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In den Straßen Wiens

Tom ließ sich in den Fahrersitz seines 1967er Ford Mustang Shelby GT500 fallen. Er lehnte den Kopf zurück, schloss seine Augen und atmete ein paar Mal tief durch. Zu viele Gedanken, die ihm nach dem Gespräch mit Denise durch den Kopf gingen. Nach wenigen Sekunden startete Tom seinen Mustang und fuhr los, lautstark mit sich selbst schimpfend.

„Tom! Du springst aus Flugzeugen, seilst dich kopfüber von zehnstöckigen Häusern ab, kämpfst mit Terroristen und kannst Helikopter durch die engsten Bergschluchten fliegen. Verdammte Scheiße, reiß dich doch echt mal zusammen!“

Toms Handy läutete und durchbrach seine Gedanken. Dankbar dafür hob Tom ab.

„Hey Tom, wo bleibst du?“, fragte Noah Pollock, der IT-Experte der Cobra und sein bester Freund.

„Entschuldige, ich wurde ein wenig aufgehalten“, witzelte Tom.

„Blond oder brünett?“, gab Noah zurück. „Hast du das Handy dabei?“

„Ja, sicher!“, antwortete Tom.

„Warum hast du es eigentlich nicht den Kollegen für die Beweisaufnahme übergeben?“

„Du kennst doch diese Idioten, die kommen da nie rein. Und außerdem bist du der einzige, dem ich damit vertraue.“

„Dein Vertrauen ehrt mich, mein Freund“, gab Noah zurück, „aber du darfst dich wirklich nicht wundern, warum du bei den Kollegen kaum Freunde hast und deine Vorgesetzten dir immer die Leviten lesen, wenn du dich einfach nie an die Vorschriften hältst“, sagte Noah in scherzhaft-mahnendem Ton.

Tom verzog das Gesicht. „Du hast ja recht. Trotzdem, in diesem Fall hatte ich keine andere Wahl. Sag, hast du etwas über den Typen, dessen Fotos ich dir geschickt habe, herausgefunden?“

„Was hat der jetzt eigentlich damit zu tun?“, fragte Noah.

„Der Typ …“ Tom machte eine Pause. „Der Typ hat meine Eltern getötet.“

Am Ende der Leitung war es still. Diese Information musste Noah erstmal verarbeiten. „Wie kommst du darauf?“

„Ich habe dir doch von dem Mann erzählt, den ich als Kind nach der Explosion gesehen hatte. Genau der saß gestern neben mir in der VIP-Lounge in Mailand. Ich habe ihn an seinem Tattoo erkannt.“

„An seinem Tattoo? Verflucht, Tom, du warst sechs Jahre alt. Bist du dir sicher?“

„Ich bin mir verdammt sicher. Es gibt keinen Zweifel. Ich kann mich erinnern, als ob es gestern gewesen wäre. Kein Zweifel!.“

„Ich habe leider noch nicht viel über ihn rausgefunden. Er ist ein Diplomat und hat eine komplett weiße Weste. Zu weiß. Es gibt de facto nichts über den Typen, außer seinen Namen. Er heißt …“

Das Telefonat wurde jäh unterbrochen, als Toms Mustang von hinten gerammt wurde und er dadurch fast ins Schleudern kam. Sein Handy flog ihm aus der Hand und fiel in den Fußbereich des Beifahrersitzes. Er konnte gerade noch die Fahrbahn wechseln und vermeiden, frontal mit dem Auto vor ihm zusammenzustoßen.

„Ach du Scheiße!“, rief Tom und rechnete sich im Kopf sofort die Reparaturkosten für seinen Oldtimer durch. Sein Vater hatte ihm dieses Schmuckstück vermacht und es war verdammt schwer, in Europa dafür Ersatzteile zu bekommen. Er würde Monate ohne fahrbaren Untersatz sein, nur weil der Typ hinter ihm nicht aufpassen konnte.

Wütend blickte Tom in den Rückspiegel. Er wollte rechts ranfahren und dem unfähigen Fahrer hinter sich gehörig die Meinung sagen, als er erkannte, dass der fette 90er-Jahre-BMW wieder Fahrt aufnahm und drauf und dran war, ihn ein weiteres Mal zu rammen. Er riss das Steuer dieses Mal nach rechts und trat das Gaspedal voll durch. Für diese Uhrzeit war überraschend wenig Verkehr auf Wiens Straßen. Vermutlich benutzten alle wegen der heutigen Charity-Sportveranstaltung und den daraus resultierenden Straßensperren die U-Bahn. Der Großteil der restlichen Blechlawine hatte sich wohl bereits in die Wiener Innenstadt gequält, sodass er in der Nebenspur Platz fand und sich an zwei weiteren Autos, die im Vergleich zu ihm fast im Schritttempo fuhren, vorbeischlängeln konnte.

Es dauerte ein paar Sekunden, bis Tom klar wurde, dass dies kein zufälliger Unfall war. Hier hatte es jemand auf ihn abgesehen. Diese Erkenntnis war keine große Geistesleistung: Im rechten Seitenspiegel sah Tom, wie der Beifahrer sich aus dem Fenster beugte und mit einer Pistole auf ihn zielte. Sekunden später zerbarst die Heckscheibe des Mustangs in tausend Stücke und eine Kugel pfiff nah an Toms rechtem Ohr vorbei.

Durch das Lenkmanöver von vorhin war Toms Dienstwaffe, die er immer auf dem Beifahrersitz liegen hatte, ebenfalls in den Fußraum gefallen. Unerreichbar für ihn, während er sich mit rund 100 Sachen durch die Stadt schlängeln musste. Ein weiterer Schuss krachte und zerfetzte einen Teil des Beifahrersitzes.

„Scheiße, sind die vollkommen verrückt? Was sind das für Typen?“, schoss es Tom durch den Kopf, während er die Außenspiegel von drei Autos abrasierte, an denen er gerade vorbei raste, und verzweifelt versuchte, seinen Mustang auf der Straße zu halten, ohne andere Verkehrsteilnehmer ernsthaft zu gefährden. Die Möglichkeiten zur Flucht waren überschaubar. Links von ihm der Fluss, der sich zehn Meter tiefer durch die Stadt schlängelte. Rechts von ihm zwei Spuren mit Autos. Und völlig undenkbar, dass er in einer der kleinen Gassen nach rechts entfliehen konnte.

Vor ihm schaltete eine Ampel gerade auf Rot, der Kreuzungsbereich war leer und Tom trat das Gaspedal erneut bis zur Bodenplatte durch. Der Mustang war zwar ein Oldtimer, aber die mehr als 400 Pferde, die sich unter der Motorhaube versammelt hatten, drückten ihn in den Sitz und ließen den Abstand zum BMW größer werden.

Aber nicht lange. Auch dem Fahrer des BMW war klar, dass er nun eine Spur Platz hatte, und schneller als Tom dachte, war der BMW wieder hinter ihm. Weitere Schüsse krachten, Seitenfenster zerbarsten und Toms Stirn knallte gegen das Lenkrad, als er sich reflexartig so weit wie möglich nach unten ducken wollte. Ein Gedanke schoss ihm durch den Kopf: Die Ringstraße, die Prachtstraße Wiens, an der sich fast sämtliche Sehenswürdigkeiten der ehemaligen Kaiserstadt aufreihten, war heute für den Autoverkehr gesperrt. Er konnte bei der nächsten Abzweigung rechts in die Ringstraße gegen die übliche Fahrtrichtung einbiegen und so den Verfolger abschütteln.

Einige Sekunde später trat Tom mit aller Kraft auf das Bremspedal und das Fahrwerk des Mustangs wurde auf eine harte Probe gestellt. Die rechte Hand zog die Handbremse, die linke riss das Steuer nach rechts und gleichzeitig trat er mit aller Kraft aufs Gas. Für Tom fühlte es sich fast an, als hätte er gerade den Anker geworfen, so schnell wurde das Auto heruntergebremst. Das Fahrtraining seiner Ausbildung machte sich nun zum ersten Mal so richtig bezahlt.

Die Reifen quietschten, sodass der Gummi auf der Straße eine riesige Rauchwolke produzierte. Der Motor heulte auf, Tom bog mit rund 90 Stundenkilometern in die Ringstraße ein und raste bereits ein paar Sekunden später an der Wiener Börse, der Universität und dem Burgtheater vorbei.

Er blickte in den Rückspiegel. Der BMW war nicht mehr zu sehen. Tom atmete erleichtert durch. Er wollte so schnell wie möglich in eine der Seitenstraßen abbiegen, um den BMW endgültig loszuwerden. Umso mehr, da er keine Ahnung hatte, wie weit die Straßensperre ging und wie lange er noch mit über Hundert gegen die Einbahn mitten durch die Wiener Innenstadt brettern konnte.

Doch Toms Erleichterung währte nicht allzu lange. Der BMW tauchte wieder im Rückspiegel auf und jetzt wurde Tom eines klar: Der BMW war bei weitem stärker motorisiert, als er gedacht hatte. Sein Mustang hatte 400 PS, verdammt nochmal! Was war das für eine Karre? Denn der BMW holte unglaublich schnell auf.

Und das war noch lange nicht Toms größtes Problem. Mit Schrecken musste er feststellen, dass er mit einem Höllentempo auf das Ende des abgesperrten Bereichs zuraste und hinter der Absperrung tausende Menschen standen, die auf den Start irgendeines Charity-Laufes warteten. Der BMW hatte ihn schon fast wieder eingeholt und Tom hatte kaum Wahlmöglichkeiten. Nach rechts abbiegen war unmöglich, weil da bereits hunderte Schaulustige auf die Sportler warteten.

Nach links abbiegen bedeutete, dass er nach nicht einmal hundert Meter in die Kärntner Straße einfahren musste, Wiens beliebteste Einkaufsstraße, ein reiner Fußgängerbereich, von Touristen und Wienern gleichermaßen stark frequentiert. Er hatte also die Wahl zwischen Not und Elend.

Der BMW nahm ihm die Entscheidung ab: Der Fahrer kam an seiner Rechten gleichauf, rammte ihn und drängte ihn nach links, sodass der Mustang fast ins Schleudern geriet und Tom kein anderer Ausweg blieb, als links abzubiegen und mit Vollgas auf die Fußgängerzone zuzurasen.

Die ersten Menschen, die entsetzt aus dem Weg sprangen, waren eine Handvoll Touristen, die im Hotel Sacher gerade eine Torte erstanden hatten und das Geschäft verließen. Die Torte hatte den Hechtsprung vermutlich nicht überlebt.

Tom fuhr hektisch hupend Schlangenlinien, lenkte verzweifelt von links nach rechts und fuhr Mülleimer, Straßenschilder, Werbetafeln, Tische, Stühle und Sonnenschirme von Straßencafés um. Wie durch ein Wunder schaffte er es, dass keine Menschen zu Schaden kamen.

Weitere Schüsse krachten und hallten lautstark durch die Häuserfluchten, die sonst völlig vom Verkehr befreit waren. Umso lauter konnte man das Motorengeheul und die Schüsse hören. Auch wenn die Kugeln Tom nur so um die Ohren flogen, hatten sie doch einen entscheidenden Vorteil. Sie sorgten dafür, dass sich die Straße mehr und mehr zu leeren begann.

Leider wusste Tom, dass das für den Stephansplatz jedoch völlig unmöglich war. Tag für Tag tummelten sich rund um das größte und beeindruckendste Wiener Wahrzeichen tausende Touristen. Der Platz war immer brechend voll.

Toms Verzweiflung wuchs, weil er einfach keinen Ausweg mehr sah. Der BMW würde seinen Mustang in eine Menschenmasse drängen. Tom musste eine Entscheidung treffen. Die lautete: Vollbremsung. Und genau das war eine Entscheidung, mit der der Fahrer des BMWs gar nicht gerechnet hatte. Tom war jetzt im Vorteil. Kurz bevor der BMW ungebremst abermals in das Heck des Mustangs krachte, riss Tom das Steuer herum. Menschen stoben auseinander, das Auto machte eine 90-Grad-Drehung und krachte mit der linken Seite in die Wand der Dombauhütte des Stephansdomes. Der BMW polterte haarscharf am Mustang vorbei und rutschte mit quietschenden Reifen an Tom vorbei.

Der Mustang schlitterte ein Stück weiter und krachte frontal in die hervorstehende Ecke des Südturmes. Die Wucht des Aufpralls drehte den Wagen wieder vom Dom weg, wo er kurz darauf zum Stillstand kam. Tom lehnte seinen Kopf zurück und atmete tief durch. Aber er wusste, dass es noch nicht vorbei war. Tom brauchte sofort seine Pistole, die durch diese ganze Höllenfahrt unter den Beifahrersitz gerutscht war. Er löste seinen Sicherheitsgurt, beugte sich schnell nach unten und begann hastig nach seiner Waffe zu tasten. Es dauerte ein paar Sekunden, die Tom wie Stunden vorkamen, bis seine Hand endlich das kalte Metall seiner Waffe erfasste. Schnell griff er zu und richtete sich wieder auf, nur um im selben Augenwinkel eine Faust zu sehen, die eine Sekunde später gegen seine linke Schläfe krachte. Es wurde dunkel.