Hellen, Tom und Graf Palffy sahen sich zugleich erfreut und aufgeregt an, dann lugten sie wieder in das neu entstandene Loch in der Wand.
„Ladies first“, sagte Palffy und zeigte auf das Loch. „Du hast lange genug auf diesen Moment gewartet, meine Liebe.“
Hellen wollte der Anweisung folgen, verharrte dann aber noch kurz und entnahm der schwarzen Kugel ihr Amulett. Es hatte sie ein Leben lang begleitet, da wollte sie es nicht einfach hier zurücklassen. Tom spürte, dass das nicht der einzige Grund ihres Zögerns war.
„Ich gehe zuerst, wer weiß, was uns da unten erwartet.“ Tom knipste seine Taschenlampe an und schob sich an dem Sarg vorbei in das kleine Loch in der Wand. Hellen folgte ihm und dann betrat auch Palffy den schmalen Gang. Eine steile und sehr enge Wendeltreppe aus Holz schraubte sich in die Tiefe. Trotz des starken Lichtkegels, den Toms Surefire-Taschenlampe produzierte, konnten sie das Ende der Treppe nicht erkennen. Es lag in tiefer Dunkelheit. Langsam, Schritt für Schritt, stiegen die drei die alte knarrende Treppe hinab. Zuerst Tom, dann Hellen, gefolgt von Graf Palffy. Bei jedem Schritt gab die Treppe ächzende und beängstigende Laute von sich.
„Wie viele Jahre mag diese Treppe schon nicht mehr benutzt worden sein?“, ging es Hellen durch den Kopf, als sie wenig später hinter sich eine der Sprossen zerbrechen hörte. Palffy hatte das Gleichgewicht verloren. Er kippte nach hinten, fiel mit dem Rücken auf die Treppe und gab mit seinen Beinen Hellen einen gewaltigen Tritt in den Rücken. Auch die Sprossen unter Hellens Füßen gaben nach und sie verlor ebenfalls den Halt. Palffy und Hellen begannen zu fallen und eine Sprosse nach der anderen zerbrach unter Hellens und Palffys Körpergewicht. Tom hatte rund zehn Stufen Vorsprung und bereitete sich auf einen harten Aufprall durch Hellens und Palffys Körper vor, als sein Fuß auf festen Boden traf. Die Wendeltreppe war zu Ende. Hellen und Palffy folgten rutschend ein paar Sekunden später und blieben auf dem Boden liegen.
„Alles in Ordnung?“, fragte Tom die zwei. Hellen war als Erste wieder auf den Beinen: „Ja, alles okay!“
Sie wollte Palffy aufhelfen, dem wohl auch nichts passiert war. Plötzlich sprang Tom auf die beiden zu und stieß sie ein paar Meter von der Wendeltreppe weg. Er hatte das Grollen als Erster gehört. Die Treppe war im Begriff, in sich zusammenzufallen. Augenblicke später krachte das Holzgerüst in sich zusammen und hätte Hellen und Palffy unter sich begraben, wenn Tom sie nicht aus dem Weg gerissen hätte. Als sich der Staub gelegt hatte, fiel das Atmen wieder leichter und sie konnten auch die eigene Hand wieder vor Augen sehen. Tom leuchtete den Raum ab. Die drei standen in einer kreisrunden Höhle von rund 20 Metern Durchmesser.
„Hoffen wir, dass es einen anderen Ausgang gibt. Denn hier kommen wir nicht mehr hoch.“
Tom blickte den Schacht nach oben. Erst in rund 30 Metern Höhe konnte er wieder Teile der Wendeltreppe erkennen. Er wandte sich wieder dem Raum zu. Man konnte hier unten deutlich das Meer riechen. In alle vier Himmelsrichtungen führte je ein Gang. Tom leuchtete in jeden der vier Gänge. Die drei blickten dem Schein der Taschenlampe nach. Endlose Dunkelheit. Nur der südliche Gang war nach ein paar Metern eingestürzt und unpassierbar. Blieben also noch drei. Sie inspizierten die Wände nach irgendwelchen Hinweisen, fanden aber gar nichts.
„Sinnlos“, sagte Tom. „Wir müssen uns jeden Gang ansehen. Graf Palffy, haben Sie irgendeine Idee?“
„Valletta hat ein riesiges System an Katakomben. Erst vor ein paar Jahren hat man es entdeckt. Die Gänge sind teilweise eine regelrechte Touristenattraktion. Meines Wissens ist aber nur ein kleiner Teil des Tunnelsystems erforscht. Wir haben offenbar das zweifelhafte Vergnügen, uns im unerforschten Teil zu befinden.“ Palffy deutete mit der Hand im Kreis.
Zwei der Gänge führten wahrscheinlich mehr oder weniger direkt an die jeweils gegenüberliegenden Ufer der Halbinsel, dem Stadtzentrum von Valletta.
„Diese beiden Gänge gehen nach Nordosten und Südwesten und sind vielleicht eine Art Fluchtweg oder Verbindungstunnel zwischen der Kathedrale, dem Großmeisterpalast und anderen Gebäuden. Vielleicht sollten sie in früheren Zeiten ein geheimes Kommen und Gehen der Obrigkeiten gewährleisten. Obwohl ich in der Geschichte des Ordens sehr bewandert bin, ist mir das alles unbekannt.“ Palffy begann, mit seiner Handykamera ein paar Fotos zu machen.
„Der westliche Gang führt deutlich steiler nach unten als der östliche Gang“, sagte Hellen, während sie sich die Beschaffenheit der Wände genauer ansah.
„Anhand des Zustands der zusammengestürzten Wendeltreppe und des Mauerwerks kann man davon ausgehen, dass dieser Raum und die Gänge bei Flut oder Unwettern gelegentlich unter Wasser stehen“, sagte sie
„Und ich habe meine Badehose nicht dabei“, bemerkte Tom.
„Sehr witzig. Es kann gut sein, dass das mit Ebbe und Flut zusammenhängt und wir hier bald unter Wasser stehen, also sollten wir uns beeilen. Wir müssen die Gänge erkunden. Wir teilen uns am besten auf“, sagte Hellen. „Dann geht das schneller.“
„Ich habe kein gutes Gefühl dabei, uns zu trennen. Wir haben bei der Treppe gesehen, wie schnell hier was passieren kann“, sagte Tom.
„Wir müssen ab jetzt ein wenig vorsichtiger sein“, sagte Palffy, der die Taschenlampe seines Mobiltelefons aktiviert hatte und bereits in einem der drei Gänge verschwunden war.
Hellen sah Tom verdutzt an. „Der Boss hat offenbar entschieden.“
Sie ging auch los. Auch ihr Handy erhellte ihr den Weg. Tom gab sich geschlagen und nahm den dritten Gang.
„In zehn Minuten treffen wir uns wieder hier“, rief er den beiden noch schnell nach, bevor sie in der Dunkelheit verschwanden.
Der westliche Gang, den Tom genommen hatte, ging steil nach unten. Nach kurzer Zeit bog er sich mehr und mehr, wurde fast schlangenlinienförmig. Mal schwang er nach links, mal nach rechts. Hin und wieder waren an den Seiten kleine Nischen. Plötzlich, Tom konnte sich gerade noch rechtzeitig an einem kleinen Vorsprung festhalten, klaffte ein riesiges Loch im Boden. Tom leuchtete umher und stellte fest, dass hier das Meer den Felsen unterspült haben musste. Es schien, als wäre vor geraumer Zeit ein Teil eingebrochen und ins Meer gestürzt. Das Meeresrauschen war von unten hörbar. Auf der anderen Seite des Kraters ging der Gang weiter, aber das war ein Sprung von weit über zwei Metern, also nicht so einfach zu schaffen. Er beschloss, umzukehren.
Tom war als Erster wieder zurück. Ein paar Minuten später tauchte Palffy auf.
„Nach ein paar hundert Metern endet der Gang. Das ist eine Sackgasse“, sagte Palffy enttäuscht.
„Wo bleibt Hellen?“ Tom war sichtlich besorgt.
„Ihr Gang führt nach Norden, also vielleicht direkt unter den Großmeisterpalast. Vielleicht hat sie etwas gefunden und ist so begeistert, dass sie die Zeit vergessen hat. Man könnte es ihr nicht verdenken“, sagte Palffy und winkte Tom in den nördlichen Gang.
„Hellen kann sicher Verstärkung gebrauchen.“
Nach ein paar Minuten sahen sie ein Licht am Ende des Tunnels, der wieder deutlich breiter wurde.
„Hellen?“, rief Tom mehrmals.
„Ich hab etwas gefunden“, hörte man sie begeistert antworten.
Hellen stand in der Mitte eines quadratischen Raums, dessen Wände rund zehn Meter lang waren. Die vier Wände waren mit verblassten Fresken bedeckt. Am Boden des Raums prangte ein riesengroßes Malteserkreuz. Zwischen den Schenkeln des Kreuzes standen rund zwei Meter hohe Marmorsäulen mit Feuerschalen, die in früheren Zeiten offenbar Licht gespendet hatten. In der Mitte des Kreuzes befand sich eine kreisrunde Öffnung mit rund drei Metern Durchmesser und mit roten Marmorsteinen eingefasst. Einer der Marmorblöcke, auf dem sich ebenfalls ein Malteserkreuz befand, ragte ein wenig heraus.
Palffy trat näher an die Fresken heran und war begeistert.
„Das sind Fresken von Mattia Preti. Vermutlich hat seit Jahrhunderten kein Mensch diese Kunstwerke zu Gesicht bekommen.“ Palffy lief begeistert von einer Wand zur anderen und machte abermals Fotos von allem.
„Die Maltechnik ist interessant. Offenbar hat Preti eine andere Technik angewendet, um die Fresken vor Feuchtigkeit zu schützen.“
Hellen sah Toms Gesicht und musste lächeln. „Mattia Preti ist derselbe Künstler, der in der Co-Cathedral das Bild vom Heiligen Georg gemalt hat. Er steht in der Tradition von Caravaggio und zählt zu den bedeutendsten Künstlern der gesamten Renaissance.“
„Die Fresken zeigen die Gefangennahme Jesu am Ölberg.“ Hellen ging von einer Wand zur anderen. „Und hier ist die Szene, wo Petrus sein Schwert nimmt und Jesus gegen den Knecht Malchus verteidigt. Wir müssen hier richtig sein.“
Hellen ging vorsichtig zur Öffnung und blickte nach unten in die Finsternis.
„Einfach ein Loch im Boden? Sonst nichts?“ Hellen wirkte enttäuscht. Tom kniete sich vor die Öffnung und leuchtete mit der Taschenlampe nach unten.
„Es dürfte eine Art Brunnen sein. Ich kann die Wasseroberfläche sehen. Die Wände das Schachts sind völlig glatt. Rauf- oder runterklettern ist völlig unmöglich“, sagte Tom.
„Da unten muss es sein. Ich habe den Raum bereits gründlich abgesucht. Ich habe keinerlei weitere Geheimtüren oder Hinweise gefunden.“
Palffy zeigte auf die rechte untere Ecke des Freskos mit der Szene am Ölberg. „Das ist seltsam. Hier ist eine Art Schneckensymbol eingezeichnet. Ohne Zusammenhang zum Rest des Bildes.“
Hellen trat näher und sah sich das Symbol genauer an. „Das ist keine Schnecke. Das sieht für mich aus wie eine Wendeltreppe von oben.“
„Hier gibt’s aber keine Wendeltreppe. Hier gibt’s nur einen Schacht und der führt offenbar ins Meer“, sagte Tom.
Er leuchtete nochmal in den Brunnenschacht. Dabei blieb sein Blick auf dem erhabenen Marmorblock mit dem Malteserstein hängen.
„Seht mal. Auch hier ist eine Einkerbung wie auf dem Sarkophag in der Krypta.“
Hellen eilte zu Tom. „Du hast recht.“
Schnell nahm sie ihr Amulett ab und drückte es abermals in die Ausnehmung. Und wieder hörten sie schwere Steinblöcke, die aneinander rieben. Dieses Mal war es aber ein Geräusch, das länger anhielt und mit jeder Sekunde ein wenig leiser wurde. Es kam aus dem Brunnenschacht. Tom leuchtete in den Schacht und alle drei sahen neugierig nach unten. Sie beobachteten, wie sich aus der Wand einzelne Steinplatten schoben, die jeweils 50 Zentimeter zur Seite und nach unten versetzt waren und dadurch nach und nach eine Wendeltreppe bildeten.
„Ich würde sagen, das ist ein eindeutiger Hinweis, wie es weitergeht“, bemerkte Tom trocken.
„Ja, aber die Wendeltreppe ist überflutet. Wir können da nicht einfach runterspazieren. Das kann nicht der richtige Weg sein“, sagte Hellen, während sie sich das Amulett wieder um den Hals hängte.
„Doch, Hellen, kann es schon. Die Katakomben von Valletta wurden erst vor ein paar Jahren touristisch erschlossen. Vermutlich wurden spezielle Wege angelegt, damit die Touristen durch die Katakomben wandern können und man diese auch mit Booten befahren kann. Es ist durchaus möglich, dass sich dadurch die Wasserstände innerhalb des gesamten Höhlensystems verändert haben. Die Anhebung des Meeresspiegels seit dem 14. Jahrhundert tut da noch ihr übriges. Und wenn ich mich nicht irre, haben wir momentan Vollmond, was auch einen großen Einfluss haben kann“, sagte Palffy.
„Was hat der Vollmond damit zu tun?“, fragte Tom.
„Bei Vollmond sind Ebbe und Flut immer viel stärker im Vergleich zu den anderen Tagen. Man nennt das eine Springflut. Möglicherweise hat sie schon eingesetzt und darum steht das Wasser so hoch“, ergänzte Palffy.
„Wir werden jetzt aber sicher nicht warten, bis der Mond uns erlaubt, die Suche nach dem Schwert weiterzuführen“, sagte Hellen ein wenig ungeduldig. „So nah war ich meinem Ziel noch nie.“
„Ich werde mir das genauer anschauen.“ Tom war bereits dabei, sich seine Schuhe auszuziehen.
„Was hast du vor?“, fragte ihn Hellen.
„Ich will von dir eine Fußmassage. Genau der richtige Zeitpunkt dafür.“ Er grinste breit. „Natürlich gehe ich da jetzt runter und schaue mir das genauer an.“
„Einfach nach unten gehen und dann den Rest tauchen? Bist du verrückt? Du hast keine Ahnung, was dich da unten erwartet“, sagte Hellen.
„Was soll da schon warten? Arielle, die Meerjungfrau? Ein weißer Hai? Aquaman persönlich? Ach was, ich seh mir das jetzt mal an.“
„Weiße Haie gibt’s hier in den Gewässern von Malta. Erst vor Kurzem habe ich das in den Nachrichten gehört“, erwiderte Hellen.
Tom hörte aber gar nicht mehr zu. Er nahm seine wasserdichte Taschenlampe und ging die paar Treppen nach unten, bis er zur Wasseroberfläche kam. Palffy und Hellen standen am Rand und sahen ihn erwartungsvoll an.
„Bis gleich!“ Tom salutierte spaßeshalber und tauchte ab.
Das Wasser war überraschend warm und klar. Er leuchtete mit der Taschenlampe nach unten und war erstaunt, wie schnell er vorankam. Zwischen den Treppen war genug Platz und so tauchte er zügig tiefer und tiefer. Nach rund fünf Metern war er am Boden angekommen und sah zwei weitere Schächte, die waagerecht nach Südosten und Nordwesten führten. Wenn seine Orientierung ihn nicht im Stich ließ, dann führte der eine Gang in Richtung Meer und der andere zurück unter das Zentrum Vallettas.
Tom entschied sich für den Weg in nordwestlicher Richtung und tauchte weiter. Der Gang wurde immer enger. Er war froh, dass Klaustrophobie kein Thema für ihn war. Gerade, als er ans Umkehren denken wollte, sah er über sich eine Spiegelung, die die Taschenlampe hervorrief. Tom erkannte sofort, was es war, eine Luftblase, die sich im Gang gebildet hatte. Er tauchte auf und atmete ein paar Mal durch. Da er nicht sehen konnte, wie weit der Gang noch weiter verlief, beschloss er, umzukehren. Wieder musste er durch die Verengung. Nur von dieser Seite erschien ihm das Unterfangen schwieriger. Er blieb mit der Hose hängen und schürfte sich den Oberschenkel auf und riss Teile der Wand mit.
„Hoffentlich bricht das nicht alles gleich unter mir zusammen“, dachte Tom, als er durch die Verengung hindurch war.
Das Salzwasser brannte an seinem aufgeriebenen Schenkel wie Feuer. Wenn er sich nicht irrte, färbte sich das Wasser auch ein wenig rot. Kurz dachte er an Hellens Hai-Story, wusste aber sofort, dass das in diesen überfluteten Gängen völlig unmöglich war. Er beschloss, aufzutauchen und den beiden Bericht zu erstatten.
„Da unten gibt es zwei weitere Gänge“, rief er atemlos nach oben. „Beide überflutet. Ich bin in den einen hineingeschwommen, habe aber nicht gesehen, wie weit der noch geht. Ohne Tauchequipment komme ich da nicht weiter. Ich sehe mir jetzt den anderen Gang an.“
Tom atmete ein paar Mal tief ein und aus und verschwand wieder nach unten, ohne die Reaktion der beiden abzuwarten. Dieses Mal nahm er den anderen Gang, der viel breiter war. Er schwamm den Gang ein paar Meter geradeaus und sah plötzlich Stufen am Boden. Es schien, als ob auch hier Treppen in einen Raum führten, der nicht gänzlich überflutet war. Tom tauchte auf und ging die Treppen nach oben. Er war in einem kleinen, kreisrunden Raum, in dessen Mitte eine Marmorsäule prangte. Sie war wieder aus rotem Marmor, rund einen Meter hoch und endete mit einer Steinplatte, auf der eine schwarze Truhe lag. Die Truhe war an den Seiten mit roten Rubinen in Form eines Malteserkreuzes besetzt.
Er schnappte sich die Truhe und tauchte nach oben. Toms letztes Tauchtraining war schon ein paar Monate her und er war ein wenig aus der Übung. Mit der Truhe beladen dauerte alles ein wenig länger. Er spürte den Druck in den Lungen und seinen Wunsch nach Luft. Seine Lungen begannen zu brennen, als er an der Wendeltreppe entlang nach oben schwamm. An der Wasseroberfläche angekommen, blieb ihm abermals die Luft weg. Aber nicht, weil ihm der Atem ausgegangen war, sondern weil er Guerra und zwei weitere Männer erkannte, die Hellen und Palffy ihre automatischen Waffen an den Kopf hielten.