7. Kapitel

Was für ein wunderschöner Morgen! Strahlend blauer Himmel, die Sonne fiel warm durch die Fenster, und die Luft war erfüllt von Vogelgezwitscher. Als Claire aufwachte, kam es ihr vor, als wäre der Hinterhof eine einzige Voliere. Das gab es in Papenburg nicht. Die Wärme, die Sonne, die Luft, das alles war so wunderbar, selbst der Streit von gestern Abend schien da Lichtjahre entfernt zu sein. Aber natürlich war das nur eine Illusion.

Sie schlich in die Küche und kochte eine große Kanne Kaffee. Nach und nach erwachte das Leben in Tonis Altbauwohnung, und mit den anderen, die ihre verschlafenen Gesichter durch die Tür streckten, kehrte dann auch das Geschehen vom Vorabend zurück.

»Ist Toni heute Nacht zurückgekommen?«, fragte Kamilla, die mit ihren rosa Plüschpantoffeln in die Küche schlurfte. »Mir war so, als hätte ich irgendwann heute Nacht was gehört. Eine Tür oder so, da bin ich kurz aufgewacht. Ich dachte schon: Gott sei Dank, er ist wieder da.«

»Nein, leider nicht«, meinte Claire. »Außer uns ist keiner da.«

»Das war bestimmt ein Schock für ihn gestern Abend. Was geht ihm jetzt wohl alles durch den Kopf? Das möchte ich mir gar nicht ausmalen. Der arme Junge.«

»Wir müssen mit ihm reden. Er muss begreifen, was damals war. Jetzt, wo die Katze aus dem Sack ist, müssen wir ihm auch den Rest erzählen.«

»Wenn er doch nur heute Nacht zurückgekommen wäre.«

Ebba stand im Bad und murmelte irgendetwas Unverständliches an ihrer Zahnbürste vorbei.

»Wir können dich nicht verstehen, Ebba!«

»Vielleicht hat er ja draußen geschlafen«, wiederholte Ebba lauter. »Die Nacht war sehr mild.«

»Unter einer Brücke, oder was?«, rief Helga aus dem Schlafzimmer, wo sie die Betten machte. »Das wollen wir doch wohl nicht hoffen.«

»Er hat bestimmt bei Freunden übernachtet«, meinte Immi. »Mein Gott, der Ärmste. Da hauen wir ihm so etwas um die Ohren, und er kann sich nicht mal in seine Wohnung zurückziehen.«

»Das ist nun nicht mehr zu ändern.« Ebba erschien gewaschen und gekämmt auf der Schwelle. »Vielleicht ist er ja drüben bei Miss Barnes, und wir machen uns ganz umsonst Sorgen. Ich geh mal schnell rüber und sehe nach.«

»Ebba, warte!«, rief Claire. »Um diese Uhrzeit? Die liegen bestimmt alle noch in ihren Betten.«

Ebba sah auf ihre Armbanduhr. »Es ist gleich halb acht. Wer schläft denn um diese Uhrzeit noch?«

»Ich weiß nicht. Wir sind in Berlin.«

»Ach so.« Ebba dachte nach. Das Argument schien seine Wirkung zu haben. Eine Weile ging sie auf und ab, ohne recht zu wissen, was sie mit sich anfangen sollte, dann schüttelte sie barsch den Kopf. »Ach was! Ich geh einfach mal rüber. Halb acht. Bei uns liegt da kein Mensch mehr im Bett.«

Die anderen gingen vorsichtshalber in Deckung. Keine von ihnen wollte gesehen werden, wenn Ebba im Hausflur stand und Kayla aus dem Schlaf klingelte. Sie versteckten sich hinter der Küchentür und lauschten. Umso größer war die Erleichterung, als gegenüber die Tür schwungvoll aufgerissen wurde und Kayla mit frischer Stimme sagte: »Guten Morgen, Ebba, Sie sind ja schon auf. Ich hoffe, Sie haben gut geschlafen?«

»Das schon, Miss Barnes, danke. Ich frage mich nur, wo Toni heute Nacht geschlafen hat. Ist er vielleicht bei Ihnen aufgetaucht?«

»Nein, hier ist er nicht. Ich dachte eigentlich, er wäre bei Ihnen drüben.«

»Nein. Wir machen uns schon Sorgen. Wegen gestern Abend und dem, was er … ach, Sie wissen schon.«

Eine Weile sagte Kayla nichts.

»Ich schmeiß mal Lutz aus dem Bett. Vielleicht hat der eine Idee. Toni ist ja normalerweise nicht so stur, und er taucht nach einem Streit schnell wieder auf. Aber das gestern hat ihm wohl ziemlich zugesetzt.« Sie stieß einen schweren Seufzer aus. »Wir kommen gleich zu Ihnen rüber, ja? Dann überlegen wir gemeinsam, was zu tun ist.«

In diesem Moment verlor Kamilla das Gleichgewicht und stolperte in ihre Schwestern hinein. Ein spitzer Schrei ertönte, die Küchentür flog zur Seite, und Helga, Immi und Claire tauchten, Arme rudernd und Halt suchend, in Kaylas Blickfeld auf.

»Guten Morgen, die Damen!« Kayla zeigte ihre schneeweißen Zähne. »Sie sehen phantastisch aus heute Morgen. Haben Sie gut geschlafen?«

Verlegen murmelten die drei Schwestern etwas Unverständliches, und Helga warf Kamilla, die noch immer hinter der Tür verborgen stand, einen bösen Blick zu. Dann räusperten sie sich dezent und gingen mit erhobenen Köpfen zum Küchentisch zurück, wo ihre Kaffeetassen dampften.

Ebba schloss die Wohnungstür und folgte ihnen.

»Toni ist weg«, sagte Ebba mit belegter Stimme. »Drüben hat ihn auch keiner gesehen.«

Claire schenkte wortlos Kaffee ein. Ebba nahm einen Schluck und starrte vor sich hin.

»Du darfst dir keine Vorwürfe machen, Ebba«, sagte Immi schließlich.

Doch ihre Schwester schien sie gar nicht zu hören.

»Ich habe versagt«, meinte Ebba. »Auf ganzer Linie versagt. Der Plan ist gescheitert.«

»Ach was, das muss nicht so sein«, meinte Immi.

»Was soll denn noch passieren? Wie könnte es jetzt noch schlimmer werden?«

»Na gut, vielleicht sieht es gerade nicht toll aus, Ebba, aber …«

»Nein, Immi. Wir wollten Toni zurück in die Familie holen, deshalb sind wir hier. Wir wollten, dass er sich mit Curt versöhnt. Damit es so wird wie früher, bevor Curt diesen verfluchten Vaterschaftstest gemacht hat, als wir alle noch eine große Familie waren, die zusammengehalten hat.«

Claire schluckte ihren Kommentar dazu herunter.

Als wenn dieser DNA-Test schuld gewesen wäre. Es war doch vorher schon alles in Unordnung geraten, auch wenn sie da noch versucht hatten, es zu überspielen. Tonis Mutter hatte schon lange unter Depressionen gelitten, und die Ehe zwischen ihr und Curt war aus den Fugen geraten. Und im Prinzip hatten sie längst geahnt, was später durch den Test zur Gewissheit geworden war: dass Toni das Produkt einer außerehelichen Affäre seiner Mutter war.

»Toni hat gestern Abend erfahren, was er niemals hätte erfahren dürfen«, sagte Ebba niedergeschlagen. »Und jetzt hasst er uns dafür.«

»Er hasst uns doch nicht«, sagte Immi mit Nachdruck.

»Wenn doch Curt nur nicht so stur gewesen wäre«, meinte Ebba. »Er hat den Jungen über alles geliebt, genau wie seine Frau. Warum musste er dieses Testergebnis so wichtig nehmen? Das wäre doch gar nicht nötig gewesen. Keiner hätte erfahren müssen, was ohnehin nicht zu ändern ist. Immer dieser Drang, alles wissen zu wollen. Das ist doch grässlich.«

Sie redete sich in Rage. »Und überhaupt. Jetzt sitzen wieder alle da und lecken ihre Wunden. Wer hat denn da was von? Mit einem bisschen guten Willen hätte sich von Anfang an alles regeln lassen. Wenn nur alle nicht immer so selbstsüchtig wären.«

Typisch Ebba, dachte Claire. Als wäre das die Lösung für alles: Jeder muss sich nur am Riemen reißen, seine Probleme ignorieren und so tun, als wäre alles in bester Ordnung. Denn mit einem bisschen Disziplin hat bislang noch alles funktioniert.

»Und jetzt sind wir mit unserm Plan grandios gescheitert.« Ebba sank tief in ihren Stuhl. »Wir können hier nichts mehr tun. Wir sollten unsere Sachen packen und aus Tonis Wohnung verschwinden. Vielleicht sieht ja alles anders aus, wenn ein bisschen Gras über die Sache gewachsen ist.«

Schweigen senkte sich über den Küchentisch. Alle waren so beeindruckt von Ebbas Worten, dass Claires Kommentar wie eine Granate wirkte, die in der Stille hochging.

»Verflucht, Ebba! Einen Teufel werdet ihr tun!«

Danach wurde es so still wie vorher, nur starrten alle Claire an.

»Wenn ihr jetzt aufgebt«, sagte Claire nach einer Weile, »dann habt ihr mit diesem Besuch tatsächlich alles nur schlimmer gemacht. Und Toni ist für alle Zeit verloren. Glaubt mir, wenn wir jetzt gehen, dann wird er nie wieder ein Teil der Familie sein.«

Keine ihrer Schwestern erwiderte etwas, und sie fuhr fort: »Wisst ihr, ich war von Anfang an skeptisch, was diesen Plan angeht. Aber gut, ihr wolltet das unbedingt machen, und da habe ich mich nicht quergestellt. Aber jetzt, wo alles in Scherben liegt, da werdet ihr euch nicht einfach davonmachen, hört ihr? Jetzt bringen wir die Sache auch wieder in Ordnung.«

Ebba fixierte sie, aber Claire konnte ihren Blick nicht deuten. Ihr kam es vor, als spielten sie Poker. Keine durfte wissen, was die andere für ein Blatt hatte.

»Aber wie sollen wir das machen?«, fragte Immi. »Toni will doch nichts mehr von uns wissen. Außerdem fährt heute Nachmittag unser Bus zurück nach Papenburg. Und wir wissen nicht mal, wo Toni jetzt ist.«

»Das werden wir schon herausfinden«, sagte Claire. »Wir sind die einzige Familie, die er hat. Das war schon immer so. Und was kaputtgegangen ist, müssen wir jetzt eben wieder kitten.«

Ebba legte die Stirn in Falten und presste die Lippen aufeinander. Claire wollte schon weiterreden, doch da klopfte es draußen an der Tür.

Ebba stand auf und öffnete. Wenig später kam sie zurück, gefolgt von Kayla und Lutz.

Kayla lächelte gewinnend. »Noch mal einen guten Morgen zusammen. Oh, ich sehe, Sie haben Kaffee gekocht.«

Kamilla sprang auf, um ihr eine Tasse zu holen. »Er ist noch ganz heiß.«

»Claire macht den besten Kaffee überhaupt«, meinte Immi.

»Davon bin ich überzeugt.« Kayla nahm zwischen den Schwestern Platz.

Inzwischen war auch Lutz in der Küche aufgetaucht. Barfuß, mit zerzausten Haaren und verquollenen Augen. Das Licht schien ihn zu blenden, und die Anzahl der Menschen im Raum war erkennbar zu hoch für ihn. Offenbar stand er für gewöhnlich um einiges später auf. Er steuerte den Sessel an, der abseits in einer Ecke stand, ließ sich hineinsinken und zog die Knie eng an den Oberkörper.

»Tut mir leid, dass wir Sie geweckt haben«, sagte Ebba. »Aber es ging nun mal nicht anders.« Sie warf einen kritischen Blick auf die Uhr. »Was machen Sie denn eigentlich beruflich? Sind Sie nicht der Bankkaufmann?«

Die Frage klang wie ein Vorwurf. Lutz, der zunächst gar nicht begriffen hatte, dass er gemeint war, sah sich hilfesuchend um.

»Ähm … ich … also, in der Gastronomie.« Er schluckte. »Ich arbeite in der Gastronomie. Da muss ich natürlich immer sehr lange arbeiten. Sehr, sehr lange. Manchmal sogar bis in die frühen Morgenstunden hinein, ob ich nun will oder nicht.« Jetzt wurde er hellwach. Er ging in die Offensive. »Wissen Sie, Tante Ebba, die Leute hier in Berlin feiern jeden Abend, auch in der Woche. Oft stehe ich dann hinterm Tresen, möchte einfach nur noch ins Bett und frage mich: Was machen die eigentlich alle? Müssen die am nächsten Tag gar nicht arbeiten? Es ist schon verrückt in Berlin. Aber wenn man so einen Job hat wie ich, dann muss man halt damit leben.«

Kayla lächelte verstohlen und zog eine Augenbraue hoch. Doch Lutz blickte Ebba an, als könnte er kein Wässerchen trüben. Doch die hatte längst das Interesse verloren. Es war wohl auch eher eine rhetorische Frage gewesen, weshalb jemand den ganzen Morgen im Bett lag.

»Ich schätze mal, Toni ist bei Micha«, mischte sich Kayla ein. »Lutz hat die Nummer im Handy. Am besten versuchen wir es zuerst da.«

Lutz zog hastig sein Handy hervor.

»Wir können es ja mal versuchen«, sagte er. »Aber gut möglich, dass Toni sich verleugnen lässt. Ich muss ihn ständig … na, egal. Jedenfalls ist unsere Chance, dass er rangeht, wohl am größten, wenn er meine Nummer auf dem Display sieht.« Er blickte Kayla mit großen Augen an. »Soll ich?«

»Ja, wer sonst?«

»Na, ich dachte, es geht nur darum, dass meine Nummer am anderen Ende erscheint. Willst du nicht lieber mit ihm reden?«

»Gib schon her.« Kayla nahm das Handy, drückte die Verbindungstaste und hielt es sich ans Ohr. Sie wartete einen Moment, dann hob sie plötzlich den Finger in die Luft, denn offenbar nahm am anderen Ende einer ab.

»Micha?«

Micha schlief, sein Atem ging ruhig und gleichmäßig. Toni lag in seinen Armen und blickte zur Decke. Wenn er so dalag, nachts neben Micha, dann schien irgendwie alles möglich zu sein. Keiner konnte ihm etwas anhaben, er liebte und wurde geliebt. Es war ein berauschendes Gefühl.

Während er noch darüber nachdachte, merkte er, dass er auf die Toilette musste. Vorsichtig befreite er sich aus der Umarmung und schlich hinaus. Auf dem Weg ins Bad entdeckte er auf Michas Schreibtisch eine aufgeschlagene Zeitung. Es war der Immobilienteil. Überall waren Angebote mit gelbem Leuchtstift markiert worden. Toni wusste, was das zu bedeuten hatte.

Machte Micha das jede Woche? Ohne ihm etwas davon zu sagen? Toni spürte ein heftiges Gefühl der Zuneigung. Vielleicht war Micha ja der Richtige. Vielleicht sollte er wirklich mit ihm zusammenziehen. Was hatte er schon zu verlieren? Er musste sich nur einen Ruck geben und springen. Angst ist die Währung, mit der man Abenteuer bezahlt.

Zurück im Schlafzimmer, stand er eine ganze Weile da und betrachtete seinen schlafenden Freund. Micha wartete schon lange darauf, dass Toni ernst machte. Darauf, dass er ihm seine Liebe bewies. Endgültig.

Toni fasste einen Entschluss. Er wollte warten, bis der Besuch seiner Tanten vorüber war. Das wäre nebenbei eine gute Gelegenheit, sich selbst zu beweisen, dass er ein für allemal mit seiner Vergangenheit abgeschlossen hatte. Danach wäre er frei, frei für Micha, und er würde endlich mit ihm zusammenziehen.

»Micha? Leg nicht auf. Hier ist Kayla.«

»Wieso sollte ich auflegen? Und wieso rufst du von Lutz’ Handy an?«

»Dann ist Toni also nicht bei dir?«

»Nein, wieso sollte er? Ist er nicht zu Hause?«

»Du weißt also noch gar nicht, was passiert ist?«

Michas Herz setzte einen Schlag aus. Das Einzige, was er wusste, war, dass sie sich gestern gestritten hatten.

»Ist ihm etwas zugestoßen?«, fragte er erschrocken.

»Nein. Na ja, nicht wirklich.«

»Jetzt sag schon, Kayla. Was ist los?«

Kayla erzählte, und Micha brauchte nicht lange, um zu begreifen. Toni war gestern Abend zu ihm gekommen, um sich bei ihm auszuheulen. Sein ganzes Leben war gerade über seinem Kopf zusammengebrochen, und er war schnurstracks zu ihm gelaufen, zu Micha, um sich trösten zu lassen. Und was hatte er getan? Er hatte ihm eine riesige Szene gemacht.

»Und jetzt seid ihr auf der Suche nach ihm?«, fragte er.

»Richtig. Irgendwo muss er ja sein. Seine Tanten wollen mit ihm reden, bevor sie heute Nachmittag wieder nach Hause fahren. Er sollte sich anhören, was sie zu sagen haben. Das ist er ihnen schuldig.«

Micha spürte sein schlechtes Gewissen. Er hatte wirklich schlechtes Timing bewiesen gestern Abend.

»Micha? Alles in Ordnung?«

»Toni war gestern hier. Ich war sauer auf ihn, weißt du? Als er vor meiner Tür stand, hab ich ihn zusammengefaltet und weggejagt.« Mit einem gequälten Lächeln fügte er hinzu: »Er muss gerade von euch gekommen sein.«

»Entschuldige, dass ich lache.« Sie unterdrückte es. »Aber das ist mal wieder typisch Toni.«

»Ich telefoniere mal ein bisschen herum. Kann ja nicht so schwer sein, ihn zu finden. Wenn ich ihn hab, melde ich mich noch mal, okay?«

»Super, Micha. So machen wir’s.«

Micha versuchte es zuerst in dem Café, in dem Toni kellnerte.

»Nein, der ist nicht hier. Seine nächste Schicht ist erst am Mittwoch. Und in seiner Freizeit ist er nur selten hier.«

»Gut. Wenn er auftaucht, sag ihm, er soll sofort bei mir anrufen. Oder warte. Sag ihm besser nichts, und ruf du mich stattdessen an. Hast du meine Nummer?«

Micha gab sie durch und nahm sich die nächste Nummer vor.

Erst acht Telefonate später wählte er wieder Lutz’ Handynummer. Kayla meldete sich.

»Kayla? Bleibt, wo ihr seid. Ich komm zu euch rüber. Dann suchen wir zusammen.«

»Miss Barnes? Haben Sie wirklich keine Idee mehr, wo wir es noch versuchen könnten?«

»Nein, Kamilla. Ich wünschte, ich könnte Ihnen helfen, aber ich bin genauso ratlos wie Sie«, meinte Kayla seufzend.

Sie konnte ja verstehen, dass Toni die Neuigkeit erst einmal verdauen musste. Aber war es denn nötig, gleich ganz von der Bildfläche zu verschwinden?

Diese verfluchte Dramaqueen.

»In ein paar Stunden fährt der Bus«, presste Immi unglücklich hervor.

»Keine Sorge, Immi«, sagte Ebba. »Gleich kommt Micha, der wird Rat wissen.« Plötzlich war Entschlossenheit in ihrer Stimme, und sie wandte sich an Claire. »Wir werden mit Toni reden, Claire, das verspreche ich dir. Wir sind ihm die Wahrheit schuldig, die ganze Wahrheit. Und ehe wir nicht mit ihm gesprochen haben, fahren wir nicht zurück nach Papenburg.«

»Die ganze Wahrheit? Also auch …«, meinte Immi zweifelnd.

»Genau das meine ich. Und das bedeutet«, fuhr Ebba fort, »wir müssen uns langsam was Besseres einfallen lassen, als hier herumzusitzen und das Telefon anzustarren.«

Es klingelte an der Tür. Wie auf Bestellung.

»Das wird Micha sein«, sagte Ebba und stand auf. »Wollen wir doch sehen, ob der nicht noch ein paar Ideen hat.«

Sie betätigte die Gegensprechanlage. »Hallo!«, rief sie. »Ja, wir sind alle hier! Kommen Sie nur hoch, wir warten schon auf Sie.«

Kayla nutzte die Pause und goss sich einen Kaffee ein.

»Ich weiß, es geht mich im Grunde nichts an«, sagte sie. »Aber wer ist denn Tonis biologischer Vater? Lebt der noch?«

»Ja, Tonis biologischer Vater …« Claire seufzte. Dann blickte sie auf, als wäre damit alles gesagt, was es zu dem Thema zu sagen gab.

»Er ist einer der Gründe, weshalb wir damals beschlossen haben, Toni nichts zu sagen«, meinte Helga.

»Wir wissen nicht mal, ob er noch lebt«, sagte Immi. »Er war Schausteller, wissen Sie. Er hatte einen Schießstand auf der Kirmes. Gehörte zum fahrenden Volk.«

»Ein windiger Hund war das«, fügte Kamilla hinzu. »Er sah zwar toll aus, und er hatte auch diese Art selbstbewusste Arroganz, die einen schnell den Verstand verlieren lässt.«

»Aber ihm fehlte es an Herz«, fiel Helga ein. »An Herz und Verstand. Und ein Säufer war er obendrein.«

»Er hat unserem Sabinchen das Herz gebrochen. Und zu allem Überfluss wurde sie auch noch schwanger«, meinte Kamilla. »Damals hat keiner geglaubt, die Ehe würde das überstehen.«

»Von Anfang an war da der Verdacht, das Kind könnte von diesem Mann gezeugt worden sein. Curt hat sich zwar nicht scheiden lassen, obwohl er bestimmt darüber nachgedacht hat, aber er ist seiner Frau von da an aus dem Weg gegangen«, erzählte Helga. »In die innere Emigration sozusagen.«

»Und Sabinchen ist an seiner Seite verhungert, obwohl er sie eigentlich über alles geliebt hat. Aber sein Herz war gebrochen, verstehen Sie, Kayla? Er konnte ihr nicht vergeben«, fuhr Immi fort.

»Dafür hat er Toni mit Liebe überschüttet. In den ersten Jahren jedenfalls. Toni sieht nämlich aus wie seine Mutter, die Ähnlichkeit ist frappierend. Da war es leicht für Curt, sich einzureden, er wäre der Vater.«

»Aber dann kamen diese DNA-Tests auf den Markt. Sie wissen schon, da kann man ein Haar abgeben oder einen Kaugummi, und dann stellen die im Labor fest, ob man der leibliche Vater ist.«

»Und genau das hat Curt gemacht. Dieser Idiot. So bekam er dann die Gewissheit: Toni ist nicht sein Sohn, zumindest nicht in biologischer Hinsicht«, meinte Immi. »Aber wenn ihr mich fragt, war Curt bis zu diesem blöden Test mehr Vater, als die meisten je von sich behaupten können.«

»Aber Curt hat das wohl anders gesehen«, bemerkte Claire. »Er hat sich von Toni zurückgezogen. Genau wie zuvor von Sabinchen.«

»Und die wurde krank, müssen Sie wissen. Sie litt unter starken Depressionen. Zeitweise wurde sie in eine Klinik eingewiesen, dann war sie für Wochen fort. Und Curt weigerte sich, Toni in dieser Zeit zu versorgen. Weil es ja nicht sein Sohn war, wie er uns gegenüber betonte.«

»Toni kam also zu uns, reihum.«

»Wir haben versucht, ihm ein Zuhause zu geben.«

»Er sollte wissen, dass er nicht alleine ist.«

»Aber dann hat sich Sabinchen das Leben genommen. Sie hat sich ein Bad eingelassen und die Pulsadern aufgeschnitten. Und Toni hat sie gefunden, können Sie sich das vorstellen?«

»Danach war er wie ausgewechselt. Er hat sich vollkommen zurückgezogen. Und wir haben eine Entscheidung von Curt gefordert: Entweder kümmert er sich um den Jungen, oder er gibt ihn weg.«

»Nach einigem Zögern hat sich Curt entschieden. Er hat Toni wieder bei sich aufgenommen.«

»Wir hätten mit dem Kind zum Psychologen gehen sollen. Aber damals hat man über so etwas noch nicht nachgedacht. Schon gar nicht in Papenburg.«

»Also haben wir Toni einfach in den Ferien wieder bei uns wohnen lassen. Um ihm ein gutes Zuhause zu geben.«

»Ob das gereicht hat, weiß keiner. Wenn ich mir aber ansehe, wie wenig Toni mit uns zu tun haben will, dann nehme ich mal an … na ja …«

Es wurde still am Küchentisch. Schließlich lächelte Claire etwas gequält. »So, jetzt kennen Sie die ganze Geschichte.«

»Ich verstehe«, sagte Kayla. »Keine schöne Sache, das alles.«

Im Treppenhaus polterte es, und dann tauchte Micha im Wohnungsflur auf, wo Ebba ihn herzlich in Empfang nahm. Er trat etwas schüchtern in die Küche und lächelte unbeholfen. Nachdem sich alle vorgestellt hatten, ließ Micha sich schließlich auf einen Stuhl sinken.

»Ich habe überall angerufen, wo er meines Wissens sein könnte, aber nichts«, sagte er. »Es ist, als wäre er vom Erdboden verschluckt.«

»Dann müssen wir uns etwas anderes einfallen lassen«, sagte Ebba.

»Wisst ihr was?«, meinte Kamilla. »Wir sollten erst einmal etwas frühstücken. Auf leeren Magen wird uns nichts Vernünftiges einfallen.«

»Da hast du recht, Kamilla«, sagte Claire. »Allerdings ist Tonis Kühlschrank so gut wie leer. Ich habe schon nachgesehen.«

»Kein Problem.« Kamilla erhob sich. »Ich gehe schnell zum Bäcker und hole Brötchen. Bestimmt gibt es dort auch ein bisschen Marmelade und Aufschnitt.«

»Warte! Ich komme mit!«, sagte Claire.

»Nein, das ist nicht nötig. Bleib du ruhig hier bei den anderen, und denk über Toni nach.«

Die anderen wechselten beunruhigte Blicke.

»Denkt ihr etwa, ich schaffe es nicht, alleine zum Bäcker zu gehen?«, fragte Kamilla. »Der ist nur ein paar Hundert Meter entfernt, den haben wir doch auf dem Weg von der U-Bahn hierher gesehen! Was soll mir denn passieren? Denkt ihr, ich gehe verloren?«

Den Gesichtern nach zu urteilen, traf sie mit ihrer Vermutung ins Schwarze.

»Wäre es denn so schlimm, wenn Claire dich begleiten würde?«, fragte Ebba vorsichtig.

Kamilla reckte ihr Kinn. »Jetzt schon. Ich gehe alleine. Ihr werdet sehen.« Sie blickte sich um. »Wo ist meine Handtasche? Ich hab sie doch eben noch gesehen.«

Kayla entdeckte sie unter dem Küchentisch. Sie hatte einen Einfall. Unauffällig tastete sie ihre Hosentasche ab. Ein kleiner Gegenstand ließ sich ertasten. Tatsächlich. Was für ein Glück. Sie zog ihn heraus und ließ ihn in die Handtasche gleiten. Keiner hatte es gesehen. »Hier, ich hab sie«, sagte sie und reichte sie Kamilla.

Die nahm sie mit einem schmallippigen »Danke« entgegen und verschwand durch die Wohnungstür.

Micha war es, der die Schwestern wieder auf andere Gedanken brachte. »Wenn er wenigstens an sein Handy gehen würde«, jammerte er. »Er sieht doch, dass ich anrufe. Warum tut er mir das an?«

»Moment mal«, sagte Kayla. »Heißt das, er hat es gar nicht ausgeschaltet?«

»Genau. Aber er geht auch nicht ran.«

Kayla lachte. So war Toni eben: Erst machte er eine Riesenszene, schottete sich dann von der Welt ab und wollte von keinem mehr gefunden werden – aber das Handy ließ er an, um genau zu sehen, wer wie oft anrief und um Vergebung bitten wollte.

»Also gut«, begann Ebba. »Dann lasst uns jetzt überlegen, wo er sich verstecken könnte. Micha – ich darf dich doch Micha nennen, oder? Schließlich gehörst du ja zur Familie. Also, Micha, du sagst uns am besten …«

Kayla entschuldigte sich mit einem Lächeln und stand auf. Im Zimmer nebenan zog sie ihr Handy aus der Hosentasche und wählte eine vertraute Nummer.

Am anderen Ende meldete sich eine dunkle Stimme. »Kessler.«

»Rolf, hier ist Kayla.«

»Kayla«, sagte er überrascht. »Was gibt’s?«

»Pass auf, Rolf. Als du neulich den libanesischen Drogenring mit meiner Hilfe ausheben konntest, da hast du gesagt, ich hab was bei dir gut, richtig?«

Die Skepsis in seiner Stimme war nicht zu überhören. »Ja, stimmt. Wieso?«

»Du musst mir einen kleinen Gefallen tun.«

»Geht es dabei um was Legales?«

Sie lächelte. »Im Wesentlichen schon.«

Lutz hockte noch immer in seinem weichen Sessel, der etwas abseits stand. Am Tisch wurde weiter Kriegsrat gehalten, keiner beachtete ihn. Tante Kamilla war unversehrt vom Bäcker zurückgekehrt, was für ziemliche Erleichterung gesorgt hatte. Jetzt frühstückten die Tanten und redeten dabei über Toni. Die Stimmen am Tisch lullten ihn ein. Nur kurz die Augen ausruhen, dachte er. Ein oder zwei Sekunden, länger nicht. Danach bin ich wieder voll dabei.

»Und was ist mit Ihnen?«

Lutz schreckte auf und blinzelte gegen das Licht. Tante Ebba stand plötzlich vor ihm. Sie sah riesengroß aus. Und gefährlich. Ob das eine optische Täuschung war? Als wäre sie um einen Meter gewachsen.

Wieder ihre durchdringende Stimme: »Was haben Sie sich überlegt?« Es klang wie: Stellen Sie sich an die Wand.

War er etwa eingeschlafen?

»Wie bitte?«, stotterte Lutz.

»Wie bitte?«, äffte sie ihn nach. »Wie bitte was, junger Mann? Ich frage, was Sie sich überlegt haben. Wie wollen Sie helfen?«

O Gott, und er war noch gar nicht richtig wach.

»Ähm … ich?«

»Mit wem rede ich wohl?«

Lutz sah sich verstört um. Doch Kayla war nicht mehr da, und Micha saß mit den anderen am Tisch und beachtete ihn nicht. Keiner würde ihm helfen. Er war allein mit dieser Frau.

»Oder ist Ihnen Ihr Mitbewohner egal?«

Haltung. Du musst Haltung annehmen. Sitz aufrecht. Und lächle.

»Natürlich nicht.«

»Dann machen Sie sich irgendwie nützlich.«

Sie verschränkte die Arme vor der Brust. Und wartete.

»Jetzt!«, bellte sie.

»Ja.« Er sprang auf. »Ja.« Ein leichter Schwindel. »Ja, ich mache mich nützlich.«

Dann stolperte er los. Erst mal raus hier. Sein Zimmer war voller Koffer, dort konnte er nicht hin. Also floh er weiter, durch den Flur und dann in Kaylas Wohnung. Das war gut. Kaylas Wohnung war neutrales Terrain. Dort würde Tante Ebba ihn nicht suchen. Er warf die Tür hinter sich ins Schloss.

Es wurde still. Er atmete durch.

»Mensch, Toni«, stieß er aus. »Hauptsache, du tauchst bald wieder auf.«

Kayla riss die Tür auf und betrat Tonis Küche.

»Ich hab ihn!«

Damit hatte keiner gerechnet. Alle starrten sie an. Sprachlos und voller Bewunderung.

Kayla sonnte sich für ein paar Sekunden auf dem Feld ihres Sieges. Dann warf sie sich die Lederjacke über, nahm ihren Motorradhelm und steuerte die Tür an.

»Ich werde ihn herschaffen«, sagte sie. »Ich bin bald wieder da.«

»Aber …« Ebba war völlig durcheinander. Ihre Souveränität war für den Moment wie weggeblasen. Noch ein Sieg für Kayla. »Wie haben Sie das geschafft?«

Eigentlich wollte Kayla es ja für sich behalten, aber die Versuchung war zu groß. Sie brauchte mehr von diesem süßen Gift. Gleich würden sie alle anhimmeln.

»Ach, das war keine große Sache«, sagte sie lässig. »Ich habe einfach sein Handy orten lassen.«

Die Blicke allein waren ihr Belohnung genug.

»Ein Kumpel von mir ist bei der Polizei«, erklärte sie. »Der hat das für mich arrangiert.«

»Aber darf der das denn so einfach? Ohne richterlichen Beschluss?« Das war Micha. »Das geht doch gar nicht.«

Na toll. Irgendjemand hatte doch immer was zu mäkeln.

»Und wenn schon. Ist doch nicht mein Problem. Das war ganz leicht, ihn zu überreden. Und wichtig ist ja auch nur, dass wir jetzt wissen, wo Toni ist.«

Helga rief: »Darf ich mitkommen?«

»Sorry, Helga, aber auf dem Motorrad ist nur Platz für zwei. Und ich muss Toni auf dem Rückweg mitnehmen.« Sie zwinkerte ihr zu. »Aber wenn Sie wollen, drehen wir später noch eine Runde, bevor Sie nach Papenburg zurückmüssen.«

»Aber Miss Barnes«, sagte Kamilla. »Was ist, wenn Toni nicht mitkommen will?«

Kayla zeigte ihre strahlend weißen Zähne. »Glauben Sie mir, Kamilla. Dann werde ich ihn an den Haaren packen und hinter mir her schleifen.«

Und es gab niemanden im Raum, der das anzweifelte.