8. Kapitel

Toni war völlig ausgehungert. Er schlurfte an Cafés und Frühstückslokalen vorbei und schielte mit wässrigem Mund durch die Fenster. Seine blöde Brieftasche lag noch in der Wohnung. Er hatte nichts dabeigehabt, als er gestern die Flucht ergriffen hatte. Kein Geld, keine Zahnbürste und schon gar keine Kleidung zum Wechseln.

Und so sah er jetzt auch aus.

Sein T-Shirt war bereits gestern nicht mehr ganz taufrisch gewesen, aber er hatte sich gedacht: Egal, für einen Tag geht es schon. Er hatte es eben unbedingt beim Casting tragen wollen, und jetzt hatte er auch noch darin geschlafen. Doch am schlimmsten war der Hunger. Einen kurzen Moment hatte er überlegt, ob er sich nicht irgendwo ein Frühstück bestellen und nach dem Essen einfach verschwinden sollte, ohne zu zahlen. Aber so, wie er aussah, würde er vielleicht gar nicht bedient werden. Wenn er sich doch wenigstens irgendwo waschen könnte.

Aber wo? Zu Freunden oder Bekannten konnte er nicht. Die Gefahr, dass seine Tanten ihn dort aufstöbern würden, war zu groß. Und er wollte sie auf keinen Fall mehr sehen, um nichts auf der Welt. Ihr blöder Bus ging heute Nachmittag, bis dahin würde er in Deckung bleiben.

In diesem Moment fielen ihm zwei aufgetakelte Frauen in einem Straßencafé auf, die sich erhoben, ihre Einkäufe nahmen und auf hochhackigen Sandalettchen davonstöckelten. Toni hatte nur Augen für das halb verzehrte Schokocroissant, das auf dem Tisch zurückblieb. Er näherte sich unauffällig, doch gerade als er zuschnappen wollte, versperrte ihm ein Kellner den Weg. Er war wie aus dem Nichts aufgetaucht, warf Toni böse Blicke zu, räumte den Tisch ab und trug alles ins Innere.

Toni ging mutlos weiter. Schon wieder nichts. Doch er hielt die Augen offen. Er würde eine neue Chance bekommen.

Plötzlich kam ihm eine Idee. Er wusste, wohin er gehen konnte. Dort würden ihn seine Tanten niemals suchen. Natürlich. Er machte auf dem Absatz kehrt und lief zur S-Bahn.

Es dauerte nur eine halbe Stunde, dann hatte er sein Ziel erreicht: eine alte Gründerzeitvilla im Grunewald, das Domizil seiner Agentin Viktoria Glück.

Das Gebäude sah aus wie ein düsteres Schloss, mit verwitterten Zinnen und brüchigem Fassadenschmuck. Viktoria Glück hatte die Villa vor Jahren geerbt, doch ihre Einnahmen reichten nicht aus, um das Gebäude zu unterhalten.

Er betätigte die Klingel, irgendwo im Innern ertönte ein Unheil verkündender Gong, und kurz darauf stand seine Agentin auf der Schwelle. Wie immer mit strengem Gesicht, übertrieben aufrechter Haltung und einem festen Haarknoten, der die Funktion eines Liftings perfekt erfüllte. Ihre Haut sah grau und ungesund aus, und eine Nebelbank aus Zigarettenqualm umhüllte sie.

Als sie Toni vor sich sah, verlor ihr Gesicht alles Strenge. Sie wirkte vielmehr besorgt.

»Mein Gott, wie siehst du denn aus?«

»Ich … kann nicht nach Hause. Da wartet meine Familie.«

»Deine Familie?«, fragte sie erstaunt.

»Ja. Ich habe in meinem alten Theater geschlafen. Auf der Bühne, deshalb sehe ich so zerknittert aus.«

»Und in deine Wohnung kannst du nicht?«

»Nein, das habe ich doch gesagt. Da ist meine Familie.«

Das ganze Unglück seiner Situation überwältigte ihn. Sein Selbstmitleid wurde so groß, dass er sich nicht dagegen wehren konnte.

»Ich hab seit gestern Mittag nichts gegessen.«

Viktoria Glück ließ sich erweichen. »Komm erst mal rein.« Sie führte ihn in einen schmalen, dunklen Flur mit unfassbar hohen Decken. »Vielleicht gehst du zuerst ins Bad. Frische Handtücher liegen neben dem Waschbecken. Ich werde in der Zwischenzeit sehen, ob ich dir nicht etwas zum Frühstück machen kann.«

»Danke. Echt. Vielen Dank.«

Beinahe hätte er vor Dankbarkeit zu heulen begonnen. Er wandte sich ab und steuerte das Bad an.

»Du hast also die falsche Rolle einstudiert?«, warf sie ihm in den Rücken. »Hast du etwa geglaubt, ich erfahre das nicht?«

Er blieb stehen. »Bernd, Boris – wer soll das auseinanderhalten? Das hätte jedem passieren können, wirklich. Die Namen waren sich eben furchtbar ähnlich.«

»Und deshalb habe ich dir geschrieben: Du bist Boris. BORIS. Es stand dick in meiner Mail. Eigentlich nicht zu übersehen.«

Toni wartete, ob noch etwas hinterherkam, aber seine Agentin schüttelte nur den Kopf und ging davon. Dieses blöde Casting. Die Leute von der Produktion hatten ihm nach seinem Patzer eine halbe Stunde gegeben, um den richtigen Text zu lernen, und währenddessen mit dem Vorsprechen der anderen weitergemacht. Aber die halbe Stunde hatte natürlich nicht gereicht, und Toni war viel zu aufgeregt gewesen, um sich den Text zu merken. Auch sein zweiter Auftritt war alles andere als souverän gewesen.

Nachdem er sich gründlich gewaschen hatte, ging er ins Wohnzimmer und setzte sich an den Esstisch. Auch hier sah es aus, als wäre die Zeit vor Ewigkeiten stehen geblieben. Schwere Vorhänge, gedrechselte Möbel, Stofftapeten, eine riesige Standuhr. Als könnte jeden Moment Zarah Leander aus der Küche kommen.

Stattdessen kam Viktoria Glück. Sie trug ein Tablett mit Rührei und Speck, Tomaten, Weißbrot und Würstchen, dazu eine Kanne starken Kaffee. Toni wurde schwach. Glücklich stürzte er sich aufs Essen.

Viktoria Glück beobachtete ihn eine Weile, dann sagte sie: »Wieso gehst du nicht an dein Handy?«

Toni versuchte mit vollem Mund etwas zu sagen, doch sie konnte sich die Antwort bereits selbst geben: »Ach ja, deine Familie.«

Sie zündete sich eine Zigarette an. »Wie auch immer. Ich bin froh, dass du hier bist. Dann kann ich dich ja darüber in Kenntnis setzen, dass du heute einen Termin hast.«

»Was denn, zum Vorsprechen?«

Sie nickte. »Bernd und Boris wollen dich noch mal sehen. Zum Recall. Du bist aber nicht der Einzige, den sie einladen, deshalb mach dir keine allzu großen Hoffnungen.«

Toni starrte sie ungläubig an. »Der Abenteuerfilm? Aber da habe ich doch total versagt.«

»Na, dann kannst du ja heute noch mal versagen.«

»Aber ich verstehe nicht …«

»Glaub mir, Toni, ich auch nicht. Vielleicht ist das ein Zeichen für ihre Verzweiflung, weil sie immer noch keinen Hauptdarsteller haben. Aber das muss uns gar nicht interessieren. Du bist weiterhin im Spiel. Nur das zählt. Kneif die Arschbacken zusammen, und mach das Beste draus.«

In seiner Brust kämpften Hoffnung und Resignation.

»Aber gegen Noah Winter habe ich doch eh keine Chance.«

»Noah Winter ist raus.«

»WAS? Wieso denn das? Er soll großartig gewesen sein beim Vorsprechen. Außerdem war er der Einzige mit VIP-Faktor. Das wollten die doch unbedingt.«

»Er kommt aus einer Daily Soap. Das war dem Produzenten dann doch zu ordinär. Jetzt heißt es, lieber ein unbekanntes Gesicht als Noah Winter.«

»Und ich bin in der engeren Wahl? Trotz meines totalen Versagens?«

»Richtig. Aber das heißt nicht, dass du die Rolle schon hast. Du darfst nur wiederkommen.«

»Und Richy Erdmann?«

»Ist auch raus.«

»Ich fass es nicht.«

»Willkommen im Showbusiness.«

Es folgte ein Hustenanfall. Viktoria Glück legte die halb gerauchte Zigarette geziert in den Aschenbecher, damit sie beide Hände frei hatte, um gegen das Ersticken anzukämpfen. Ihr Kopf wurde hochrot, es sah aus, als würde sie gleich platzen, doch sie hörte einfach nicht mehr auf zu husten.

Toni machte sich Sorgen.

»Was soll ich denn machen?«, keuchte sie schließlich zwischen zwei Hustenattacken. »Etwa aufhören zu rauchen?«

»Ich weiß nicht«, meinte er, doch das ging bereits wieder im nächsten Anfall unter.

Danach nahm sie wieder Haltung an, fischte die Zigarette aus dem Aschenbecher und zündete sie erneut an.

»Gibt es Text, den ich lernen muss?«

»Dafür wäre es wohl ein bisschen spät. Aber sei froh, dass sie diesmal keinen Text haben, dann kannst du ihn wenigstens nicht vergessen oder für die falsche Rolle lernen. Es geht wohl um Improvisation oder so etwas, du wirst es ja sehen.«

»Und wann geht’s los?«

»Ach, du hast noch genügend Zeit. Erst um eins.«

Also noch vier Stunden. Da konnte er es sich noch ein bisschen gemütlich machen. Er verspeiste die Reste seines Frühstücks, wischte sich den Mund mit einer Stoffserviette ab, lehnte sich zurück und seufzte. Er war satt und zufrieden. Seine schreckliche Familie war beinahe vergessen. Unglaublich, wie viel Trost ein Besuch bei seiner Agentin spenden konnte. Das hätte er nie gedacht.

Glücklich gähnte er und schlug die Beine übereinander. Ob er jetzt auch eine Zigarette rauchen sollte?

»Du musst jetzt gehen, Toni.«

»Wie bitte?«

»Du musst gehen, hörst du schlecht? Ich erwarte Besuch. Du hast schon lange genug meine Zeit geraubt. Sieh zu, dass du pünktlich beim Vorsprechen bist. Mehr kann ich nicht für dich tun.«

Und fünf Minuten später stand er wieder auf der Straße. Ohne Ziel und ohne Zuhause. Ein letztes Mal blickte er zum düsteren Schlösschen zurück, aus dem er gerade vertrieben worden war, dann wandte er sich ab und trottete zurück zur S-Bahn.

»Diese alte Hexe rückt einfach nicht mit der Sprache raus.«

Ebba hatte das Telefon auf laut gestellt und es mitten auf den Küchentisch platziert. So konnten alle Kaylas Flüche hören.

»Die weiß doch genau, wo Toni ist, da geh ich jede Wette ein. Aber die ist aus Granit. Aus der hole ich nichts raus. Tut mir leid, Ladys, aber da komme ich nicht weiter.«

»Machen Sie sich keine Vorwürfe, Miss Barnes«, rief Ebba ins Telefon. »Sie haben sich alle Mühe gegeben.«

Kayla Barnes stand mit ihrem Motorrad vor dem Haus von Tonis Agentin. Dort war sein Handy von der Polizei geortet worden. Doch als Kayla dort eintraf, war Toni bereits über alle Berge gewesen.

»Aber sein Handy, das befindet sich immer noch bei dieser Frau?«, fragte Kamilla.

»Ja«, meinte Kayla. »Er hat es bei ihr auf dem Tisch liegen lassen. Und jetzt halten Sie sich fest: Nicht mal das verfluchte Handy wollte sie mir geben. Sie sagte: Das händige ich Toni lieber persönlich aus.«

»Und Toni ist ganz bestimmt nicht mehr im Haus?«, rief Immi. »Vielleicht versteckt er sich ja bei ihr.«

»Nein, nein. Glauben Sie mir, Toni ist weg. Ich hab mich auf dem Grundstück ein bisschen umgesehen, bevor ich bei ihr geklingelt habe. Wie es aussieht, hat er sein blödes Handy einfach bei ihr vergessen. Ohne jeden Hintergedanken.«

»Das bedeutet, wir haben ihn verloren?«, fragte Helga.

»Ja, sieht so aus. Im Moment jedenfalls.«

»Aber in fünf Stunden geht unser Bus!«, rief Kamilla. »Was machen wir denn jetzt?«

»Micha soll genau nachdenken, wo Toni sein könnte«, sagte Kayla. »Wenn seine Agentin weiß, wo er sich versteckt, dann kennt Micha das Versteck bestimmt auch. Ich komme gleich zu Ihnen zurück. Vorher folge ich aber noch einem anderen Verdacht. Gut möglich, dass Toni heute ein Casting hat und deshalb bei seiner Agentin war. Ich werde mal mit ein paar Freunden aus dem Filmgeschäft telefonieren. Vielleicht erfahre ich ja, wo heute überall Castings stattfinden. Also gut, Ladys, ich melde mich.«

Und schon war sie aus der Leitung.

Ebba wandte sich an Micha. »Du hast gehört, was du zu tun hast. Denk nach, wo noch ein Versteck sein könnte.« Dann richtete sie das Wort an ihre besorgten Schwestern: »Wir werden es schaffen, hört ihr? Wir werden Toni finden und mit ihm reden. Und danach bleibt immer noch genug Zeit, um zum Busbahnhof zu fahren.«

»Was ist denn hier los?« Eine dunkle Stimme hinter ihnen. »Frauen am Rande des Nervenzusammenbruchs? Und überhaupt: Wo ist Toni?«

Henrik war in der Küche aufgetaucht. Alle starrten ihn an. Er trug ein ausgeleiertes und schmutziges Unterhemd, das ein paar Nummern zu groß war und deshalb eine Menge von seiner ungesund weißen Haut preisgab. Seine Dreadlocks trug er heute zusammengebunden, weshalb die Tätowierungen am Hals zu erkennen waren: ausschließlich Monster und Totenköpfe. Seine nackten Füße sahen aus, als hätte er die letzte Ausgrabung in Mecklenburg allein mit ihnen bestritten. Mit einem Satz: Nicht nur Kamilla sorgte sich um Krankheitserreger.

Henrik deutete die Blicke falsch. »Die Tür war offen, und da bin ich einfach rein. Tut mir leid, ich wollte keinen erschrecken.« Er sah sich um. »Ist Toni denn immer noch nicht wiedergekommen?«

»Nein«, sagte Immi. »Wir suchen ihn schon überall.«

»Um fünfzehn Uhr geht unser Bus zurück nach Papenburg«, fügte Kamilla hinzu. »Aber wir können doch so nicht gehen. Nicht nach dem, was gestern Abend passiert ist. Wir müssen mit Toni reden.«

»Aber er hat wohl beschlossen abzutauchen«, meinte Claire. »So lange, bis wir weg sind.«

Henrik stieß einen Pfiff aus. »Toni ist doch ein Idiot.« Er sah sich um. »Und? Was ist jetzt der Plan?«

»Wir suchen ihn«, sagte Micha. »Aber das stellt sich als ziemlich schwer heraus. Kayla ist mit dem Motorrad unterwegs. Und ich soll mir überlegen, welche Verstecke infrage kommen. Schließlich kenne ich Toni am besten.«

Henrik zog sich eine Selbstgedrehte hinterm Ohr hervor und zündete sie an. Dann kratzte er sich am Hinterkopf.

»Und habt ihr es schon auf seinen Internetprofilen versucht?«, fragte er. »Toni ist doch einer von diesen Typen, die jeden Furz melden, als wär ’ne Bombe eingeschlagen.«

Micha schlug sich gegen die Stirn. »Natürlich. Wieso hat keiner daran gedacht? Einen Versuch ist es zumindest wert.«

»Soll ich mich darum kümmern?«

»Hast du Zeit für so was?«

»Klar. Was soll ich sonst machen?« Er lächelte. »An meiner Magisterarbeit schreiben?«

Micha lächelte zurück. »Stimmt auch wieder.«

Claire mischte sich ins Gespräch. »Wieso kann uns das Internet dabei helfen, Toni zu finden? Wenn wir mit Kaylas Polizeimethoden nicht weiterkommen?«

»Waren Sie schon mal auf Tonis Facebook-Profil? Kennen Sie sich mit dem Internet aus?«

»Ja, natürlich. Ich weiß, was Google ist, und außerdem habe ich E-Mail. Das nutze ich alles.«

Zwar war das ein bisschen gelogen, denn sie musste jedes Mal eines ihrer Kinder anrufen, wenn sie in diesem E-Mail-Dings was nachgucken wollte. Aber die Theorie war ihr durchaus geläufig, da brauchte ihr keiner was zu erzählen.

»Na, wenn Sie Lust haben, können Sie ja mitkommen und mir über die Schulter sehen. Dann zeige ich Ihnen, was ich meine.«

Claire sah sich unsicher um. An Kamillas Blick konnte sie erkennen, dass ihre Schwester nicht für alles Geld der Welt einen Fuß in Henriks Wohnung setzen würde. Doch Ebba hob nur die Schultern: Geh ruhig, wenn du Lust hast.

»Also gut«, sagte sie. »Ich komme mit.«

Und so schlimm war Henriks Wohnung auch gar nicht. Natürlich war es dort nicht sehr ordentlich, aber Tonis Zimmer, in das sie zu Anfang hineingestolpert waren, hatte weitaus schlimmer ausgesehen. Hier wurde regelmäßig geputzt, das konnte Claire sofort erkennen. Und eine weitere Überraschung wartete auf sie: Henrik hatte einen Sinn fürs Häusliche. Zwar schienen die Möbel allesamt vom Sperrmüll zu kommen, aber Henrik hatte dekoriert: Schutzdeckchen auf Tischen und Kommoden, bestickte Sofakissen, Gestecke aus Trockenblumen, Zinnteller an der Wand. Das alles sah beinahe spießig aus. Gar nicht so, als wäre das tatsächlich er. Und irgendwie passte das alles auch nicht zu den Wasserpfeifen und den Kifferutensilien, die überall herumstanden.

Er nahm sie am Arm – Claire hatte schon gemerkt, dass Henrik die Leute gerne anfasste – und führte sie zum Sofa. Auf dem Couchtisch stand sein Laptop. Das Hintergrundmotiv auf dem Bildschirm: ein Foto von einem schlammigen Bodenloch, über dem Planen aufgespannt waren, um den Nieselregen abzuhalten. Offenbar war da ein schöner Moment aus seinem Leben festgehalten.

»Setz dich doch auf mein … Ach, entschuldige.« Er lächelte verlegen und zeigte dabei seine Zahnlücke. »Das ist mir so rausgerutscht. Ist es okay, wenn ich dich duze?«

»Aber sicher. Ich bin Claire.«

»Henrik.« Er ließ die Hand auf ihrer Schulter liegen. »Möchtest du einen Kaffee, Claire?« Unschuldig fügte er hinzu: »Oder einen Joint?«

»Nein, danke. Weder noch. Glaub mir, mit Haschzigaretten bin ich durch. Aber ich kann dir gerne eine drehen, wenn du möchtest.«

Er lachte. »Kaum zu glauben. Das Angebot nehme ich gerne an. Du findest alles in der Dose da vorne.«

Er setzte sich und zog seinen Laptop heran. »Du bist anders als deine Schwestern. Das ist mir gleich aufgefallen.«

»Weil ich in meiner Jugend Marihuana geraucht habe?« Sie schüttelte den Kopf. »Nein, nein, das täuscht. Ich bin wie sie. Und das ist auch nichts Schlechtes.«

»Natürlich nicht. Ich meine nur …« Er sah sie von der Seite an. »Du bist ’ne verdammt schöne Frau, weißt du das?«

Claire errötete. »Ach was, das ist doch Unsinn. Weißt du überhaupt, wie alt ich bin?«

»Nein, keine Ahnung. Aber wie’s aussieht, zu alt für mich. Trotzdem. Schönheit ist keine Frage des Alters. Und ich kann nur sagen: Wenn du in den Raum kommst, verändert sich was.«

Es war lange her, dass sie so etwas zuletzt gehört hatte. Da war Rainer noch in Papenburg gewesen. Damals, bevor er aus ihrem Leben verschwunden war.

Sie stieß ihn spielerisch in die Seite. »Kümmere dich lieber ums Internet. Deshalb sind wir doch hier, oder?«

Er schenkte ihr ein weiteres Lächeln, dann schob er den Rechner herüber, damit sie mit auf den Bildschirm blicken konnte. Während er sprach, nahm sich Claire die Dose und begann, eine Haschzigarette zu drehen. Auch das hatte sie zuletzt für Rainer getan.

»Also, fangen wir mit Tonis Twitter-Seite an. Das geht am schnellsten. Den Link hab ich mal gespeichert, weiß der Himmel, weshalb. Du kennst Twitter?«

Sie schüttelte den Kopf. »Ich kenne nur E-Mail.«

»Also, bei Twitter schreiben die Leute rein, was sie gerade machen oder was ihnen durch den Kopf geht. Hier: Tonis letzter Eintrag ist schon ein paar Tage alt. ›War heute schwimmen. Danach Essen im Taj Mahal.‹«

Claire staunte. »Und wen interessiert so was?«

Er lachte. »Auf die Frage gibt es keine Antwort. Darum geht es auch nicht. Egal. Also weiter zu Facebook. Das ist ganz ähnlich, nur kann man da miteinander kommunizieren. Siehst du, das ist Tonis Seite.«

Ein Foto von ihm, aus seiner Zeit am Theater. Daneben eine Reihe von Einträgen, die jedes Mal mit Toni Müller überschrieben waren. Dann waren da andere, kleinere Bildchen von anderen Leuten und dahinter die Kommentare.

»Vierhundertachtzig Freunde«, las Claire. »Und wer sind all diese Menschen?«

»Deine Fragen sind besser, als du vielleicht glaubst.« Er zeigte auf den letzten Eintrag. »Hier, siehst du? ›Toni Müller: Ich habe heute wieder ein Casting, diesmal für einen Abenteuerfilm der Titania Produktion. Alle mal Daumen drücken.‹ Ich sag doch, der stellt jeden Furz da rein.«

Claire reichte ihm den Joint. Der sah vielleicht etwas zerknittert aus, aber für den ersten seit fast vierzig Jahren war er durchaus vorzeigbar. Und Henrik beschwerte sich nicht, sondern zündete ihn mit zufriedenem Lächeln an.

»CatCat8, Bärchen und sieben anderen gefällt das«, las Claire. »Was gefällt denen? Dass Daumen gedrückt werden sollen?«

»Denk nicht so viel darüber nach, Claire. Wichtig ist nur, dass wir Toni aufspüren.« Er zog sein Handy hervor und rief Micha an. »Pass auf, Micha, gestern war er bei der Titania Produktion. Heute hat er aber noch nichts gepostet.«

Claire starrte auf den Bildschirm und las einen Beitrag von einem Richy Erdmann, den Toni offenbar auch zu seinen Freunden zählte: »Das machst du bestimmt total toll bei dem Casting, Toni, freu mich für dich!«

»Aha, na gut. Bis später«, sagte Henrik gerade und legte das Handy beiseite. Dann wandte er sich wieder an Claire. »Wie’s aussieht, hat Toni gerade keinen Computer zur Verfügung. Und ein Smartphone hat er sich bisher noch nicht zugelegt. Micha meint, wenn Toni online ist, geht er immer zuerst auf Facebook. Das heißt, er war seit gestern nicht mehr im Internet.« Henrik nahm einen weiteren Zug von seinem Joint und blies Rauchringe in die Luft. Claire betrachtete nachdenklich den Bildschirm.

»Vielleicht habe ich ja doch ein bisschen übertrieben, als ich gesagt habe, ich kenne mich mit Internet aus.«

»Stell dir vor, das habe ich schon gemerkt.«

»Was man so über andere Leute erfahren kann … Kaum zu glauben.«

»Ich sag dir, wenn du den Dreh raus hast, kannst du quasi alles über andere erfahren. Du musst einfach nur wissen, wie man es macht. Den gläsernen Menschen gibt es längst.«

Claire dachte nach. Dann deutete sie auf den Rechner.

»Und du meinst, jeder ist da drin?«, fragte sie.

»Im Netz? Ja, so gut wie jeder. Sollen wir mal nachsehen, was wir über dich in Erfahrung bringen?«

Doch sie war mit ihren Gedanken schon woanders.

»Henrik, meinst du, du könntest mir einen kleinen Gefallen tun?«

»Jeden.« Er zeigte wieder seine Zahnlücke. »Das weißt du doch.«

»Und kann ich auch auf deine Verschwiegenheit zählen?«

»Ich bitte dich.« Er legte die Hand auf die Brust, als würde ihn diese Frage beleidigen. »Was denkst du von mir?«

»Also gut. Ich möchte nämlich etwas über eine bestimmte Person wissen.«

»Ein Mann?«

Sie nickte. »Jemand, den ich mal vor langer Zeit gekannt habe.«

»Claire, da bist du ja endlich. Wir haben einen Schlachtplan entwickelt.« Ebba winkte sie herein. »Micha hat nämlich inzwischen ein paar Ideen, wo Toni stecken könnte.«

»Es gibt in Schöneberg ein Jugendtheater«, sagte Micha, »da hat er eine Zeit lang gespielt. Er weiß, wo der Schlüssel versteckt ist, und nachts ist da nie was los. Zum Schlafen wäre das ideal.«

Ebba schlug ihm auf die Schulter. Sie platzte vor Stolz. Der perfekte Schwiegersohn.

»Oder, was auch gut sein könnte«, fuhr Micha fort. »Toni könnte in der Wohnung von Freunden sein, die gerade auf Gran Canaria sind. Er hat nämlich die Schlüssel, um die Blumen zu gießen.«

Ebba nickte zufrieden. »Eines von diesen beiden Verstecken ist es bestimmt. Da bin ich sicher.«

»Aber hat er diese Wohnungsschlüssel denn überhaupt bei sich?«, mischte sich Henrik ein. »Er hatte ja gestern nicht mal Geld dabei, als er hier abgehauen ist.«

»Der Schlüssel ist hier nirgendwo«, meinte Micha. »Wir haben alles abgesucht. Deshalb gehe ich mal davon aus, dass Toni ihn bei sich hat.«

»Egal, das sehen wir dann schon«, meinte Ebba. »Jedenfalls werden wir uns aufteilen. Eine Gruppe geht zum Theater und eine zu dieser Wohnung. Pass auf, Claire, wir haben uns Folgendes überlegt: Du und Kamilla, ihr fahrt zu der Wohnung. Die ist gar nicht weit von hier. Immi und ich nehmen uns das Theater vor. Und Helga bleibt hier und macht den Telefondienst.« Sie wandte sich an Immi. »Wie viel Zeit bleibt uns noch?«

»Vier Stunden. Etwas mehr sogar.«

»Das schaffen wir. Zur Not bringen Helga und Micha das Gepäck schon mal zum Busbahnhof. Dann müssen wir nicht mehr hierher zurück.«

Ebba hielt inne und sah Claire erwartungsvoll an. Es war eindeutig: Sie sollte ihr ein Kompliment machen. Was für ein grandioser Plan.

Doch Claire hatte nur Augen für die Schwachstellen.

»Und was ist, wenn ihr Toni gefunden habt?«, fragte sie.

»Wie meinst du das?« Ebba runzelte die Stirn. »Was soll schon sein? Dann bringen wir ihn zu den anderen. Wir machen einen Treffpunkt aus und trommeln alle zusammen.«

»Ja, aber … wenn er nicht will?«

»Er wird schon wollen, dafür sorge ich.«

»Ebba. Hast du das denn nicht gemerkt? Du kannst ihm nichts mehr befehlen. Er ist erwachsen. Das ist doch deutlich geworden, oder etwa nicht?«

Ebba schwieg. Sie presste die Lippen aufeinander.

»Also noch mal. Sag mir, Ebba: Was ist, wenn er nicht will?«

Ihre Schwester dachte nach. Schließlich ließ sie sich mit einem Seufzer auf einen Stuhl sinken.

»Dann lassen wir ihn ziehen.« Ebbas Stimme war kraftlos. »Wir sagen ihm einfach die Wahrheit. Die hat er schließlich verdient. Dann kann er selbst entscheiden, was er damit macht.« Sie blickte auf. »Ist es so richtig, Claire?«

»Ja, Ebba.«

»Und meinst du, das könnte passieren?«

»Dass er uns fortschickt? Dass er kein Teil mehr von dieser Familie sein will?«

Ebba nickte. Sie wirkte ganz verloren.

»Ja, Ebba. Das könnte passieren.«

Schweigen. Dann holte ihre Schwester tief Luft.

»Wollen wir vom Besten ausgehen! Also gut, Schwestern!« Sie sprang auf, wieder ganz die Alte. »Es geht los, wir machen uns auf die Suche nach unserem Jungen. Wäre doch gelacht, wenn wir ihn nicht finden!«

Betriebsamkeit. Alle kramten ihre Siebensachen zusammen.

Claire blickte sich unsicher um. Henrik stand direkt hinter ihr. Er nickte ihr aufmunternd zu. Komm schon, du machst das Richtige.

»Ich kann das nicht«, flüsterte sie. »Ich muss mich an der Suche beteiligen.«

»Deine Schwestern kommen ohne dich klar.« Sie konnte erahnen, was er in Gedanken hinzufügte: Und Toni erst recht. »Und wenn sie ihn gefunden haben, werden sie dich anrufen. Du kannst nichts verpassen.«

Trotzdem. Claire konnte sich nicht lösen. Sie fühlte sich irgendwie schuldig.

Henrik trat noch näher an ihr Ohr.

»Claire! Wann wirst du jemals wieder Gelegenheit dazu bekommen?«

»Also gut. Du hast recht.«

Sie nahm sich ein Herz und drehte sich zu den anderen.

»Ebba? Hörst du mal zu?«

»Natürlich. Was gibt es?«

»Ich habe furchtbare Kopfschmerzen. Ganz ehrlich, ich würde lieber hierbleiben und mich ein bisschen hinlegen.« Sie fühlte sich schrecklich bei dieser Lüge. »Es tut mir leid, Ebba.«

»Aber das ist doch kein Problem, Liebes. Dann begleitet Helga einfach Kamilla, und du bleibst hier.«

»Ich kann den Telefondienst übernehmen«, sagte Micha.

Ebba lächelte ihren Musterschüler an.

»Siehst du, Claire? Ist alles kein Problem.«

»Sie kann sich bei mir hinlegen, da ist es ganz ruhig«, sagte Henrik.

Kamilla machte zwar ein erschrockenes Gesicht, verkniff sich aber jeden Kommentar.

Ebba wandte sich an die Gruppe. »Also, ihr Lieben, ihr habt es gehört: Planänderung. Kamilla und Helga zu dieser Wohnung und Immi und ich ins Theater. Micha koordiniert.«

Kamilla war ganz aufgeregt. »Ich habe ein gutes Gefühl, was die Wohnung angeht. Bestimmt finden wir ihn da. Toni muss die Schlüssel bei sich tragen.«

»Gut möglich«, sagte Ebba und hob dann die Stimme. »Also, meine Damen, aufgepasst: Holt alle eure Handys raus. Wir schalten sie jetzt an, damit wir in Kontakt bleiben können, verstanden?«

Feierlich zogen alle ihre Mobiltelefone hervor. Das Einschalten ging zwar mit einigem Stirnrunzeln und Gefummel vonstatten, aber dann war der Raum erfüllt von Pieptönen, Jingels und Tonleitern. Die Handys waren bereit.

»Hervorragend«, rief Ebba. »Dann geht es jetzt los.«

Was für ein Lärm da plötzlich im Treppenhaus war. Schrecklich. Waren das schon wieder die Tanten, die so herumpolterten?

Lutz drehte sich auf die andere Seite und zog Kaylas Decke bis ans Kinn. Dabei rutschte etwas aus seiner Hosentasche und landete auf dem Sofakissen. Lutz, der irgendwie nicht die richtige Schlafposition fand, rutschte herum, bis der Gegenstand schließlich unter seinem Hintern klemmte.

Mist. Mit der Hand zog er ihn hervor und warf ihn achtlos auf den Teppich. Es klirrte. Ach so. Das war der Schlüssel von der Wohnung, die er und Toni hüten sollten. Er hatte ganz vergessen, ihn wieder ans Schlüsselbrett zu hängen.

Er schmatzte ein bisschen, wühlte noch ein bisschen herum und schwebte schließlich wieder zurück ins Reich der süßen Träume.

Die Tür öffnete sich, ein junger Mann kam mit hochrotem Kopf heraus. Drinnen Gelächter: »Wo hat der sich denn überlegt, Schauspieler zu werden?«

Toni legte die Illustrierte weg. Es war schlimmer als beim Zahnarzt. Die Unterhaltung nebenan ging weiter.

»Wieso haben wir den überhaupt zum Recall geholt?«

»Keine Ahnung, echt nicht. Wie geht’s weiter?«

»Mit Mittagessen, würde ich sagen.«

»Kommt, einen machen wir noch. Den Letzten.«

Schweres Seufzen. »Also gut. Wer ist dran?«

»Toni Müller.«

»Dann holt ihn rein. Aber schnell.«

Das war also der Moment, an dem über sein Leben entschieden wurde. Über seine Zukunft. Falls er überhaupt noch eine hatte.

Er ließ sich hineinführen. Die gleichen Typen wie beim letzten Mal. Der Regisseur und seine beiden Assistenten. Sie hatten teigige, unauffällige Gesichter, weder schön noch hässlich, sondern eher grau und nichtssagend. Das war häufig so bei den Leuten hinter der Kamera: Sie hatten selbst völlig kamerauntaugliche Gesichter. Manchmal fragte Toni sich, ob diese Typen vielleicht auch gern einmal Schauspieler geworden wären und nur deshalb in der Produktion arbeiteten, weil das für sie der einzige Weg zum Film gewesen war.

»Also gut, Toni«, begann der Regisseur. »Gestern hatten wir ja eine Dialogszene, heute möchten wir mit Ihnen eine Actionszene durchgehen. Manni?«

Manni, einer der Assistenten, deutete auf einen Sandsack, der hinter Toni von der Decke hing.

»Siehst du den Dummy? Das ist einer von den Bösen. Den rennst du um. Du teilst richtig aus, und dabei sagst du: ›Hier, das ist für dich!‹ Danach rüttelst du an einer imaginären Glastür hinter dem Dummy und sagst: ›Verdammt!‹, siehst dich um und entdeckst den Postkartenständer da vorne. Du nimmst ihn, wirfst ihn durch die Scheibe und fliehst ins Freie. Alles verstanden?«

»Ich glaube schon.«

»Heißt das ja oder nein?«

»Ja.«

Der Actionheld hätte wahrscheinlich sofort Ja gesagt. Aber Toni war ja auch noch nicht in der Rolle. Das hieß gar nichts: Ein guter Schauspieler konnte sich nämlich in alles verwandeln, und deshalb würde Toni auch einen Actionhelden spielen können.

»Dann fangen wir an«, sagte der Regisseur.

Toni konzentrierte sich. Er war hart. Entschlossen. Ohne Zweifel. Und lief los. Zum Sandsack.

»Hier!«, rief er. »Das ist … huch!« Der Boden war rutschig, er flutschte am Sandsack vorbei, ruderte mit den Armen und fiel auf den Boden. Dabei rutschte ihm zu allem Überfluss noch ein »Hups« heraus.

Die drei Typen betrachteten ihn ohne erkennbare Emotion. Toni war natürlich klar, dass ein Actionheld nicht »Hups« sagte, wenn mal etwas schiefging. Er stand wieder auf.

»Entschuldigung. Darf ich noch mal?«

Ernüchterte Gesichter. Das Nein lag deutlich greifbar in der Luft, also sagte Toni schnell: »Ich mach einfach«, und stellte sich wieder in die Ausgangsposition. Er atmete durch. Du musst wütend sein. Wütend und entschlossen.

Als wären das die Schlüsselworte, brach plötzlich alles über ihn herein: Die ganze Wut auf seine Familie. Die Wut auf seinen Vater, der ihn jahrelang mit kalter Verachtung gestraft hatte, statt zu sagen: »Pass auf, du bist nicht mein Sohn, also verschwinde.« Die Wut auf seine Mutter, die keine Verantwortung für ihn übernommen hatte, sondern schließlich ganz aus seinem Leben verschwunden war. Und die Wut auf seine Tanten, die den Betrug gedeckelt und ihm eine heile Familie vorgegaukelt hatten. All die Lügen, die Intrigen und der Hass. Und Toni mittendrin, ein ahnungsloses Kind, das nicht begreift, weshalb es von seinen Eltern nicht geliebt wird.

Er war jetzt kein Actionheld mehr. Er war Toni Müller. Und er war wütend.

Er rannte auf den Sandsack los. »Du!«, rief er mit sich überschlagender Stimme, als wäre er Miss Piggy auf Speed. »Das ist für dich!« Er prügelte auf den Sandsack ein, rutschte noch mal an derselben Stelle aus und fiel wieder hin, doch jetzt trat er am Boden liegend weiter. »Für dich!«, brüllte er. Dann machte er seiner Wut mit einem langen hysterischen Schrei Luft, sprang auf, rüttelte an der imaginären Tür, zischelte mit wachsender Wut: »Verdammt, verdammt, verdammt!«, schnappte sich den Postkartenständer, der ihm prompt aus der Hand rutschte und klirrend zu Boden fiel, packte ihn erneut und warf ihn mit einem Kampfschrei – einem durchdringenden und gellend lauten hohen C – durch die Scheibe. Er hüpfte durch das zerbrochene Fenster in die Freiheit und blieb auf der anderen Seite schwer atmend stehen.

Versteinerte Gesichter bei den Filmleuten. Ihm war klar: Er war kein Actionheld gewesen. Eher eine Oma, die mit ihrer Handtasche auf einen Lustmolch losgeht. Trotzdem. Er fühlte sich um einiges besser. Diese Rolle hätte er ohnehin niemals bekommen. Das war er nicht, genauso wenig, wie er König Lear war. Er würde so etwas niemals spielen können, und am besten wäre, das einfach zu akzeptieren.

Einer der Assistenten fing an zu kichern. »Oh, Scheiße!«

Und damit war offenbar alles gesagt, denn weitere Kommentare folgten nicht.

»Vielen Dank«, sagte der Regisseur schließlich und wandte sich dann an die anderen: »Ich würde sagen, jetzt haben wir uns unsere Mittagspause verdient.«

Toni ging hinaus. Er fühlte sich seltsam befreit. Irgendwie störte es ihn gar nicht, dass seine Karriere einmal mehr den Bach runtergegangen war. Im Gegenteil. Er hatte ohnehin mit nichts anderem gerechnet. Und jetzt konnte er sich in den Park setzen, die Sonne genießen und warten, bis seine Wohnung wieder frei war.

Im Treppenhaus stand plötzlich Kayla vor ihm. Eine Schrecksekunde lang passierte gar nichts. Dann versuchte Toni zu fliehen.

Doch Kaylas Arm versperrte ihm bereits den Weg, und als er zur anderen Seite wollte, nahm sie den zweiten Arm hinzu. Er war gefangen, es gab kein Entkommen.

»Wenn du meinst, du kannst dich so leicht vor mir verstecken, Toni Müller, dann hast du dich geirrt.«

Flucht war also keine Option mehr. Half nur noch der Angriff.

»Was willst du?«, rief er.

»Ich will, dass du mitkommst und deinen Tanten die Chance gibst, dir alles zu erklären.«

»Aber klar. Danke schön übrigens, Kayla. Ihr habt euch natürlich sofort gegen mich gewendet. Das hätte ich mir denken können. Ihr habt …«

Da war etwas in ihrem Blick, das ihn verstummen ließ. Sie zog ihre Arme zurück und lehnte sich gegen die Wand. Er hätte gehen können. Aber so, wie sie ihn anfunkelte, war das unmöglich.

»Also gut«, sagte sie genervt. »Jetzt bist du eben ein Bastard. Meine Güte. Und der Mann, von dem du dachtest, er wäre dein Vater, will nichts mit dir zu tun haben. Auch klar. Und jetzt? So ist das Leben, Toni. Es gibt Schlimmeres.«

Er war sprachlos. Bei ihr hörte sich das so an, als wäre nur ein Liter Milch verschüttet worden.

»Du bist nicht der Mittelpunkt der Welt. Versuch also einfach damit klarzukommen, und spiel hier nicht die Dramaqueen.«

»Ich spiele …?« Das war ungerecht. Und es tat weh. »Mein ganzes Leben ist eine Lüge, und alle außer mir wussten Bescheid. Ist das etwa gar nichts?«

»Mein Gott, Toni, denkst du, du bist der Einzige mit einer kaputten Familie?«

Er sah sie erstaunt an. Kayla? Er hatte noch nie drüber nachgedacht.

»Also gut, meine Mutter ist auf den Strich gegangen.« Sie blickte sich im Treppenhaus um. »Haben es alle gehört? Eine Nutte war sie. Und ich war ein gottverfluchter Unfall. Auch noch mit einem Schwarzen, als wäre es so nicht schon schlimm genug gewesen.«

»Aber … Ich denke, sie hat in Neukölln in einer Trinkhalle gearbeitet?«

»Ja, später, als sie zu alt war, um in ihrem Job noch Geld zu machen.«

»Und dein Vater?«, fragte er.

»Was weiß ich, keine Ahnung. Er soll ein amerikanischer GI gewesen sein, aber vielleicht war das auch eine Lüge. Sicher ist nur, dass er schwarz war. Sonst weiß ich nichts über ihn, nicht einmal seinen Namen.«

»Ich denke, er hieß Barnes?«

»Ach, Unsinn. Den Namen habe ich mir ausgedacht. Ich fand, wer aussieht wie ich, kann schlecht Kaluschke heißen. Das ist doch bescheuert.« Sie seufzte. »Glaub mir, meine Mutter war keine von diesen netten Nutten, wie man sie aus dem Fernsehen kennt. Sie war kaltherzig und hart. Und sie war eine Rassistin. Der Umstand, dass sie ein farbiges Kind hatte, konnte nichts daran ändern. Und jetzt, wo sie alt und hilflos ist, da erinnert sie sich daran, dass sie ein Kind hat. Und tyrannisiert mich. Weil sie sonst keinen mehr hat, den sie schlecht behandeln kann. Und was mache ich? Ich kümmere mich um sie. Ich helfe ihr beim Einkauf, beim Putzen und bringe sie zum Arzt. Schön blöd, was?«

Toni sagte nichts. Es wurde still im Treppenhaus. Dann wedelte Kayla mit den Händen, als wollte sie die Gedanken an ihre Mutter verscheuchen.

»Verstehst du, was ich dir sagen will, Toni? Natürlich bist du verarscht worden. Und du hast auch viel Dreck fressen müssen. Aber diese Frauen, die dich da besuchen, das sind feine Menschen. Die dachten, sie hätten gute Gründe, dich zu belügen. Und weißt du was, Toni? Du solltest nicht dasitzen und dich nicht fragen, wer dich betrogen hat. Stattdessen solltest du dich fragen: Wer ist es, der dich liebt? Hörst du? Wer liebt dich? Denn darum geht es: um Liebe. Alles andere ist egal.«

Toni spürte alle längst vergessenen Wunden. Sie lagen offen da, er konnte nichts dagegen unternehmen.

»Diese Frauen würden für dich durchs Feuer gehen«, sagte Kayla. »Und was machst du? Du benimmst dich wie ein beleidigtes Prinzesschen.«

Er sagte nichts. Ihm fehlten die Worte.

»Also, was ist jetzt?«, fragte sie. »Kommst du mit?«

Er wusste: Irgendwie hatte Kayla recht. Aber er konnte trotzdem nicht. Er war noch viel zu verwirrt, zu verletzt und zu enttäuscht.

Kayla wartete. Doch Toni hielt den Blick eisern auf den Boden gerichtet.

»Na gut«, sagte sie. »Dann eben nicht.«

Sie wandte sich ab und ging zur Treppe. Nach ein paar Stufen blieb sie stehen.

»In ein paar Stunden fahren sie nach Hause«, sagte sie. »Falls du es dir anders überlegst, in deiner Wohnung erreichst du bis dahin auf jeden Fall immer eine deiner Tanten.«