Jedes Mal fühlte Hellen de Mey hier das Gleiche: eine eigenwillige Energie, die sie sich nicht erklären konnte. Als Anthropologin und Archäologin war sie in erster Linie Wissenschaftlerin. Sie kannte natürlich all die mythischen Geschichten über Glastonbury, die sich um König Artus, die Ritter der Tafelrunde und Merlin rankten. Und natürlich auch die fantastischste Geschichte unter allen: Dass Joseph von Arimatäa, der den Leichnam von Jesus Christus vom Kreuz abgenommen und ihn bestattet haben soll, danach das Heilige Land verlassen und diesen Ort besucht haben soll.
„Hör auf, an diese Märchen zu denken!“, sagte sie plötzlich laut zu sich selbst und schüttelte den Kopf.
Ein verliebtes Pärchen, das gerade beim Grab von König Artus stand, blickte sie entsetzt an. Hellen schnitt eine Grimasse und hob entschuldigend die Hände. „Warum bist du hier immer so impulsiv? Das passt doch gar nicht zu dir?“ Sie spazierte weiter durch die Ruinen der alten Abtei, blickte nach oben zum keltischen Tor, das eigentlich mehr ein Turm war und auf einem kleinen Hügel außerhalb von Glastonbury thronte. Sie konnte sich nicht erklären, was es mit diesem Ort auf sich hatte. Von der Abtei waren nur mehr ein paar Grundmauern übrig, die Großartigkeit des Bauwerks war höchstens zu erahnen. Ein Windstoß zerzauste ein wenig ihren blonden Pagenkopf. Gedankenverloren fuhr sie sich durchs Haar. Völlig in sich versunken und verwirrt über ihre für sie unübliche Ergriffenheit gegenüber einer historischen Stätte, fiel ihr die Frau gar nicht auf, die den Rundweg durch die Ruine schon zu dritten Mal absolvierte und den historischen Mauern keinerlei Beachtung zu schenken schien. Die Hautfarbe der Frau war dunkel, fast schwarz wie Ebenholz, genauso wie der schwarze Hosenanzug und der enganliegende schwarze Mantel, den sie trug. Ihr Blick war auf Hellen gerichtet.
Ihre wichtigste Aufgabe für den heutigen Tag war bereits erledigt. Sie kannte Hellen, wusste, wer sie war, und auch, warum sie hier war.
Obwohl die Frühlingssonne bereits einiges an Kraft entwickelt hatte, fröstelte es Hellen, während sie auf ihre Uhr blickte. Sie zog den Reißverschluss ihrer Outdoor-Jacke hoch und begab sich auf den Weg zum eigentlichen Grund ihrer Reise: der stille Garten in der St. Margret’s Chapel, die nicht weit von der Abtei entfernt lag.
Sie schlenderte durch den Abbey Park, an den beiden kleinen Teichen vorbei und bog dann in die Magdalena Street ein. Ihr Blick blieb kurz im Schaufenster des kleinen Antiquitätenladens „The Startled Hare Antiques & Curiosities“ hängen. Sie sah ein Bildnis des Heiligen Georg, der in der Abtei gegen den schwarzen Ritter kämpfte. Genau deswegen war sie hier. Konnte die Legende wirklich wahr sein? Oder reihte sich auch diese Geschichte in die vielen „Märchen“ und „Legenden“ rund um Glastonbury Abbey ein? Genau das würde sie in Kürze erfahren.
„Hoffentlich!“, hörte sie sich selbst wieder sagen und schüttelte abermals erbost über ihre dauernden Selbstgespräche den Kopf. Die Frau, die ein paar hundert Meter hinter ihr war, bemerkte Hellen immer noch nicht.
Nach ein paar Schritten bog sie links in eine enge Gasse ein und stand kurz danach im sogenannten „stillen Garten“. Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht. Der kleine Garten war nichts Besonderes, aber die heimelige Atmosphäre war einnehmend. Ein leichter Windhauch trieb ihr den intensiven Blütengeruch in die Nase. Keine exotischen Blumen, kein kunstvoll angelegter Garten, nichts, was auch nur im geringsten außergewöhnlich war. Aber trotzdem ein Ort der Ruhe, des Friedens und der Einkehr, mitten in dem von Touristenmassen bevölkerten Glastonbury.
Hellen sah sich um und suchte nach Pater Montgomery, mit dem sie sich hier im Garten treffen wollte. Es war aber keine Menschenseele zu sehen. Sie blickte auf ihr Handy: 16.12 Uhr. Vielleicht betete der Pater noch in der kleinen Kapelle.
„Pater Montgomery?“ Sie sagte es mehr zu sich selbst, als dass es ein Ruf nach ihm gewesen wäre. Hellen blieb vor dem Tor der Kapelle stehen und lauschte. Nichts. Außer dem Auto, das gerade vor dem Garten durch die Magdalena Street fuhr, war nichts zu hören. Sie wartete ein paar Sekunden, bis es wieder still war, und rief nochmal. Nun ein wenig lauter. „Pater Montgomery?“
Wenn er in der Kapelle betete, musste er sie jetzt auf jeden Fall hören. Hellen stand nun direkt vor dem Tor der Kapelle. Keine Regung. Keine Antwort.
„Pater Montgomery? Ich bin’s. Dr. Hellen de Mey, die Archäologin.“
Nichts. Sie zögerte. Sollte sie einfach so in die Kapelle reinplatzen und das Gebet des Paters stören? Sie selbst war zwar nicht religiös, aber sie respektierte den Glauben anderer. Sie wusste genau, welche Probleme man sich einhandeln konnte, wenn man zu sehr Wissenschaftler war und geringschätzig auf die Religion herabsah.
Hellens Hand drückte leicht gegen das Tor und sie rief nochmal nach Pater Montgomery. Das Tor gab überraschend leicht nach, schwang nach innen und gab den Blick auf die einfache, fast ärmlich wirkende Kapelle frei.
Ein paar Sekunden dauerte es, bis sich Hellens Augen an die Dunkelheit im Inneren gewöhnt hatten, und sofort stockte ihr der Atem, als sie Pater Montgomery sah.
Der Pater lag auf dem Rücken auf dem Boden, die Augen weit aufgerissen und auf der Brust ein Einschussloch, aus dem noch frisches Blut quoll. Sie schrak auf, als ein LKW mit lautem Geholper durch die Straße vor dem Garten fuhr. Ruckartig wendete sie ihren Kopf, weil sie plötzlich das Gefühl hatte, dass jemand hinter ihr stand. Sie täuschte sich.
Hellen hatte schon die eine oder andere Leiche gesehen und sie war eigentlich recht hart im Nehmen, aber das hier war anders. Ihr Herz pumpte auf Hochtouren Blut durch ihre Adern, sie spürte, wie ihr Körper Adrenalin im Überfluss produzierte, sie atmete schnell, ihr Kopf glühte und gleichzeitig waren ihre Hände und Füße eiskalt. Sie stand einfach nur da und wusste nicht, was sie tun sollte. Immer wieder blickte sie über ihre Schulter. Einerseits hoffte sie auf Hilfe, andererseits hatte sie panische Angst, dass der Mörder noch in der Nähe war.
Es vergingen einige Sekunden, in denen sie einfach nur wie angewurzelt dastand und sich nicht rühren konnte, den Blick auf den toten Priester geheftet. Erst jetzt fiel ihr ein Detail auf, das ihr bisher entgangen war. Der Pater hatte mit seinen blutigen Fingern das Wort „METEOR“ auf den Boden geschrieben. Zögernd ging sie einen Schritt näher und beugte sich über den toten Körper, um zu sehen, ob sie noch mehr finden würde. Im Garten klapperte etwas, als ob einer der Blumentöpfe umgefallen und zerbrochen wäre. Der Wind? Oder war der Mörder noch da? Hellen war schon dabei, aufzustehen und die Kapelle zu verlassen, als sich Pater Montgomery bewegte.
Hellen wollte sofort zum Handy greifen, um Hilfe zu holen, doch dazu kam es nicht. Pater Montgomery griff plötzlich nach ihrem Amulett, das beim Vorbeugen aus ihrer Bluse gerutscht war. Er zog sie mit dem Amulett näher an sich heran. Sie erschrak. Einerseits, weil sie nicht damit gerechnet hatte, dass der Pater überhaupt noch am Leben war und dass er noch so viel Lebensenergie hatte, und andererseits, weil sie sich Sorgen um das Amulett machte, dass sie von ihrer Großmutter geschenkt bekommen hatte. Schwer keuchend flüsterte er in ihr Ohr:
„Du wirst diesen Schl…“ Pater Montgomery hustete Blut und sog laut pfeifend und röchelnd Luft ein. „… diesen Schlüssel brauchen.“
„Welchen Schlüssel, Pater?“
Pater Montgomerys Hand ließ von ihrem Amulett ab. Er sank wieder zurück. Jetzt handelte Hellen rasch. Sie hob seinen Nacken an, drehte seinen Kopf zur Seite und begann mit einer Herzmassage. Blut schoss röchelnd aus der Wunde und seinem Mund. Sie hielt inne und drückte mit ihren Händen auf die Wunde, um die Blutung zu stoppen.
„Kommen Sie schon, Pater, nicht aufgeben!“, sagte sie.
Eine Träne lief ihr über die Wange. Plötzlich kam ein junger Priester in die Kapelle und erschrak lautstark, als er Hellen sah, wie sie vor dem blutüberströmten Pater kniete und ihre Hände auf die Wunde presste.
„Dr. de Mey?“, fragte er erschrocken.
Er war es, der das Treffen mit ihr und dem Pater vereinbart hatte. Trotzdem Hellen die ganze Zeit Angst hatte, der Mörder könnte noch in der Gegend sein und jeden Moment um die Ecke kommen, blieb sie in diesem Augenblick gefasst und konzentriert.
„Rufen Sie einen Arzt. Pater Montgomery wurde angeschossen“, rief sie dem jungen Mann zu, der immer noch regungslos dastand. „Jetzt sofort“, setzte sie eine Spur lauter und bestimmter nach.
Das riss den jungen Mann aus seiner Trance, er zückte sein Handy und wählte 999. Nach kurzer Zeit musste sie sich geschlagen geben und akzeptieren, dass Pater Montgomery tot war. Sie sank zurück und wischte sich mit dem Ärmel ihrer Jacke die Tränen aus den Augen. Ungläubig starrte sie auf ihre blutüberströmten und zitternden Hände. So verharrte sie einen Moment vor dem Leichnam, bevor sie sich schlussendlich erhob und an dem jungen Priester vorbei ins Freie ging.
Die Frau, die die ganze Zeit auf der anderen Straßenseite an einer Hausmauer gelehnt hatte, fiel Hellen noch immer nicht auf. Auch nicht, dass sie wiederholt Fotos von ihr gemacht hatte. In der Ferne waren schon die Sirenen der heran eilenden Polizei und Rettungskräfte zu hören. Während Hellen und der junge Mann auf die Polizei warteten, drehte sich die schwarze Frau um, blickte auf den alten Schlüssel in ihrer Hand und ging langsam zum Parkplatz von Glastonbury Abbey.