„Vielen Dank, dass Sie für uns die Drecksarbeit übernommen haben, Señor Wagner.“ Guerras triumphierendes Lachen hallte durch den Raum. Wenigstens hatte er Toms Namen richtig ausgesprochen.
Tom überlegte kurz, wieder abzutauchen, wusste aber, dass es keinen Ausweg gab. Er würde nicht fliehen können und Hellen und Palffy waren dann in den Händen von Guerra. Langsam stieg er die Stufen nach oben. Einer der Männer nahm ihm die Truhe ab und stieß ihn zu Hellen und Palffy. Der zweite Mann hielt mit der MP alle in Schach. Guerra zielte auf Toms Kopf.
„Ihre Waffen, Señor Wagner, und natürlich Ihr Handy.“ Sein Kollege hob die Sachen auf.
Es schien ihm Spaß zu machen. Er stand da wie ein Gangster in Grand Theft Auto. Guerra wandte sich wieder ab und begann, die Kiste zu untersuchen.
„Die Kiste sieht nagelneu aus“, flüsterte Tom Hellen zu.
„Ja, das macht mich auch stutzig.“
Guerra schlug mit dem Griff seiner Pistole auf die Truhe ein. Ungeduldig versuchte er alles Mögliche, um sie zu öffnen. Hellen konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. Palffy deutete auf die Stelle, wo üblicherweise das Schloss der Truhe prangte. Dort war kein Schloss, dafür aber eine weitere Einkerbung.
„Hellen, dein Amulett“, sagte Palffy nervös und zeigte auf die Ausnehmung, die genauso aussah wie auf der schwarzen Marmorkugel.
Hellen sah Palffy vorwurfsvoll an. Sie konnte es nicht glauben, dass Graf Palffy sich gerade in diesem Augenblick so sehr verplappert hatte. Palffy hielt erschrocken die Hand vor den Mund, aber es war bereits zu spät. Guerra grinste, nickte dankend, ließ von der Truhe ab und ging auf Hellen zu.
„Ein Amulett?“, fragte er. „Wo haben Sie das denn versteckt?“
Er hielt ihr die Pistole an die Schläfe und begann mit der anderen Hand, ihre Bluse aufzuknöpfen. Das Amulett kam zum Vorschein. Guerra fand offenbar gefallen daran, denn er öffnete die Bluse weiter als notwendig. Guerra strich über das Amulett und begann, Hellens nackte Haut unter der Bluse zu streicheln. Er grinste diabolisch.
„Nimm deine dreckigen Hände von ihr!“, rief Tom und machte eine Bewegung in Richtung Guerra.
Die MP, die auf ihn gerichtet war, belehrte ihn aber eines Besseren und er blieb stehen. Guerra fuhr langsam mit seiner Hand unter das Amulett, wog es kurz in seiner Hand, packte zu und riss Hellen die Kette vom Hals. Sein Blick wanderte von dem Amulett in seiner Hand hinüber zur Kiste. Hellen machte mit einem wütenden Blick einen schnellen Schritt nach hinten, schloss ihre Bluse wieder und verschränkte ihre Arme. Guerra ignorierte sie, er starrte immer noch auf das Amulett und erkannte, was Palffy gemeint hatte. Er setzte das Amulett in die Auskerbung in der Kiste ein. Klick. Guerra drehte zuerst das Amulett mit und dann gegen den Uhrzeigersinn. Das Geräusch, das folgte, war das eines sich bewegenden Bolzen in einem Schloss. Alle hielten den Atem an. Guerra hob langsam den Deckel an. Sie blickten in die mit rotem Samt ausgelegte Truhe. Darin schimmerte ein prachtvolles Kurzschwert. Ebenso in makellosem Zustand wie die Truhe selbst. Hellen blickte auf das Fresko von Preti. Das Schwert in der Truhe glich exakt dem Kurzschwert, das der Heilige Petrus auf dem Fresko in der Hand hielt.
„Das Schwert des Heiligen Petrus. Die heilige Waffe, die Jesus Christus berührt hat und der seitdem eine unbeschreibliche Macht nachgesagt wird“, gab Graf Palffy mit einer fast tranceartigen Stimme von sich, während er langsam auf die Truhe zuging. Er starrte auf das Innere der Truhe und entnahm ihr das Schwert. Weder Guerra noch die beiden anderen Männer hielten Palffy davon ab. Sie behielten weiterhin Tom und Hellen im Visier. Dass Palffy das Schwert in der Hand hielt und mit einem entrückt-irren Blick darauf starrte, schien sie nicht weiter zu stören. Palffy blickte vom Schwert auf und lächelte.
„Gute Arbeit, Guerra“, sagte Palffy und klopfte Guerra auf die Schulter.
Es dauerte ein paar Sekunden, bis Tom und Hellen die Situation begriffen hatten. Tom fand als Erster seine Fassung wieder.
„Sie verdammtes Schwein. Sie stecken mit denen unter einer Decke?“
Hellen brauchte etwas länger. Sie wollte Palffy anschreien, nach dem Warum fragen, ihm die Augen auskratzen. Alles gleichzeitig. Nichts davon gelang ihr. Sie stand wie versteinert da und realisierte, dass ihr Mentor sie jahrelang an der Nase herumgeführt hatte. Und nicht nur sie, sondern auch Blue Shield und die UNESCO.
„Sieh mich nicht so vorwurfsvoll an, Hellen.“ Palffy übergab das Schwert an Guerra, der es wieder in die Kiste legte und sie verschloss. Er gab Palffy Hellens Amulett.
„Ich werde das Amulett für dich aufbewahren und es ihn Ehren halten“, sagte Palffy zu Hellen und steckte das Amulett in seine Jackentasche.
Hellen fand ihre Sprache wieder. „Warum, Nikolaus, warum?“
„Meine Liebe, es würde zu weit führen, dir jetzt alles zu erklären. Du würdest es ohnehin nicht verstehen. Das hier ist nur ein Puzzleteil in einem sehr, sehr großen Bild. Es geht nicht um das Schwert oder die anderen Reliquien.“
„Worum geht es dann?“, blaffte Hellen ihn an.
„Es geht darum, ein paar Dinge in unserer Welt wieder zurechtzurücken. Es geht darum, unsere Kultur zu retten.“ Palffys Blick wurde abwesend.
„Unsere Kultur zu retten? Indem Sie Artefakte stehlen lassen und Chaos, Angst und Unsicherheit in ganz Europa schaffen?“, schaltete sich Tom ein.
„Genau das ist es. Sehen Sie, wie leicht man Angst in unsere Welt schaffen kann. Wie leicht die heutigen Menschen zu manipulieren sind. Man muss nur Flugzeuge in die Twin Towers krachen lassen oder ein paar christliche Artefakte stehlen, ein wenig die Medien manipulieren und warten. Bis die dummen Herden auf sämtlichen Social-Media-Netzwerken mit einstimmen. Und schon herrscht Panik.“
Palffys Stimme klang kalt.
Hellen schüttelte den Kopf. „Ich habe keine Ahnung, worauf du hinauswillst, Nikolaus.“
„Wir kämpfen einen neuen Kreuzzug. Die europäische Kultur wird untergehen, wenn wir so weitermachen. In ein paar Jahren werden in Europa mehr Moscheen als Kirchen stehen. Und niemand unternimmt etwas dagegen. Unser demokratisches System ist kaputt. Europa ist zerstritten und sieht tatenlos zu, wie wir vom Islam unterwandert werden.“
„Darum geht es also? Sie haben das alles inszeniert, um es den Moslems in die Schuhe zu schieben? Sie sind krank.“ Tom war fassungslos.
„Nein, ich bin der Einzige, der bei gesundem Verstand ist. Wir brauchen einfach eine starke Hand in Europa, die dem ganzen Einhalt gebietet. Die dafür sorgt, dass unsere Kultur erhalten bleibt und dass wir nicht zu einer riesengroßen Kebab-Bude verkommen.“
„Und diese starke Hand willst du sein?“ Hellen lachte verächtlich.
„Natürlich nicht alleine. Ich wusste, dass du es nicht verstehen wirst. Und ganz ehrlich habe ich auch keine Lust und auch keine Zeit, es dir zu erklären.“ Palffy warf einen Blick auf seine Uhr und wandte sich dann an Guerra.
„Wir haben jetzt Wichtigeres zu tun.“
„Projekt Cornet“, sagte Guerra halblaut.
Palffy nickte und sah Guerra erwartungsvoll an.
„Die Vollendung unseres Plans. Mach dich auf. Du hast nicht viel Zeit. Morgen mittag sieht die Welt bereits ganz anders aus.“
Plötzlich hörte man ein Grollen, das aus der Öffnung aus der Mitte des Raums drang. Es wirkte beängstigend mächtig und hallte innerhalb des Raums wider. Palffy tippte mit dem Finger auf seine Uhr.
„Wir müssen gehen. Die Springflut kommt bald und dann wird hier alles komplett unter Wasser stehen.“
Er deutete zuerst auf Guerra und dann auf die beiden anderen Männer.
„Ihr wisst, was zu tun ist.“
Palffy machte sich zum Gehen auf und würdigte Hellen und Tom keines weiteren Blicks. Tom musste zusehen, wie einer der beiden Männer zwei Sprengsätze am Eingang des Raums montierte. Guerra holte aus seiner Tasche zwei Paar Handschellen. Er führte Tom und Hellen zu einer der vier Marmorsäulen und stellte die beiden gegenüber voneinander vor die Säule. Toms linke Hand verband er mit Hellens rechter und umgekehrt. Tom blickte die Säule entlang nach oben und wusste sofort, dass es kein Entkommen gab. Guerra lachte.
„Sie müssen die Säule nicht begutachten, Wagner, Sie kommen hier nicht lebend raus.“
Guerra checkte ein letztes Mal die Handschellen und blickte zu dem Mann mit den Sprengsätzen.
„Alles fertig?“
Der Mann nickte und aktivierte die beiden Zeitzünder.
„Es gibt kaum eine grausamere Art zu sterben als Ertrinken.“ Guerras Tonfall klang beängstigend gleichgültig.
„Keine Art von Folter kommt auch nur ansatzweise an die Verzweiflung heran, die Menschen erleben, wenn sie ertrinken. Der einzige Nachteil daran ist: Ich kann euch leider nicht dabei zusehen.“
Guerra und die beiden anderen Männer verließen den Raum.