selbst Tante Helga.
»Ich werde jetzt öfter für uns kochen«, knurrte sein Vater und begann, das Essen in sich hineinzustopfen.
Er hob den Kopf und wurde laut. »Jetzt iss!«
Und Toni aß.
Später sah er durch sein Fenster in den Sternenhimmel. Er war jetzt auf sich allein gestellt.
In dieser Nacht schwor er sich durchzuhalten. Er würde geduldig warten, bis er erwachsen war. Und dann konnte er überall hingehen und alles hinter sich lassen. Es war nur noch eine Frage der Zeit.
Die Stimmung an der Kaffeetafel war angespannt. Die Tanten saßen in übertrieben aufrechter Haltung vor ihren Tellern und aßen artig ihren Kuchen. Mit Teelöffeln. Von Zeit zu Zeit nippten sie an den Tassen und lobten höflich Tonis Kaffee. Ansonsten wurde kaum geredet. Bis Tante Ebba schließlich das Wort ergriff.
»Was verdient man denn so an einem kleinen Theater?«
»Ebba!«, kam es von Tante Claire.
»Ich frag ja nur.« Ebba schloss eine Faust um ihre Serviette. »Ich habe neulich mit Helene Bruns gesprochen, du weißt schon, von Tapeten Bruns hinter der Kirche, und Helenes Ältester, der Daniel, arbeitet seit ein paar Jahren in München bei einer Produktionsfirma fürs Fernsehen. Einen guten Job hat er da, tadellos. Er verdient eine Menge Geld und fährt sogar einen Porsche. Jedenfalls meint der Daniel wohl, bei den Berliner Theatern ist kein Geld zu machen. Schon gar nicht bei den kleinen. Da reicht die Schauspielergage nicht mal zum Leben. Sagt Daniel. Und da frage ich mich …«
»Ich komm schon zurecht, Tante Ebba.«
»Aber stimmt das denn, was die Helene sagt? Dass es nicht mal zum Leben reicht, was man da verdient?«
»Ich habe auch andere Engagements. Dieser Werbeclip für die Versicherung zum Beispiel, der läuft gerade im Fernsehen. Den habt ihr doch bestimmt schon gesehen. Ich weiß ja, was ihr von Werbung haltet, aber meine Agentin hat eine ganze Reihe anderer Angebote für mich. Erst heute war ich bei einem Casting, kurz bevor ihr angekommen seid.«
Tante Ebba verstärkte den Griff um die Serviette. »Aber es heißt doch immer, wer an der Ernst-Busch-Schule war, wird überall mit Kusshand genommen. Ist denn da nichts Besseres zu holen als ein paar Sekunden in einer Reklame?«
Toni seufzte. »Mir geht es gut, Tante Ebba. Ich habe genug Arbeit, und ich bin nicht am Verhungern.«
Toni stocherte lustlos in seinem Kuchenstück herum. Er wusste schon, was als Nächstes kam.
Und tatsächlich: »Aber du hattest doch das Angebot vom Staatstheater in Oldenburg. Ich kann nicht verstehen, wieso du das ausgeschlagen hast. Da würden sich viele die Finger nach lecken. Wenn hier in Berlin doch kein Geld zu verdienen ist.« Sie seufzte. »Toni, willst du denn nicht noch mal im Staatstheater nachfragen? Vielleicht nehmen die dich ja noch. Du weißt doch, meine Freundin Brigitte, die arbeitet da an der Kasse. Ich könnte sie bitten, ob sie nicht mal nachfragen kann.«
Tante Immi schenkte ihm ein warmes Lächeln.
»Toni in Oldenburg«, schwärmte sie. »Ach, das wär ja was. Dann könnten wir dich jederzeit sehen. Ich für meinen Teil, ich würde mir ein Jahresabo kaufen, ganz sicher. Und dann wäre ich, sooft ich kann, in Oldenburg. Bis ich die Stücke auswendig mitsprechen kann, das wäre mir ganz egal. Ich könnte bestimmt gar nicht genug kriegen davon!« Sie zwinkerte ihm zu.
»Die Brigitte kann da vielleicht was regeln«, fuhr Tante Ebba fort. »Sie kennt ja alle im Theater. Und so lange ist das noch nicht her, dass du das Angebot ausgeschlagen hast.«
Toni platzte der Kragen. »Ich möchte aber nicht nach Oldenburg! Geht das nicht in deinen Kopf, Tante Ebba?«
Er sah entschuldigend zu Tante Immi. »Tut mir leid, Tante Immi, aber ich bin zufrieden hier. Ich bin gerne in Berlin, und ich möchte hier bleiben.«
Tante Ebba presste die Lippen aufeinander. »Ich meine ja nur. Man muss dahin gehen, wo Arbeit ist. Wir konnten uns das früher auch nicht immer aussuchen.«
»Ebba, lass ihn doch«, sagte Tante Claire.
»Aber wenn er hier keine Arbeit hat …«
»Ich habe Arbeit!«
»… kann er sich den Luxus nicht leisten, in Berlin zu bleiben. So schön die Stadt auch ist. Er muss jetzt handeln, solange seine gute Ausbildung noch etwas wert ist. Irgendwann sind seine Chancen dahin.«
»Ich habe Arbeit!« Sein Teelöffel landete laut scheppernd auf dem Kuchenteller. »Verdammt! Hört ihr nicht?«
Endlich erkannte Ebba, dass sie zu weit gegangen war. Sie schenkte nun ihre ganze Aufmerksamkeit dem Kuchen. Eine Weile herrschte Schweigen. Dann räusperte sich Tante Kamilla. »Wo ist denn deine Freundin, Toni? Kommt sie gar nicht zum Kaffeetrinken?«
»Nein.« Er nahm den Löffel wieder auf. »Nein, sie muss arbeiten.«
»Oh. Das ist aber schade. Dann lernen wir sie also morgen kennen, wenn wir gemeinsam ins Restaurant gehen?«
»Ich … ähm … Sie hat schon was anderes vor. Leider.«
»Etwas anderes? Aber wenn doch deine Familie …«
Kamilla stockte. Sie wechselte verunsicherte Blicke mit den anderen. Dann begriff sie: Toni wollte gar nicht, dass sie sich kennenlernten.
Jetzt wurde es still in der Küche – abgesehen von den Kaugeräuschen und dem leisen Schlürfen an den Kaffeetassen. Bis Tante Claire ein schüchternes Lächeln zeigte.
»Die Hitze in diesem Sommer kann einen um den Verstand bringen, nicht wahr? Wie muss das erst in einer Großstadt wie Berlin sein?«
»Ja, richtig«, nahm Immi den Faden auf. »Erzähl uns davon, Toni. Wie war das hier, als es letzte Woche so heiß war? Bestimmt gibt es in der Stadt gar keine Abkühlung.«
Und so schafften sie es mit vereinten Kräften, eine weitere Krisensituation zu verhindern. Selbst Tante Ebba beteiligte sich höflich an dem oberflächlichen Gespräch.
Schließlich blickte sie auf die Uhr und sagte: »Leute, wir müssen zu unserem Hotel. Sonst verpassen wir heute Abend das Varieté.«
Die Tanten nickten und standen auf. Sie gaben alles, um sich ihre Enttäuschung nicht anmerken zu lassen. Toni spürte sie trotzdem. Auch seine Tanten hatten sich das Wiedersehen wohl anders vorgestellt.
»Wir sehen uns dann morgen Abend im Restaurant«, sagte Tante Kamilla. Es klang wie: Wir haben noch eine zweite Chance.
Und alle nickten.
Toni brachte seine Tanten zur Tür und verabschiedete sich. Seine Mundwinkel schmerzten bereits vom Lächeln. Er winkte ihnen nach, bis die Letzte von ihnen im Treppenhaus verschwunden war. Dann atmete er aus und schloss die Tür.
Er ließ sich auf einen Küchenstuhl sinken. Im selben Moment ging der Schlüssel in der Wohnungstür. Kayla und Lutz kamen in die Küche.
»Die sahen doch ganz nett aus«, sagte Kayla. »Ich weiß gar nicht, warum du die vor uns versteckst.«
Sie ließ sich auf einen Stuhl fallen, legte die Beine auf den Tisch und schnappte sich das letzte Stück Kuchen.
»Oder hattest du einfach nur Angst, dass wir und deine Tanten Informationen über dich austauschen könnten?«
»Ach, Kayla, lass mich einfach in Ruhe.«
Toni fühlte sich seltsam angeschlagen nach dem Besuch. Dabei war doch eigentlich alles gut gelaufen. Er hatte sich nicht vereinnahmen lassen, so wie er sich das vorgenommen hatte. Er hatte ihnen seine Grenzen gezeigt. Trotzdem. Diese Distanz am Kaffeetisch, die oberflächlichen Gespräche, die angespannte Höflichkeit – das alles hatte ihm einen Stich versetzt. Waren das wirklich er und seine Tanten gewesen?
Lutz lehnte sich in den Türrahmen und hielt nach Kaffee Ausschau. Sein T-Shirt sah aus, als hätte er darin geschlafen. Die Haare waren ungekämmt und die Hose voller Flecken. Wusste der Himmel, wo er sich in der letzten Nacht wieder herumgetrieben hatte.
»Vielen Dank fürs Putzen«, sagte Toni.
»Das hätte ich schon noch geschafft«, murmelte Lutz.
»Na klar.«
»Sorry, aber ich war die ganze Nacht unterwegs. Ich glaub, ich muss mich erst mal hinlegen. Oder … kann ich noch was für dich tun?«
Ein bisschen spät, die Frage. »Nein. Verschwinde einfach.«
Lutz fuhr sich mit der Hand durchs Gesicht, blickte zerknirscht und verschwand dann in seinem Zimmer.
Toni machte sich auf den nächsten Angriff von Kayla gefasst. Sie hatte ihn jetzt in der Hand, heute war von ihm nicht viel Gegenwehr zu erwarten.
Doch zu seiner Überraschung lächelte sie nur verhalten.
»Ist nicht so gut gelaufen, oder?«
»Ach, was soll’s. Egal.«
»Tja, Familie«, meinte sie und machte dabei ein Gesicht, als wäre damit alles gesagt. »Und, war’s das jetzt? Oder kommen sie noch mal wieder?«
»Wir treffen uns morgen Abend im Hotel, danach soll’s in ein Restaurant gehen. Sie wollen irgendwo richtig groß essen gehen. Übermorgen fahren sie dann mit den Landfrauen wieder zurück nach Papenburg.«
»Weißt du schon, welches Restaurant du vorschlägst?«
»Nein. Aber ich schätze mal, es muss eins sein, wo viel Fleisch auf dem Teller liegt.«
Sie lächelte. »Viel Fleisch und Pommes?«
»Genau. Was sie eben unter ›groß essen gehen‹ verstehen.«
»Und morgen Abend stellst du ihnen Micha vor?«
Toni schwieg.
»Oder wissen sie etwa gar nicht, dass du schwul bist?«
Er schnaubte. Typisch Kayla.
»Du und deine Labels«, sagte er.
Kayla war über vierzig, da musste man nachsichtig sein. Für ihre Generation spielten solche Begriffe noch eine Rolle. Sie war einmal Teil der Lesben- und Schwulenbewegung gewesen. Damals, als … O Gott, dazu müsste er in die Geschichtsbücher gucken. Toni war da anders. Er interessierte sich nicht mehr für solche Schubladen. Keiner tat das. Schließlich waren sie in Berlin.
»Ich bin nicht schwul«, sagte er. »Sexualität ist doch keine Gruppe wie ein Bowlingklub. Wenn überhaupt, dann bin ich … ach was. Immer diese Kategorien. Sei doch einfach mal ein bisschen offener.«
»Mhm. Aber du stehst schon auf Männer, oder?«
»Meine Güte! Ich bin halt ein Mann, der mit einem Mann zusammen ist. Vielleicht könnte man mich queer nennen. Aber … ach, was soll das denn? Wen interessieren solche Begriffe überhaupt?«
»Keine Ahnung. Vielleicht ja deine Tanten.« Sie fügte hinzu: »Denen du gesagt hast, dass du eine Freundin hast.«
»Ich habe nie gesagt, dass ich eine Freundin habe! Ich habe nur gesagt, dass ich verliebt bin. Mehr nicht. Was kann ich denn dafür, wenn die sich da was zurechtlegen.«
»Weil du ja nicht schwul bist.«
Wenn Toni gerade noch geglaubt hatte, Kayla würde ihn heute schonen, dann hatte er sich wohl getäuscht.
»Ich möchte einfach nicht gezwungen sein, mich selbst in irgendwelche Schubladen zu stecken, nur weil meine altbackene Verwandtschaft noch hinterm Mond lebt.«
Kayla lächelte. »Sehr praktisch, oder? Wenn man es so sieht, gibt es nämlich überhaupt keinen Grund mehr, sich zu outen. Keinen Familienstress, keine Tränen, keine Schuldzuweisung. Alles bleibt beim Alten. Schließlich bist du ja gar nicht schwul.«
»Herrgott, Kayla …«
Das Telefon erlöste ihn. Es klingelte irgendwo im Nebenraum. Dankbar sprang Toni auf und machte sich auf die Suche. Aber da verstummte es schon, und Lutz tauchte mit verschlafenem Gesicht in der Küche auf. Er trug das Gerät wie einen erwachten Säugling vor sich her.
»Toni, es ist für dich … deine Agentin.«
O nein. Nicht jetzt. Viktoria Glück rief natürlich an, um nach dem Casting zu fragen. Toni machte ein dramatisches Gesicht und legte den Finger an die Lippen.
»Sag ihr, ich bin nicht da«, raunte er. »Ich bin grad einkaufen oder so und melde mich später.«
Lutz schien zu überlegen, ob ihn das überforderte. Doch dann nickte er und hielt sich das Telefon wieder ans Ohr.
»Ich glaub, Toni ist grade einkaufen. Jedenfalls ist er nicht in seinem Zimmer. Sorry, ich dachte, er wäre hier. Ich sag ihm einfach, er soll gleich zurückrufen, wenn er wiederkommt, okay?«
Er lauschte eine Weile angestrengt in den Hörer. Toni wurde unruhig. Was gab es denn da noch zu besprechen?
»Gut, ich verstehe«, sagte Lutz. Dann blickte er auf. »Ich soll dir sagen, sie ruft nicht wegen ›Herzen in Aufruhr‹ an. Du brauchst also keine Angst vor ihr zu haben. Es geht um ein anderes Angebot. Eine Rolle, bei der es ziemlich eilt. Viel besser als ›Herzen in Aufruhr‹.« Lutz lächelte zerknirscht. »Bist du jetzt doch nicht einkaufen?«
Aus dem Telefon drang verzerrt die rauchige Stimme von Viktoria Glück. »Toni, jetzt geh schon ran! Es ist dringend!«