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Eine kleine, im ersten Stock liegende Bar in der Wiener Innenstadt

„The summer wind came blowing in from across the sea.“

Die Barkeeperin, die gerade einen Old Fashioned mixte, konnte fast jedes Lied, das der Pianist spielte, auswendig mitsingen. Wenn sie gut gelaunt war und die richtigen Gäste da waren, stimmte sie das eine oder andere Lied an. Die kleine Bar mit den zwei großen Aquarien an der Wand hinter dem Barkeeper und einer Handvoll kleiner Tische war ein Geheimtipp. Rauchen war nach wie vor erlaubt, es gab keine offizielle Sperrstunde, keine Registrierkasse für das Finanzamt, keine Computer, die die Drinks elektronisch portionierten, keine Selfie- und Instagram-Queens und keine Tripadvisor-5-Sterne Bewertung. Eine gute alte Bar, wie es sie leider nur mehr selten gibt. Die letzte Strophe des Liedes lag der alten Barkeeperin ganz besonders.

Tom wanderte bei dieser Passage immer ein Schauer der Begeisterung über den Rücken. Sie stellte ihm seinen Drink neben das Piano. Kaum jemand wusste, dass Tom mindestens einmal die Woche in dieser Bar am Piano saß und das gute alte „Great American Songbook“ rauf und runter spielte.

Das musikalische Talent hatte er von seiner Mutter geerbt. Schon mit vier Jahren hatte Tom mit ihr gemeinsam am Klavier gesessen. Tom hatte ein ganz besonderes Talent entwickelt. Er konnte sich Musik merken wie kein anderer. Egal ob Melodien, Text, Arrangements, Tempo, Rhythmus, Länge oder was es noch so alles gab. Tom hörte es einmal und es war in seinem Gedächtnis gespeichert wie auf einer Festplatte. Er spielte in der Bar den ganzen Abend, ohne einmal ein Notenheft aufzuschlagen. Er liebte Jazz, Blues und die guten alten amerikanischen Klassiker von Frank Sinatra bis Tony Bennett, von Bobby Darin bis Sammy Davis Jr., von Dean Martin bis Bing Crosby. Seine Mutter liebte Bach. Aber aus irgendeinem Grund konnte er Barockmusik seit dem Tod seiner Mutter nicht mehr spielen. Es war aus seinem Gedächtnis ausgelöscht. Wie das Leben seiner Mutter ausgelöscht wurde.

Tom nahm einen kräftigen Schluck seines Lieblingsdrinks und begann dann mit dem Intro von „Fly me to the moon“. Die Barkeeperin lächelte und summte sofort mit. Es blieb immer nur beim Summen. Aus Respekt vor Frank Sinatra, der das Lied weltweit bekannt gemacht hatte. Niemand konnte Sinatra das Wasser reichen, deswegen versuchte sie es nicht einmal. Tom spielte das Lied langsamer, als es bekannt war, und gab dem Song noch mehr Melancholie. Das passte zu seiner heutigen Stimmung.

Als der Mann an der Garderobe die Tür für Noah öffnete und sein alter Freund in die Bar rollte, wurden Toms Gedanken noch wehmütiger. Er spielte den Song fertig, nahm seinen Old Fashioned und setzte sich zu Noah.

„Du siehst mich nach wie vor so mitleidig an. Wann wird es endlich in deine Birne gehen, dass du nicht daran schuld bist. Dich trifft keine Schuld, dass ich in diesem Ding sitze.“ Er klopfte mit beiden Händen auf die Armlehnen seines Rollstuhls. „Wenn du dich damals anders verhalten hättest, wären wir vermutlich heute beide nicht mehr hier, sondern du ein Häufchen Asche.“

„Ja, ich weiß, ich weiß. Mein Kopf weiß das nur zu gut. Meinem Herz muss es erst klar werden. Das schlechte Gewissen lässt sich nicht so leicht abstellen. Ich habe nach wie vor das Gefühl, versagt zu haben. Und das bei meinem besten Freund.“

Noah schüttelte den Kopf und presste die Lippen dabei genervt aufeinander.

„Tom, du brauchst etwas im Leben, das dich erfüllt. Du brauchst einen Sinn im Leben. Einen Grund, warum du morgens aufstehst. Du drehst dich im Kreis und kommst nicht vom Fleck: Der Tod deiner Eltern, die Sache mit Hellen, unser gemeinsamer Einsatz, dein schlechtes Gewissen, deine Pyrophobie …“

„Ich habe keine Pyrophobie, verdammt noch mal.“ Obwohl Tom laut geworden war, sah keiner der Gäste auf. Niemand wandte sich um. Niemand nahm Anstoß an seinem Gefühlsausbruch. Eine echte Bar eben, wo sich jeder nur um seine eigenen Angelegenheiten kümmerte.

Noah hob beschwichtigend die Hände. „Schon gut. Lass uns lieber über deine letzten 24 Stunden reden. Wie gesagt, irgendwoher kenne ich dieses Symbol, ich habe nur keine Ahnung, woher, und die Recherche in den diversen Datenbanken hat bisher auch nichts gebracht.“

„Guerra war heute in der Schatzkammer. Er und seine Leute haben die Lanze gestohlen und wahrscheinlich auch den Rest der Reliquien.“

Noahs Augenbrauen zogen sich zusammen. „Tatsächlich? Okay, dann lass uns mal Kriegsrat halten, wie es weitergeht. Ich werde mich nochmal in die Untiefen der diversen Datenbanken begeben und dieses Symbol suchen.“

„Na ja, Kriegsrat bringt nicht viel. Ich bin mal bis auf Weiteres beurlaubt. Habe Glück, dass mich Maierhofer nicht suspendiert hat. Du hast vermutlich recht. Ich muss etwas ändern. Ich werde mit dem, was ich hier tue, nicht glücklich. Ich glaube, ich muss ein wenig allein sein.“

„Jetzt trinken wir noch einen und du redest dir mal deinen Frust von der Seele. Zuhause wartet doch niemand auf dich“, sagte Noah.

Die Barkeeperin stellte die neuen Drinks auf den Tisch. Die beiden hoben ihre Gläser und tranken stumm. Einige Minuten verstrichen, ohne dass ein Wort gesprochen wurde. Aber nicht, weil sie sich nichts zu sagen hatten. Es musste nicht pausenlos geredet werden. Das schätzten die beide aneinander. Offenbar war Tom nicht in der Stimmung, sich etwas von der Seele zu reden.

Nach einer Weile stand Tom auf und setzte sich wieder ans Klavier. Noah war überrascht, als Tom den alten Bobby-Darin-Hit „The Good Life“ zu spielen begann. Sofort stand die Barkeeperin neben dem Piano, lehnte sich lasziv daran und begann zu singen.

„It's the good life …"

Tom hörte sofort wieder zu spielen auf.

„Verdammt, das habe ich ja komplett vergessen!“, rief er.

Noah sah ihn entgeistert an.

„Cloutard. François Cloutard. Das war der Name, den einer der Entführer am Klo mehrmals gesagt hatte.“

„Warum weißt du, was der Entführer redet, während er am Klo sitzt?“, fragte Noah.

Er sprach schnell weiter. „Nein, eigentlich will ich es gar nicht so genau wissen.“

„Sagt dir der Name was?“

„Ja, natürlich, François Cloutard ist ein internationaler Kunstschmuggler, Dieb, Hehler und was es da sonst noch so gibt. Er hat eine ganze Armee an Grabräubern und unterhält einen weltweiten Schmugglerring. Kaum ein Kunstraub & Co geht, bei dem der Typ nicht seine Finger drin hat. Und er ist verdammt geschickt. Meines Wissens ist seine Akte sehr dick, aber man konnte ihn noch nie überführen. Er ist offenbar unantastbar.“

„Das würde doch ins Bild passen. Ein Kunsträuber und Schmuggler. Das nennt man doch in unseren Kreisen eine Spur.“

„Ich dachte, du willst Urlaub machen?“, sagte Noah genervt.

„Nicht, wenn ich eine Möglichkeit habe, diesen Guerra in die Finger zu bekommen. Kannst du herausfinden, wo sich dieser Cloutard rumtreibt?“

„Ja, das wird nicht so schwer sein. Aber jetzt trinken wir noch eine Runde. Heute ist der letzte Abend, den ich noch ein wenig genießen kann. Ab morgen geht der Stress so richtig los“, sagte Noah.

„Ach ja, dieser Atlas-Einsatz? Maierhofer hat was erwähnt. Das ist doch eine Schnapsidee, oder? Alle europäischen Antiterroreinheiten unter einen Hut bekommen zu wollen. Wird das funktionieren?“, fragte Tom.

Noah schüttelte den Kopf. „Niemals. Wir werden uns alle gegenseitig auf die Füße treten. Du kannst froh sein, dass du da nicht dabei sein musst.“

Noah nippte an seinem Whisky Sour und beschloss, dass das heute ein langer Abend werden würde.