4. Kapitel

DER GRAF VOM STRAHL (wendet sich zu Käthchen, die noch immer auf den Knieen liegt).

Willt den geheimsten der Gedanken mir,

Kathrina, der dir irgend, faß mich wohl,

Im Winkel wo des Herzens schlummert, geben?

KÄTHCHEN. Das ganze Herz, o Herr, dir, willt du es,

So bist du sicher des, was darin wohnt.

DER GRAF VOM STRAHL.

Was ists, mit einem Wort, mir rund gesagt,

Das dich aus deines Vaters Hause trieb?

Was fesselt dich an meine Schritte an?

KÄTHCHEN. Mein hoher Herr! Da fragst du mich zuviel.

Und läg ich so, wie ich vor dir jetzt liege,

Vor meinem eigenen Bewußtsein da:

Auf einem goldnen Richtstuhl laß es thronen,

Und alle Schrecken des Gewissens ihm,

In Flammenrüstungen, zur Seite stehn;

So spräche jeglicher Gedanke noch,

Auf das, was du gefragt: ich weiß es nicht.

Es war schon erstaunlich. Claire konnte noch immer den kompletten Text auswendig. Jedes einzelne Wort, als wäre kein einziger Tag seit damals vergangen. Dabei waren es knapp vierzig Jahre, seit sie das Käthchen von Heilbronn gegeben hatte. Auf der Bühne in der Aula des Gymnasiums von Papenburg. Natürlich nur mit einer Laienspielgruppe, aber das war nicht von Bedeutung. Nach jeder Aufführung hatte es begeisterten Applaus gegeben, vor allem für Claire. Damals sagten die Leute, sie müsste zum Theater oder zum Film. Mit ihrem Aussehen und ihrem Talent hätte sie das Zeug, ein Weltstar zu werden. Das war natürlich Unsinn. Trotzdem. Jedes Mal, wenn in der Aula das Scheinwerferlicht aufflammte, hatte sich Claire tatsächlich ein bisschen so gefühlt, als wäre sie bereits ein Star.

Natürlich war sie nicht zum Film gegangen, wie denn auch. Es waren eben andere Zeiten gewesen damals. Ihre Schwestern hatten nie erfahren, wie ernst es ihr mit der Schauspielerei gewesen war. Keiner wusste das. Aber selbst heute spürte Claire immer noch ihren Herzschlag, wenn sie daran dachte, wie sie damals ins Bühnenlicht getreten war.

Und nun konnte Toni ihren Traum verwirklichen. Es fühlte sich wie ein Geschenk an. Gut, dass die Zeiten sich geändert hatten und er die Möglichkeit dazu bekam.

Das Käthchen von Heilbronn … Im Grunde war es die Rolle ihres Lebens gewesen. Als Kind hatte Claire nämlich immer geglaubt, nur zufällig in dieser Familie in Papenburg gelandet zu sein. Eine Verwechslung im Krankenhaus oder irgendein geheimer Plan, den sie nicht durchschaute. Ihre wirklichen Eltern mussten von viel edlerem Geschlecht sein, und sie lebten bestimmt in einem Schloss und verfügten über einen riesigen Hofstaat. Genau wie beim Käthchen von Heilbronn. Und ebenso wie das Käthchen glaubte Claire fest daran, dass sie den Richtigen sofort erkennen würde, wenn er auftauchte. Ein schöner Prinz auf einem Pferd, wie das Orakel es geweissagt hatte. Sie würde ihn sofort erkennen, und dann gäbe es kein Halten mehr. Dann würde sie ihm bis ans Ende der Welt folgen.

Doch als es so weit war, hatte Claire gekniffen. Sie war ihm nicht bis ans Ende der Welt gefolgt. Nicht einmal bis nach Berlin. Stattdessen war sie in Papenburg geblieben. Im wirklichen Leben war eben alles nicht so einfach. Sie besuchte da noch die Hauswirtschaftsschule, so wie es sich gehörte, und ihre Eltern bläuten ihr jeden Tag ein, sich solchen Unsinn aus dem Kopf zu schlagen. Denk an deine Zukunft, an ein sicheres Einkommen, an deine Rente.

Sie war in Papenburg geblieben und hatte den Bäckermeister Hartmut Wesseling geheiratet. Claire Wesseling, die Bäckersfrau. Wahrscheinlich war es das Beste gewesen. Hartmut war ihr ein guter Mann gewesen. Erst nach seinem Tod hatte Claire gemerkt, wie sehr sie ihn im Laufe der Jahre zu lieben gelernt hatte.

Dieser blöde Berlinbesuch. Er rührte nur an den alten Wunden. Sie hatte nicht damit gerechnet, diese Stadt je in ihrem Leben zu betreten. Nicht nachdem sie Anfang der Siebziger beschlossen hatte, in Papenburg zu bleiben und Hartmut zu heiraten. Damit war Berlin ein für allemal gestorben. Doch jetzt war Toni hierhergezogen, in diese Stadt ihrer Träume. Und sie musste sich mit ihren verpassten Chancen auseinandersetzen.

Jenseits der S-Bahn-Fenster zog die Stadtlandschaft vorüber. Claire hatte gar nicht gewusst, wie grün Berlin sein konnte. Überall Bäume und kleine Parks. An einem Sommertag wie diesem war die Stadt einfach wunderschön.

Der Zug war relativ leer, und die Schwestern hatten alle einen Platz am Fenster bekommen. Ebba und Immi saßen etwas abseits über einen Stadtplan gebeugt und diskutierten den besten Weg zum Hotel. Helgas Augen lagen hinter ihrer Sonnenbrille verborgen, sie starrte gedankenverloren hinaus, und nur der Himmel wusste, was ihr gerade durch den Kopf gehen mochte. Kamilla schließlich saß Claire gegenüber, eingeklemmt zwischen Koffern und Taschen. Sie hatte rote Wangen und wirkte entspannt – einer der wenigen Momente, in dem sie von keinem ihrer seltsamen Zwänge bedrängt wurde.

Nach der anfänglichen Hektik war eine gewisse Ruhe eingekehrt. Das Wiedersehen mit Toni war nicht so verlaufen, wie sie es sich erhofft hatten. Somit war die Stimmung etwas gedämpft.

Kamilla rückte ihre modische Brille zurecht und lächelte Claire mitfühlend an. Claire hatte sich immer am besten mit Toni verstanden, und Kamilla befürchtete wohl, dass das etwas misslungene Wiedersehen mit ihrem Neffen sie am meisten von allen bedrückte.

»Toni ist erwachsen geworden«, sagte sie tröstend.

»Ja, das ist er.« Mehr fiel Claire dazu nicht ein.

»Geht es dir gut?«, fragte Kamilla vorsichtig.

»Natürlich geht es mir gut.« Claire deutete mit einer unbestimmten Bewegung auf die Stadt hinter den Fenstern. »Das alles hier ist ja auch nicht meine Idee gewesen. Ich hatte keine besonderen Erwartungen an unser Treffen mit Toni.«

Kamilla dachte darüber nach. »Denkst du, unser Plan funktioniert nicht?«

»Ich weiß es nicht. Ich weiß nicht einmal, ob es richtig ist, was wir da vorhaben. Vielleicht wäre es besser, wenn wir uns nicht in sein Leben einmischen.«

Kamilla lächelte. Es war ein tiefes, warmherziges Lächeln. Wenn ihre Zwänge fort waren, blieb nur noch ihr großes Herz übrig. Leider wurden diese Momente mit zunehmendem Alter immer seltener.

»Toni hat sonst niemanden«, sagte sie. »Nur uns. Und Versöhnung ist immer richtig.«

Gerade wollte Claire etwas erwidern, da machte Ebba auf sich aufmerksam. Im Grunde war es ja auch ein gutes Schlusswort, dachte Claire: Versöhnung ist immer richtig.

»Jetzt kommt unsere Station«, sagte Ebba. »Von hier aus müssten wir das Hotel zu Fuß erreichen können. Auf der Karte sieht das ganz nah aus.«

Die Tanten rafften ihre Taschen und Koffer zusammen. Unruhe entstand. Und Kamillas Gedanken schienen wieder zu rasen. Worum es sich diesmal auch immer drehte, Claire registrierte mit Bedauern, dass sich der Vorhang wieder gesenkt hatte. Kamilla rechnete irgendwas aus.

»Habt ihr alles?«, erkundigte sich Ebba. »Nichts vergessen? Dann los.«

Und so bewegte sich die Karawane der Schwestern hinaus auf den Bahnsteig und dann über die Treppen hinunter zur Straße.

Ebba hakte sich bei Claire unter. Sie senkte ihre Stimme, damit die anderen sie nicht hören konnten.

»Das ist heute nicht gut gelaufen«, sagte sie.

»Nein«, sagte Claire. »Wohl nicht.«

»Ich wollte dem Jungen nicht vorschreiben, wo er zu arbeiten hat. Ich dachte nur … ach, verflucht. Spielt ja ohnehin keine Rolle. Hab ich’s versaut, Claire?«

»Wir haben alle nicht sonderlich geglänzt.« Claire seufzte. »Vielleicht müssen wir ihn einfach sein Leben leben lassen. Und uns nicht weiter einmischen.«

»Unsinn. Jeder Mensch braucht Familie. Besonders Toni. Er vielleicht mehr als andere. Unser Plan wird nicht geändert.« Ebba holte tief Luft. »Ruf bei ihm an, Claire. Ihr zwei hattet immer den besten Draht zueinander. Vielleicht kannst du wiedergutmachen, was ich angerichtet habe.«

»Ich weiß nicht, Ebba. Er ist erwachsen geworden. Toni ist für mich beinahe ein Fremder. Vielleicht sollten wir ihn wirklich in Ruhe lassen.«

»Ach was. Wir machen es so, wie ich gesagt habe. Du musst ihn anrufen, Claire, heute noch. Versprichst du mir das?«

Doch bevor Claire irgendwas versprechen konnte, beschleunigte Ebba ihren Schritt, um Immi einzuholen und sie in ein Gespräch zu verwickeln. Es war eben keine Bitte gewesen, sondern ein Befehl.

Claire würde also bei Toni anrufen und versuchen, die Situation zu entschärfen. Heute noch. Damit sie morgen Abend die Gelegenheit bekämen, ihren Plan durchzuziehen.

Sie hatte alles für ihn besorgt: die Anmeldeunterlagen, einen Platz in der Jugendherberge, die Wegbeschreibung zur Schauspielschule und das Zugticket. Sogar ein paar mögliche Vorsprechtexte hatte sie zusammengestellt.

Toni starrte all die Gaben fassungslos an. Hier wurde ein Traum wahr, und er wusste nicht, was er sagen sollte.

»Tante Claire …«

»Sag nichts. Nimm es einfach. Wir wollen lieber darüber nachdenken, welche Rolle die beste fürs Vorsprechen ist.«

»Aber …«

Zehntausend Dinge gingen ihm durch den Kopf. Keiner sonst wusste von seinem Traum, Schauspieler zu werden. Nur Tante Claire. Mit den anderen konnte er über so etwas nicht reden. Am wenigsten mit seinem Vater.

Der hatte Toni schon eine Ausbildungsstelle in der Autowerkstatt eines Kumpels besorgt. »Da kannst du sofort nach den Ferien anfangen. Berthold hat gesagt, er würde es mit dir versuchen. Erst einmal.« Aber die Verachtung in seinem Gesicht war Beweis genug dafür, dass er Toni eine solche Arbeit im Grunde gar nicht zutraute.

»Ich denke, du solltest den Thomas aus Molières ›Eingebildetem Kranken‹ vorsprechen. Kennst du das Stück? Irgendwie passt die Rolle zu dir.«

»Aber, Tante Claire, ich …«

»Fahr einfach hin.« Sie blickte ihm ernst in die Augen. »Das ist es doch, was du dir wünschst, oder?«

»Ja, schon. Aber Vater …«

»Wir sagen ihm nichts davon. Keinem sagen wir was. Vielleicht klappt es ja auch gar nicht. An der Ernst-Busch-Schule werden nur dreißig Bewerber von über tausend genommen. Du hast also sehr große Konkurrenz. Aber probieren sollte man es trotzdem, oder etwa nicht?«

Und Toni vergaß seinen Vater, den Ausbildungsplatz und alles andere. Das Gefühl, das sich in seiner Brust ausbreitete, war unbeschreiblich.

»Ja«, sagte er. »Probieren sollte man es.«

Toni saß vor seinem Rechner und wartete auf die E-Mail von seiner Agentin. Da klingelte sein Telefon. Unbekannte Nummer. Er ging ran.

»Ich bin’s, Tante Claire.«

»Oh.«

Den Besuch seiner Tanten hatte er für eine Weile verdrängt. Nach dem Anruf seiner Agentin und ihren sagenhaften Neuigkeiten war alles andere in den Hintergrund gerückt.

Natürlich, seine Tanten. Morgen Abend wollten sie sich im Hotel treffen, um zusammen ins Restaurant zu gehen. Er war überzeugt gewesen, bis dahin nichts mehr von ihnen zu hören. Tante Claire bewies wirklich ein schlechtes Timing, er hatte jetzt ganz andere Sachen im Kopf.

»Ja, genau. Hör zu, Toni, ich wollte nur fragen, ob du uns … also, ob du jetzt vielleicht … ich meine, wegen heute Nachmittag …«

Der Streit am Kaffeetisch. Hatte Tante Ebba sie vorgeschickt, weil er und Tante Claire sich früher so gut verstanden hatten? Ließ Tante Ebba wieder andere für sich zu Kreuze kriechen?

»Bist du böse mit uns?«, fragte Tante Claire. »Wir waren wohl alle ein bisschen erschlagen von der langen Fahrt.«

Toni schielte zu seinem Monitor. Die Mail von seiner Agentin war noch immer nicht gekommen.

»Nein, alles halb so schlimm«, sagte er vage.

»Wirklich?«

»Natürlich. Ich freu mich doch, dass ihr da seid.«

Stille am anderen Ende. Dann sagte Tante Claire: »Das war mal anders zwischen uns, oder?«

Da war etwas in ihrer Stimme, das ihn innehalten ließ.

»Ich weiß auch nicht, Tante Claire«, sagte er. »Es ist viel Zeit vergangen.« Etwas unbeholfen fügte er hinzu: »Vielleicht müssen wir uns erst wieder aneinander gewöhnen.«

»Vergiss einfach, was Tante Ebba gesagt hat. Sie wollte dir nur helfen. Du kennst sie doch.«

»Ich kann nicht nach Oldenburg, Tante Claire.«

»Das weiß ich doch. Das verlangt ja auch keiner von dir. Ebba redet, bevor sie nachdenkt. Das war schon immer so. Ich weiß gar nicht, warum dich das überhaupt noch immer so wütend macht.«

»Versprichst du mir, dass du etwas für dich behältst, Tante Claire? So wie früher?«

»Natürlich. So wie früher.«

»Ich habe gar kein Engagement an einem Theater hier. Nicht einmal ein schlecht bezahltes. Ich habe das nur erfunden, weil … ach, ich weiß auch nicht.«

»Und was ist mit den Fernsehrollen? Du arbeitest doch fürs Fernsehen, oder?«

»Schon. Aber das waren nur ein Werbeclip und zwei Tagesrollen in Soap Operas. Im ganzen letzten Jahr. Ehrlich gesagt, steh ich ziemlich mit dem Arsch an der Wand. Deshalb hat mich das so wütend gemacht. Weil Tante Ebba recht hatte. Es wäre wirklich das Beste, wenn ich Berlin verlasse.«

Tante Claire schien eine Weile nachzudenken. Dann fragte sie leise: »War es denn so schlimm in Bad Rüdensee?«

Bad Rüdensee. Sein Debütantenengagement. Das Kurtheater hatte ihn mit einem Zweijahresvertrag direkt von der Schauspielschule geholt. Natürlich war es Toni damals schwergefallen, Berlin zu verlassen. Das Großstadtleben, die Klubs und Partys, seine Freunde. Trotzdem hatte er sich auf das Theater gefreut, auf sein erstes wirkliches Engagement.

»Es war schrecklich.« Toni wurde überflutet von Erinnerungen. »Bad Rüdensee war wie ein stinkender Morast, in dem ich langsam versunken bin.«

Ein kleines Ensemble von abgehalfterten, frustrierten und alkoholkranken Schauspielern, mitten in der Provinz, wo es keine Fluchtmöglichkeit für ihn gab, und mit Arbeitszeiten, die es unmöglich machten, irgendwelche Menschen außerhalb des Ensembles kennenzulernen. Dazu ein Haufen grottenschlechter Regisseure und – was das Schlimmste daran war – mittendrin die eine geniale Regisseurin, die großartige Stücke auf die Bühne brachte, ohne dafür in irgendeiner Form beachtet zu werden. Rezensionen in der Lokalpresse, die sich lasen wie die Berichterstattung vom Schützenfest. Meist drückte diese Regisseurin ihrer Assistentin schon morgens zehn Euro in die Hand, damit sie loslief und ihr eine Flasche Mariacron holte. Denn anders, so Tonis Verdacht, konnte sie ihr Umfeld gar nicht ertragen. Tagsüber dann das Kindertheater, wo Toni dreimal hintereinander den Prinzen in Rapunzel spielte und immer wieder ratlos im Bühnenlicht stand und sich fragte: Hab ich das jetzt schon gesagt? Oder kommt mir das nur so vor, weil wir das heute schon zweimal gespielt haben? Dazu die immer gleichen Kinderlieder, die er irgendwann selbst im Schlaf vor sich hin sang.

Abends folgten dann die Hauptvorstellungen, und wenn der Vorhang fiel, wurden überall in Bad Rüdensee die Bürgersteige hochgeklappt, und Toni, der wie seine Kollegen hellwach und aufgekratzt war und längst noch nicht ins Bett gehen konnte, saß mit dem ganzen deprimierenden Ensemble in einem Aufenthaltsraum hinter der Garderobe und trank sich mit Wein müde. Kein Wunder, dass es so viele Alkoholiker in seinem Job gab. Es war ja an allen Provinztheatern das Gleiche.

Dazu schwebte über Bad Rüdensee stets das Gefühl, vom Leben gänzlich abgeschnitten zu sein. Denn das Leben spielte in Berlin, bei seinen Freunden, und Toni saß in diesem düsteren, stillen Kurort, in dem es nichts gab außer Resignation. Damals war er noch Single gewesen, und er hatte sich immer gefragt, wie er seinen Mann fürs Leben kennenlernen sollte, dort in Bad Rüdensee.

»Vergiss einfach, was Ebba gesagt hat«, meinte Tante Claire. »Du bleibst in Berlin, hörst du? Lass dir da nicht reinreden.«

»Aber ich weiß ja selber nicht, ob das richtig ist.«

»Es wird schon alles gut werden. Du gehst deinen Weg, davon war ich immer überzeugt. Du darfst einfach nicht daran zweifeln.«

Eine Weile schwiegen sie.

»Bekommen wir denn noch eine Chance?«, fragte Tante Claire.

Toni lächelte. »Wir sehen uns morgen Abend. Ich freu mich drauf.«

Nach dem Telefonat wandte er sich wieder dem Computer zu. Die E-Mail von seiner Agentin war noch immer nicht gekommen. Er stellte seinen PC so ein, dass ein Klingellaut ertönte, wenn eine neue Mail einging. Dann lehnte er sich zurück und verschränkte die Arme.

Vielleicht wird ja wirklich alles gut, dachte er. Wenn diese Sache hier funktionierte, dann sah es zumindest danach aus. Es fiel ihm immer noch schwer zu glauben, was seine Agentin ihm erzählt hatte. Es ging um einen Abenteuerfilm, eine ganz große Produktion, mit fettem Budget und allem Drum und Dran, bei der über Nacht der Hauptdarsteller ausgefallen war. Die Dreharbeiten würden nächste Woche losgehen, und jetzt war ein Notfallcasting angesetzt, um die Hauptrolle rechtzeitig neu zu besetzen.

»Wie sind die denn auf mich gekommen?«, hatte er am Telefon gefragt. »Ich glaube schon, dass ich einen Actionhelden spielen kann. Aber normalerweise lassen die einen ja nur für Sachen vorsprechen, die man schon mal gemacht hat.«

»Du denkst viel zu kompliziert, Toni.« Ihr Lachen ging in einem Hustenanfall unter. »Tatsächlich ist es so: Es wird jeder männliche Schauspieler eingeladen, der nächste Woche noch nichts vorhat. Und dazu gehörst du eben auch.«

Natürlich mussten Alter und Aussehen passen. Und noch ein paar andere Dinge. Viktoria Glück versicherte ihm jedoch, dass nicht viele übrig geblieben seien. Die Castingliste sei kurz, was seine Chancen erhöhe.

»Ich schick dir gleich den Text fürs Casting. Sieh zu, dass du ihn diesmal beherrschst und nicht wieder einen Blackout hast.«

Die Hauptrolle in einem großen Fernsehfilm. Was für eine großartige Chance!

In diesem Moment klingelte es an der Tür, und Toni hörte Lutz durch den Flur schlurfen und mit jemandem sprechen. Kurz darauf sprang seine Tür auf, und Micha stand im Zimmer.

»Ist das aufregend!«, rief er zur Begrüßung. »Du sprichst für eine Hauptrolle vor!«

»Ich kann’s selbst noch gar nicht glauben.«

»Ist der Text denn schon da?«

»Nein. Aber er muss jede Sekunde ankommen.«

»Und wann ist das Casting?«

»Morgen früh. Mir bleibt nicht viel Zeit zum Textlernen. Danke, dass du mir hilfst.«

»Kein Problem.« Micha gab ihm einen Kuss. »Das mach ich doch gerne.«

Dann stützte er sich auf Tonis Stuhllehne und blickte auf den Bildschirm. Die E-Mail mit dem Vorsprechtext ließ weiter auf sich warten. Es wurde still im Zimmer.

»Wie war’s eigentlich mit deinen Tanten?«

Toni versteifte sich. »Ach, ging so.« Den Blick hielt er weiterhin auf den Monitor gerichtet. Komm schon, dachte er. Jetzt wäre doch ein guter Zeitpunkt für den Klingelton: Sie haben eine neue Nachricht.

»Und? War’s das, oder trefft ihr euch noch mal?«

»Vielleicht. Keine Ahnung.«

Micha hob eine Augenbraue. Die Temperatur im Raum fiel um einige Grade. Toni wusste: Er würde ihm jetzt keine dicke Lüge auftischen können.

»Aber wie es aussieht, gehen wir morgen Abend zusammen essen«, räumte er ein. »So genau steht das noch nicht fest. Die haben ein ziemlich straffes Programm bei den Landfrauen.«

Schweigen. Micha rührte sich nicht vom Fleck. Er wartete. Und Toni wusste, worauf.

Jetzt komm schon, verdammt noch mal! Wo bleibt denn diese blöde E-Mail? Doch dieses Mal rettete seine Agentin ihm nicht den Kopf.

»Morgen Abend, sagst du?«

»Hm«, machte Toni.

»Da hab ich nichts vor.«

Toni hypnotisierte den Monitor. Aber es war zu spät.

Micha sprach aus, was schon die ganze Zeit im Raum schwebte: »Und? Wirst du mich ihnen vorstellen?«

Die Hotelhalle war kühl und wirkte vornehm. Dicke Teppiche schluckten jedes Wort. Hinter der Rezeption standen schlanke uniformierte Frauen und lächelten.

»Bleibt hier und wartet«, sagte Ebba. »Ich kläre das mit unseren Zimmern.«

Sie stellte sich an die Rezeption, wo sie energisch mit der Fingerkuppe auf den Tresen tippte und so lange auf die Empfangsdamen einredete, bis deren Lächeln immer schmaler wurde.

Die Schwestern bauten währenddessen einen Gepäckturm neben einer Sitzgruppe auf. Als sie fertig waren, ließ Claire sich auf eine Ledercouch sinken.

»So edle Sofas«, schwärmte Immi und glitt auf den Platz neben ihr. »Zu Hause dürfte das keiner sehen, was ich hier mache. Die anderen sind jetzt gerade im Stall. Nicht zu glauben, wie vornehm hier alles ist. Man sollte ein schlechtes Gewissen haben.«

»Ach, Unsinn, Immi«, sagte Claire. »Genieß es einfach, mal ein paar Tage nicht zu Hause zu sein.«

»Meinst du? Auf meine Jungs kann ich mich verlassen, die halten den Hof schon in Ordnung. Zumindest was das Füttern und Melken angeht. Aber heute oder morgen werden zwei Kühe kalben, das ist ja eigentlich meine Arbeit. Weiß der Himmel, ob das alles klappt. Und mein Heinrich kann sich ja nicht mal ein Spiegelei in die Pfanne hauen. Ich hab für drei Tage vorgekocht, er muss sich das nur noch im Ofen aufwärmen. Ich bete zu Gott, dass Heinrich …«

Claire hörte nur mit einem Ohr zu und blickte sich in der Halle um. Helga stand etwas abseits am Fenster. Sie telefonierte mit ihrem Mann. Zwar lagen ihre Augen hinter den Gläsern der Sonnenbrille verborgen, aber ihre angespannten Mundwinkel sprachen Bände.

Es war ein Wunder, dass sie überhaupt hatte mitfahren dürfen. Ihren Mann Wolfgang kontrollsüchtig zu nennen wäre wohl stark untertrieben. Er war hochgradig eifersüchtig und konnte seine Frau kaum mal ein paar Stunden mit ihren Schwestern alleine lassen. Der Plan, gleich für ein paar Tage in eine andere Stadt zu fahren, hätte ihm beinahe einen Herzinfarkt beschert. Bis zum Schluss war nicht klar gewesen, ob Helga dabei sein würde oder nicht.

Der Preis, den Helga für diesen Ausflug zahlte, war, dass sie nun mehrmals täglich ihren Mann anrufen und ihm bis ins Detail berichten musste, was die Schwestern taten. Nicht etwa, weil er sich dafür interessierte, sondern nur, damit er sichergehen konnte, dass seine Frau nichts tat, was er nicht dulden würde.

»Meinst du nicht auch, Claire?«

»Oh, entschuldige, Immi, ich war gerade abgelenkt.«

»Ich sagte nur: Heinrich würde sich doch melden, wenn er den Ofen nicht alleine angeschaltet kriegt, oder?«

»Sicher würde er das. Er hat ja die Nummer vom Hotel.«

Ebba kehrte der Rezeption den Rücken und marschierte mit einer Handvoll Schlüssel auf die Sitzgruppe zu.

»Es ist alles so weit geregelt«, sagte sie. »Helene Bruns hat eine Nachricht für uns hinterlassen. Die Stadtrundfahrt fängt in zwanzig Minuten an. Treffpunkt ist der Parkplatz hinterm Hotel. Wir sollten uns also beeilen. Schaffen wir die Koffer hoch.«

Dann beugte sie sich vor und legte Immi vertraulich die Hand auf den Arm. »Wo hast du die Sachen für Toni?«, fragte sie.

Claire unterdrückte ein Aufstöhnen. Dieser alberne Plan. Als wenn sich damit alle Probleme aus der Welt schaffen ließen. Typisch Ebba.

»In meinem Koffer natürlich«, sagte Immi. »Was denkst denn du? Gut weggepackt habe ich alles.«

»Hör zu, Immi, wenn wir gleich oben sind, dann steck die Sachen lieber in deine Handtasche. Ich glaube zwar nicht, dass wir hier im Hotel ausgeraubt werden, aber sicher ist sicher. Ich fühle mich besser, wenn wir die Sachen nicht aus den Augen lassen.«

»Aber ja, das mache ich. Eine gute Idee.«

Claire schluckte jeden Kommentar herunter.

Sie bemerkte, wie Helga am anderen Ende der Lobby das Gespräch beendete. Nur wer sie gut kannte, merkte, wie aggressiv sie war, als sie das Handy damenhaft in ihrer Handtasche versenkte und danach das Schloss mit einer eleganten Bewegung zuschnappen ließ.

»Gibt es Probleme mit Wolfgang?«, fragte Claire, als Helga sich zu ihnen gesellte.

»Ach. Ihm wäre es am liebsten, wenn ich mit dem nächsten Zug zurück nach Papenburg fahren würde. Wolfgang eben.«

Dann machte sie eine wegwerfende Handbewegung, die besagen sollte: Lassen wir dieses Thema besser.

Ebba hatte ihre konspirative Besprechung mit Immi beendet und machte sich nun an dem Gepäckturm zu schaffen.

»Wir müssen uns beeilen«, sagte sie. »Sonst verpassen wir die Stadtrund …« Sie stockte. »Wo ist Kamilla?«

Alle blickten sich um. Claire meinte, sie gerade noch gesehen zu haben. War sie nicht dort drüben am Prospektständer gewesen?

Ebba zögerte keine Sekunde. Sie nahm sofort das Heft in die Hand.

»Also gut«, sagte sie entschlossen. »Immi, du bewachst das Gepäck. Helga geht nach draußen und sucht dort nach ihr. Claire nimmt sich den Gastraum und die Bar vor. Ich werde auf den Toiletten und dem Parkplatz Ausschau halten. Wir treffen uns in fünf Minuten hier. Egal, ob wir Kamilla gefunden haben oder nicht.«

Und so wurde es gemacht.

Claire ging los und erkundigte sich beim Barmann, doch der hatte keine kräftig gebaute Frau gesehen. Sie ging weiter in den Gastraum, aber auch dort keine Spur von Kamilla. Eine Angestellte deckte bereits die Frühstückstische für den nächsten Morgen ein.

Gerade wollte Claire ins Foyer zurückkehren, als sie eine Gestalt in einem kleinen dunklen Gang entdeckte, der vom Gastraum abging. Es war Kamilla, die an der offenen Küchentür stand und konzentriert hineinspähte.

Claire trat näher und tippte ihr auf die Schulter. Kamilla registrierte ihre Schwester zwar, konnte den Blick jedoch nicht abwenden.

In der Küche herrschte rege Betriebsamkeit. Köche standen vor lodernden Gasflammen und hantierten mit mehreren Töpfen und Pfannen gleichzeitig. Es schepperte und krachte, Wasserdampf trübte den Blick. Kamilla hatte jedoch nur Augen für die Küchenjungen. Einer sortierte gerade verdorbene Tomaten aus, ohne dabei sonderlich wählerisch zu sein. Ein anderer wischte Dreckwasser auf, und er benutzte nur einen Lappen für alle Flächen. Kamilla hielt sich die Hand ans Herz.

Claire wusste genau, was ihrer Schwester durch den Kopf ging. Während der Busfahrt hatte Kamilla in einer Zeitschrift gelesen, dass derzeit das Norovirus in Berlin umgehe. Ein möglicher Grund sei mangelnde Hygiene in der Gastronomie. Für Kamilla war bereits das ein Argument gewesen, die Reise abzubrechen und wieder nach Hause zu fahren. Solche Dinge sollte man lieber nicht auf die leichte Schulter nehmen. Nur mit Müh und Not hatte Claire es geschafft, sie davon abzubringen. Doch jetzt wurde Kamilla Zeuge der hygienischen Bedingungen in ihrem Hotel. Claire schwante nichts Gutes.

Da fiel einem Koch plötzlich ein Salatblatt aus der Hand, das zur Dekoration eines Essens dienen sollte. Es segelte zu Boden und landete im Schmutz. Der Koch bückte sich, hob es auf, schüttelte es kräftig ab und legte es dann auf den Teller.

Kamilla schien der Atem zu stocken. Sie wandte sich mit schreckgeweiteten Augen an Claire und wirkte dabei, als wolle sie tausend Dinge sagen, die sie kaum in Worte fassen konnte. Schließlich ging ihr ein einziges Wort über die Lippen, das stellvertretend war für den ganzen Albtraum, den sie durchlebte. Sie sagte: »Claire.«

So wütend hatte Toni seinen Freund selten erlebt. »Du tust immer so, als wäre es für dich gar kein Problem, mit einem Mann zusammen zu sein, aber das verrätst du nur dort, wo dir nichts passieren kann. Woanders erzählst du den Leuten von deiner Freundin. Ich hab mich sogar damals im Fußballverein geoutet, und glaub mir, das war kein Zuckerschlecken. Aber du? Du schaffst es nicht mal, dich deiner eigenen Familie zu offenbaren. Weil du nämlich keinen Mumm in den Knochen hast!«

Jetzt fühlte sich Toni doch ungerecht behandelt. »Sie sollen einfach nicht so viel über mich wissen. Es geht sie nichts an.«

Tante Claire vielleicht, die könnte er einweihen. Aber letztlich war sie eben auch nur ein Teil dieser Familie, und deshalb war es das Beste, er ließ es einfach.

»So ein Quatsch!«, rief Micha. »Mach dir doch nichts vor: Du hast Schiss.« Weil Toni darauf nichts erwiderte, rief Micha: »Meine Güte, irgendwann musst du es ihnen sagen.«

»Wieso denn? Ich möchte mit der Vergangenheit abschließen. Ganz ehrlich.«

Micha verzog angewidert das Gesicht. Es sah aus, als wollte er noch etwas loswerden, doch dann schüttelte er nur den Kopf, als redete sein Freund einen so bodenlosen Müll, dass es sich gar nicht lohnte, darauf einzugehen.

Das wollte Toni nun auch nicht auf sich sitzen lassen.

»Ist mir doch egal, was meine Tanten über mich denken. Ich habe ihnen nicht von dir erzählt, weil es sie einfach nichts angeht. Mir ist es egal, ob sie diese Lebensweise dulden würden oder nicht. Ich bin nicht mehr in Papenburg. Das ist vorbei.«

Micha hob den Finger. »Ich will dir mal was sagen …«

Doch dann überlegte er es sich anders. Er lehnte sich im Stuhl zurück, verschränkte die Arme und verkündete mit entschlossener Stimme: »Ich möchte sie kennenlernen.«

Doch Toni hatte längst eine Entscheidung getroffen.

»Nein. Du gehörst in mein Leben. Nicht in deren.«

Das ließ Micha explodieren. Er sprang auf und packte Toni an den Schultern. »Was ist denn so schlimm?«, schrie er. »Ich weiß gar nichts über deine Familie. Ich weiß nur, dass deine Mutter tot ist. Sonst nichts. Ich weiß nicht einmal, wie sie gestorben ist.«

Jetzt wurde Toni ebenfalls laut. »Sie hat sich umgebracht. Okay? Sie hat sich umgebracht, und meine Familie hat mich für ihren Tod verantwortlich gemacht. Sie hat sich die Pulsadern aufgeschnitten! Jetzt weißt du es! Bist du zufrieden? Hast du deinen Willen?«

Sie standen sich gegenüber und starrten sich so wütend an, als würden sie jede Sekunde aufeinander losgehen. Dann machte der Computer mit einem Klingelton auf sich aufmerksam: Sie haben eine neue Nachricht.

Es war der Vorsprechtext für das Casting. Toni holte tief Luft. Micha ließ die Schultern sinken. Beiden war klar: Bei diesem Vorsprechen ging es einfach um zu viel. Ihr Streit würde warten müssen. Jetzt mussten sie sich auf etwas anderes konzentrieren.

»Also gut«, sagte Micha. »Machen wir uns an den Text?«

Toni nickte. »Gut, lass uns lernen.«