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Schloss Waldegg bei Solothurn, Schweiz

Bereits die Einfahrt war mondän. Das Schloss wurde von unzähligen Bodenscheinwerfern beleuchtet. Während man durch die rund 500 Meter lange, gerade zum Schloss ausgerichtete Allee fuhr, konnte man schon seine Pracht erkennen. Die beiden großzügigen Steintreppen, die links und rechts nach dem schmiedeeisernen Eingangstor über den kleinen Barockgarten zum Eingang des Schlosses führten, waren bereits von Besuchern bevölkert. Man sah Smokings, Dinner Jackets und viele unbezahlbare Haute-Couture-Roben. Der gesamte Event triefte förmlich vor altem Geldadel und neureichen Blendern.

Tom blieb vor dem schwarzem Tor stehen und stieg aus. Sofort sprang der junge Valet im roten Jäckchen in den Wagen und Tom sah zu, wie sein BMW auf die Rückseite des Anwesens gebracht wurde. Er steckte das Ticket ein und ging am Kiesweg durch den perfekt ausgerichteten Barockgarten, vorbei an den sechs weißen Obelisken in Richtung Eingang und hielt inne. An der Tür standen zwei Sicherheitsbeamte, die dem US-Secret Service in nichts nachstanden. Tom sah auf einen Blick die Ausbeulungen unter den Achseln, wo sie ihre Pistolen trugen. Auch kugelsichere Westen und Headsets gehörten zu ihrer Ausstattung und am Eingang waren Metalldetektoren aufgestellt worden. Hier wurde nicht gespart. Die Reichsten der Reichen und nahezu unbezahlbare Exponate rechtfertigten diese Sicherheitsvorkehrungen.

Seine Waffe mitzunehmen konnte er also vergessen. Verärgert machte er sich auf den Weg zum Parkplatz auf der Rückseite des Anwesens. Mit seinem Ersatzschlüssel öffnete er seinen Wagen, der zwischen einem Aston Martin DBS und einem Bentley Continental GT geparkt worden war. Ein lautloses „Wow“ kam Tom über die Lippen, als er einen schnellen Blick auf diese Luxusschlitten warf.

Auf dem Weg zurück zum Eingang riskierte Tom einen Blick durch die großzügigen Fensterfronten in den Festsaal des Schlosses. Er vernahm leise Musik, klingende Gläser und dieses unverständliche Geschnatter, das an eine Gänsezucht erinnerte. Er erblickte seine Zielperson, François Cloutard, der sich offenbar königlich amüsierte. Tom erkannte ihn sofort. Noah hatte auf dem USB-Stick die gesamte Akte von Cloutard gespeichert, die Tom zuvor im Hotel genau studiert hatte. Ein exzentrischer Franzose, wie aus dem Ei gepellt, im Nadelstreif-Dreiteiler und ein Cognacglas in der Hand. Neben Cloutard stand ein kleiner Mann mit Halbglatze und eine bildhübsche, dunkelhäutige Frau, die bei ihm untergehakt war, offenbar seine Begleitung. Beide unterhielten sich mit jemandem, den Tom von seinem Blickwinkel aus nicht sehen konnte. Eine Kellnerin kam mit einem Tablett mit Champagnergläsern und einer Flasche Cognac. Cloutard schenkte sich nach und verteilte dann die Gläser an die Gruppe. Er reichte „Halbglatze“ ein Glas, dann der schwarzen Schönheit und dann … Tom traute seinen Augen nicht. Cloutard reichte ein Glas Champagner an … Hellen, die sich blendend mit ihm unterhielt, lachte und scherzte.

Hellen und Cloutard? Die Sache wurde immer seltsamer. Was hatte Hellen hier zu suchen? Warum unterhielt sie sich mit seiner Zielperson, einem Kunstschmuggler und Dieb? Hellen hatte ihm einmal sehr nahegestanden, aber sie hatten sich entfremdet. Er hatte versucht, sie zu vergessen, oder anders gesagt, er hatte hart daran gearbeitet, dass sie ihm gleichgültig wurde. Was ihm schwerfiel, denn ihr Anblick war für ihn auch nach dieser Zeit aufwühlend und brachte sein emotionales Gleichgewicht durcheinander. Er glaubte, sie gut zu kennen. Sie war ehrgeizig und sie war mit Sicherheit bereit, vieles zu tun, um sich einen Karrierevorteil zu verschaffen. Aber mit einem Kriminellen gemeinsame Sache machen? Auch noch mit einem, der offenbar seine Finger in wirklich großen, düsteren Dingen hatte?

„Okay, Wagner, atme durch und behalte einen kühlen Kopf. Du kannst dir jetzt keine Sentimentalitäten und falsche Emotionen leisten.“

Tom holte die Einladungskarte aus seiner Jacketttasche und zeigte sie der Dame am Eingang. Sie scannte das Ticket und checkte seine Echtheit. Hier konnte man nicht so einfach reinspazieren. Sie nickte und lächelte freundlich.

„Herzlich willkommen, viel Erfolg und Vergnügen bei unserer heutigen Auktion“, wünschte sie ihm.

Tom betrat das Schloss, vorbei an den zwei großen Securities, und sofort bot ihm eine attraktive Kellnerin auch ein Glas Champagner an. Das kam wie gerufen, er brauchte jetzt definitiv einen Drink. Dieses Sprudelwasser war zwar gar nicht sein Geschmack, aber es war besser als nichts. Nachdem er den Inhalt in einem Zug hinuntergekippt und das Glas bei der nächsten vorbeihuschenden Kellnerin wieder auf das Tablett gestellt hatte, sah er, wie das Grüppchen um Cloutard den Saal verließ. Tom drängte sich durch die Besucher und folgte ihnen. Er verließ den Festsaal und sah, wie die Gruppe einen Raum am Ende des Flurs betrat. Es war ihm klar, dass Beobachten alleine ihn nicht weiterbringen würde. Er musste die Flucht nach vorne antreten. Auf Hellens Reaktion war er bereits gespannt. Er ging selbstbewusst auf den Raum zu, öffnete die Tür und trat ein. Toms Blick wanderte durch den Raum und in die Runde. Die Wände bestanden ausschließlich aus Bücherregalen, vom Boden bis zur Decke. Nur ein Kamin und ein Bild darüber durchbrachen die Bücherflut. In der Mitte des Raums stand ein antiker Billardtisch. Alle im Raum starrten Tom an. Hellens und sein Blick trafen sich. Sie blickte erstaunt, hatte sich aber schnell wieder im Griff.

François Cloutard hatte begonnen, eine Runde Karambolage zu spielen. Karambolage ist jene Form des Billards, die sich bereits in der Zeit der französischen Revolution entwickelt hatte. Man spielt es mit drei Kugeln, einer roten, einer weißen und einer gelben Kugel – eigentlich Bälle genannt. Der Tisch verfügt über keinerlei Löcher an den Ecken und Seiten. Ziel ist es, mit dem weißen Ball die beiden farbigen zu berühren. Klingt einfach, ist es aber ganz und gar nicht. Cloutard spielte die verschärfte Version, das sogenannte Dreiband-Billard. Bei dieser Spielart muss der eigene Ball vor der Karambolage mit dem dritten mindestens drei Mal eine Bande berühren, damit ein Punkt gezählt werden kann.

Als Tom den Raum betrat, rollte Cloutards weißer Ball gerade langsam aus und verfehlte nur haarscharf den gelben. Cloutard verzog verärgert das Gesicht, behielt aber Contenance. Erst jetzt sah er auf und bemerkte Tom.

„So kann das nicht gehen. Der weiße Ball hätte viel weniger Linkseffet gebraucht“, konnte sich Tom nicht zurückhalten.

Cloutard lehnte das Queue gegen die Wand und ging zum Kamin, auf dem eine Flasche Hennessy Louis XIII stand. Er goss sich den Cognacschwenker zu einem Viertel voll, bewegte das Glas langsam und wärmte mit seinen Händen die bernsteinfarbene Flüssigkeit an.

Langsam führte er das Glas zu seinem Mund. Er inhalierte kurz den intensiven Geruch, trank einen Schluck und begann förmlich, an dem 2.000-Euro-Cognac herum zu kauen. Das ganze Gehabe hätte bei jemand anderem vermutlich affig und überheblich ausgesehen. Zu François Cloutard passte es. Der Franzose trug einen dreiteiligen grauen Kreidestreifenanzug von Christian Dior. Seine graumelierten Haare waren streng nach hinten frisiert, ohne gelackt zu wirken. Wenn er nicht gerade ein Cognacglas in der Hand hielt – was oft der Fall war –, benutzte er stets einen Spazierstock, dessen Kopf mit Elfenbein verziert war. Ob Elfenbein heutzutage noch politisch korrekt war, scherte ihn nicht. Zu seiner Garderobe gehörten auch Pelzmäntel. Cloutard sah Tom an und ließ sich mit der Antwort Zeit. Offenbar wollte er den Genuss des Louis XIII nicht durch irgendeine Banalität stören.

„Der Rechtschaffene ist zurückhaltend in seinen Worten, aber unübertrefflich in seinen Taten“, sagte er ruhig und vollführte eine einladende Geste. Hellen verdrehte die Augen, ließ sich aber sonst nichts anmerken.

Tom war bereits dabei, sich ein Queue auszusuchen und den Billardtisch genauer in Augenschein zu nehmen. Seine Hand glitt über den grünen Filz und prüfte die Bande. Er sah auf die Konstellation der Kugeln und wartete gar nicht auf die Erlaubnis von Cloutard. Tom beugte sich über den Tisch und spielte den weißen Ball an. Er berührte den Roten, dann einmal die kurze und zweimal die lange Bande. Hauchzart berührte der weiße Ball den Gelben und kam schlussendlich in einer idealen Position für den nächsten Stoß zum Liegen. Tom schritt an die kurze Seite des Tisches und überlegte nicht lang. Sein Lieblingsstoß war dran, ein sogenannter Rückläufer. Dabei wurde der weiße Ball ganz weit unten angespielt, damit er einen Rückwärtsdrall bekam, sobald er eine andere Kugel berührte. Er beschleunigte nach der Berührung in die andere Richtung, berührte durch Pendeln in der Ecke des Tisches die drei benötigten Banden und rollte wieder siegessicher auf den gelben Ball zu.

„Was macht ein Mann mit solch einem Talent bei einer Kunstauktion? Sollten Sie nicht eher in verrauchten Cafés damit den Leuten das Geld aus der Tasche ziehen?“, sagte Cloutard sarkastisch. „Mit wem habe ich überhaupt das Vergnügen?“

„Mein Name ist Dr. Thomas Pfeiffer. Ich bin Sensal aus Wien.“

„Sensal?“, fragte Cloutard mehr rhetorisch, da er natürlich genau wusste, was ein Sensal war.

„Sensal ist der alt-österreichische Ausdruck für Kommissionär. Also jemand, der im Namen eines anonymen Käufers Gebote abgibt und zwischen dem Käufer und dem Auktionshaus vermittelt. Ich bin im Auftrag eines Sammlers hier, um den Schild der Jeanne d’Arc zu ersteigern“, sagte Tom und grinste breit. „Mein Budget dafür ist beträchtlich.“

Hellens Augen weiteten sich, sie schüttelte kaum merklich den Kopf. Mit einem Schlag war ihr wieder bewusst geworden, warum eine Beziehung mit Tom niemals funktionieren konnte. Er war nicht nur unberechenbar, sondern vor allem leichtsinnig. Was wollte er hier? Hatte er nicht in Wien schon genug Probleme? Warum tauchte er ausgerechnet hier auf? Verfolgte er sie? Folgte er einer Spur? Sie musste es so schnell wie möglich herausfinden.

„Da sind wir ja im gleichen Metier. Auch ich handle mit schönen Dingen. Gelegentlich auch für jemand anderen.“ Cloutard machte eine Pause und sah kurz Ossana und Halbglatze an. „Und Sie werden den Schild nicht bekommen, das versichere ich Ihnen.“

Cloutard trank den letzten Schluck seines Cognacs. „Mein Name ist François Cloutard, ich bin Kunstsammler.“ Er machte eine kurze Pause und zeigte dann auf Halbglatze, Hellen und die schwarze Schönheit.

„Das ist meine rechte Hand Karim Shaham, Dr. Hellen de Mey, die wissenschaftliche Expertin der UNESCO, die die Echtheit des Schildes bestätigt hat, und Ossana, die Liebe meines Lebens.“ Cloutard drückte Ossana an sich und gab ihr einen Kuss auf die Wange. Sie kicherte dabei.

Tom nickte allen kurz zu. Hellen lächelte gequält, als Cloutard sie vorstellte, und drehte sich schnell weg. Pokerface war nicht ihre Stärke. Tom hingegen war ein Naturtalent.

„UNESCO? Wow. Da haben wir hier ja hohen Besuch.“

Tom bemerkte, dass Ossana ihn förmlich anstarrte. Der Blick verwunderte ihn, weil er ihn nicht einordnen konnte. Während sie Tom fixierte und er einen Hauch Verruchtheit in ihrem Blick erkannte, flüsterte sie Cloutard etwas ins Ohr und tippte auf ihre Breguet-Armbanduhr.

„Ich muss mich jetzt entschuldigen. Ein für mich interessantes Exponat kommt in Kürze unter den Hammer“, sagte Cloutard bestimmend. „Wir haben also keine Zeit mehr für ein gemeinsames Spiel. Leider. Ich hätte Sie gerne herausgefordert. Vielleicht auch mit ein wenig höherem Einsatz. Aber dann werden wir das einfach in den Auktionssaal verlegen.“

Cloutard zuckte zweimal mit seiner rechten Augenbraue und sah Tom verschmitzt an. „Wir alle sind ja nicht zum Vergnügen hier.“

Cloutard küsste Hellens Hand, verabschiedete sich von Tom, nahm seinen Spazierstock und verließ mit Ossana an seiner Seite die Bibliothek. Hellen wartete ein paar Sekunden, bis Cloutard, Karim Shaham und Ossana die Bibliothek verlassen hatten und außer Hörweite waren. Dann herrschte sie Tom an:

„Was zum Teufel tust du hier?“

„Nette Begrüßung. Das Gleiche könnte ich dich fragen. Cloutard ist meine Zielperson. Was hast du mit diesem Typen zu schaffen?“

„Ich bin im Auftrag von Blue Shield hier – aber was heißt Zielperson? Du bist Cobra-Offizier. Du hast hier in der Schweiz überhaupt nichts zu suchen“, zischte sie ihn an. „Oder sag bloß, du machst schon wieder irgendeinen eigenmächtigen Blödsinn?“

„Und wenn es so wäre, ginge es dich nichts an. Aber wenn du es schon wissen musst: Ja, Cloutards Name wurde von einem der Flugzeugentführer erwähnt und er ist meine einzige Spur, um mich vom Mordverdacht zu entlasten!“

„Mordverdacht?“, sagte Hellen erstaunt.

Tom zögerte kurz „Eine Frau wurde tot in meinem Bett gefunden.“ Er überlegte, ob diese Information nicht schon ausreichen würde, fuhr dann aber trotzdem fort. „Eine Flugbegleiterin von dem Flug. Du weißt schon.“

Sehr zögernd gab er eine Information nach der anderen preis. „Sie wurde erstochen.“ Hellens Augen wurden größer „Mit der Heiligen Lanze. Ich habe keine Ahnung, wer dafür verantwortlich ist und was das alles mit mir zu tun hat.“

„Was macht eine Flugbegleiterin in deinem Bett?“ Hellen hob schnell die Hände, bevor Tom antworten konnte. „Nein, antworte besser nicht. Ich will es nicht wissen.“

Hellen war bis jetzt die einzige Frau, in die Tom wirklich verliebt gewesen war. Leider hatten sich Streit und Leidenschaft immer weniger die Waage gehalten und das Drama immer sehr bald die Überhand gewonnen. Sie waren zwei grundverschiedene Menschen, die einfach in zu vielen Bereichen nicht zusammenpassten. Nach der Trennung hatte er sich geschworen, nie wieder jemanden so nahe an sich heranzulassen. Dieses ganze Liebeszeug verwirrte ihn zu sehr. Und genau jetzt, wo sie gerade dahintergekommen war, dass er einen One Night Stand mit einer Flugbegleiterin gehabt hatte, war ihm diese Tatsache peinlich. Er verfluchte sich selbst für seine Gefühle, die Hellen immer wieder in ihm zu wecken schien. Sie hörten von draußen die Stimme des Auktionators, der das letzte Exponat der Auktion ausrief.

„Wie kommst du auf die verrückte Idee, dich als Sensal auszugeben und zu behaupten, den Schild ersteigern zu wollen?“ Hellens Stimme überschlug sich fast.

Tom zuckte mit den Achseln und lächelte. „Ich wollte schon immer mal bei einer Auktion mitbieten. So mit diesem Paddel zum Bieten rumfuchteln und cool dreinschauen, während man ein Vermögen für sinnlosen Kram zum Fenster rauswirft.“

Tom deutete an, wie man ein Gebot abgab. Hellen sah Tom entgeistert an. Sie wollte etwas darauf erwidern, überlegte es sich aber dann wieder.

„Ich habe jetzt keine Zeit und keine Nerven, weiter mit dir zu diskutieren“, sagte sie, ließ Tom stehen und verließ die Bibliothek in Richtung Auktionssaal.