Hellen blickte Tom an und die nackte Verzweiflung stand ihr ins Gesicht geschrieben.
„Wir werden hier drin sterben, Tom“, sagte sie zitternd.
„Fast hätte ich jetzt ‚Nur über meine Leiche‘ gesagt, aber das wäre jetzt wohl ein wenig unpassend.“
„Sogar jetzt musst du noch immer Scherze machen? Verdammt noch mal, wie kommen wir hier raus?“
In diesem Augenblick erschütterte die Detonation der beiden Sprengsätze den Raum. Tom war verblüfft. Es waren Profis am Werk. Die Sprengung hatte den Ausgang einstürzen lassen, der Rest des Raums war aber heil geblieben. Soweit er es von hier aus beurteilen konnte, würde es unmöglich sein, die Felsbrocken und den Schutt beiseite zu schaffen, um hier rauszukommen.
„Verdammt, Tom, der Raum beginnt sich mit Wasser zu füllen. Die Springflut, von der Nikolaus gesprochen hat, beginnt.“
Aus der Öffnung gischtete Wasser in Fontänen nach oben. In ein paar Sekunden war der Boden mit Wasser bedeckt und ein wenig später standen Tom und Hellen bereits knöcheltief im Wasser.
„Okay, folgender Plan. Wir warten, bis sich der Raum mit Wasser gefüllt hat, das uns nach oben drückt. Dann können wir die Hände über das Ende der Säule heben und sind frei“
„Frei? Verdammt, Tom. Wir sind nicht frei!“
Hellen klang hysterisch. „Wir sind dann noch immer mitten in einem Raum gefangen, der sich mit Wasser füllt. Wir werden ertrinken!“
„Werden wir nicht. Wir tauchen nach unten. Die Truhe mit dem Schwert war in einem Raum, der nicht überflutet war und auch meiner Meinung nach durch die Flut nicht mit Wasser gefüllt werden kann. Er liegt sicher höher als dieser hier. Der Raum war staubtrocken und nichts deutete darauf hin, dass er jemals unter Wasser stand.“
Das Wasser war inzwischen bei ihren Hüften angekommen. Hellen versuchte, Ruhe zu bewahren, die Angst war aber dabei, sie zu übermannen.
„Deiner Meinung nach nicht überflutet? Was ist, wenn doch? Was ist, wenn du dich irrst? Was machen wir dann? Wir sind mit Handschellen aneinandergekettet. Wir kommen hier niemals lebend raus. Verdammt, Tom, ich will nicht sterben.“
„Atme ruhig, Hellen. Wir machen einen Schritt nach dem anderen. Wir lösen ein Problem und dann fokussieren wir uns auf das nächste. Wenn wir alles auf einmal lösen wollen, werden wir es nicht schaffen. Ich weiß, das ist nicht einfach, aber du musst jetzt Ruhe bewahren. Der erste Schritt ist, dass wir durch Wassertreten und den Auftrieb hoch genug kommen, damit wir unsere Hände über die Säulen bekommen. Schritt zwei, wir tauchen an der Wendeltreppe nach unten und schwimmen zu dem Raum, in dem sich die Truhe befand. Dort ruhen wir uns aus und planen die nächsten Schritte!“
Hellen war nicht begeistert, aber es blieb ihr nichts anders übrig. Sie bewunderte Toms stoische Ruhe. Er gab ihr dadurch einen kleinen Hoffnungsschimmer, dass sie es doch schaffen konnten, auch wenn ihnen das Wasser bereits buchstäblich bis zum Hals stand.
„Los, Hellen, ab jetzt müssen wir Wasser treten, damit wir nach oben kommen.“
Am Kopf wurde die Säule ein wenig breiter, weil darauf eine Feuerschale prangte. Tom hoffte inständig, dass sie nicht fest montiert war, sonst würde es wirklich schwierig.
„Wir müssen versuchen, die Feuerschale wegzuschieben, auf drei heben wir sie an und kippen sie nach links.“
Hellens rechte Hand zog nach oben und obwohl die Situation todernst war, musste Tom lachen. „Das mit links und rechts hast du noch immer nicht begriffen.“
„Halt den Mund, du Genie, und lass uns weitermachen“, blaffte Hellen zurück.
„Also auf drei – eins, zwei und drei.“ Beide drückten so fest sie konnten nach oben. Mit einem leises Knirschen löste sich die schwere Schale von der Säule, kippte zur Seite und versank augenblicklich in dem klaren Wasser.
Die Freude währte nur kurz. Sie prusteten und schluckten ohne Ende Wasser. Es hatten sich in dem kleinen Raum bereits ordentliche Wellen gebildet, was dazu führte, dass Tom und Hellen bereits jetzt nach Atem rangen, bevor sie überhaupt bereit waren, zu tauchen. Hellens Beine fingen bereits an, von dem vielen Wassertreten zu brennen, und sie hoffte, dass sie das alles durchhalten würde. Das Wasser drückte sie immer mehr nach oben und sie konnten nun ihre Hände über die Säule heben und sich befreien.
„Okay, das erste Ziel wäre mal geschafft.“ Tom drückte sich an Hellen.
„Was machst du da? Das ist ja jetzt wohl der falsche Zeitpunkt für Annäherungsversuche.“
„Glaub mir, das ist das Letzte, woran ich jetzt gerade denke. Wir müssen nur eng zusammenbleiben und unsere Bewegungen koordinieren, sonst kommen wir nicht weiter. Ich gebe das Tempo vor.“ Er machte eine kurze Pause. „Beim Walzertanzen damals am Opernball hat das auch gut funktioniert.“
Hellen nickte.
„Drei tiefe Atemzüge und dann tauchen wir runter.“ Tom versuchte, sich gegen das Rauschen der Wassermassen verständlich zu machen. „Die Wendeltreppe sind wir schnell nach unten getaucht, danach müssen wir uns rechts halten. Es sind nur ein paar Meter, bis der Gang wieder nach oben führt. Vorher aber noch eines. Ich habe auf der rechten Seite meiner Cargohose ein paar Leuchtstäbe eingesteckt. Die brauchen wir, damit wir uns orientieren können.“
Ihre Hände wanderten nach unten, ergriffen die Knicklichter und gemeinsam brachten sie sie zum Leuchten. Jeder von ihnen ergriff einen Leuchtstick.
„Kann’s losgehen“?, fragte Tom.
Hellen nickte, obwohl sie sich alles andere als bereit fühlte. Sie tauchten nach unten. Im Schacht konnten sie sich an den stufenartigen Vorsprüngen schnell nach unten hangeln. Unten angekommen, wandten sie sich nach rechts und schwammen weiter. Es dauerte ein paar Tempi, bis sie synchron waren, aber sie kamen schneller voran, als Tom gedacht hatte. Die Leuchtstöcke halfen immens, in einigen Metern sah Tom bereits die Stufen vor sich und betete, dass er recht hatte. Sie schwammen die Treppen entlang nach oben. Toms Kopf tauchte als Erstes auf, Hellens folgte sogleich. Sie rangen beide nach Luft. Sie hievten sich die Stufen nach oben und ließen sich erschöpft zu Boden fallen.
„Siehst du, war ja gar nicht so schwer“, sagte Tom ruhig und wischte sich das Wasser vom Gesicht.
Er gönnte Hellen ein paar Augenblicke, um wieder zu Kräften zu kommen. Dabei beobachtete er stets den Wasserstand. Sie hatten Glück, das Wasser stieg in diesem Raum nicht.
„Was machen wir jetzt?“
Obwohl sie weit entfernt davon waren, in Sicherheit zu sein, hatte Hellen das erste Erfolgserlebnis neue Kraft gegeben.
„Wir müssen die Handschellen loswerden. Dafür musst du zuerst mal den Reißverschluss von meinem Hosenstall öffnen“, sagte Tom ruhig, als ob es das Selbstverständlichste der Welt wäre.
„Ich muss was?“ Hellen glaubte, sich verhört zu haben.
„Entspann dich. Der Reißverschluss meiner Hose ist kaputt gegangen und ich habe den Schiebegriff durch eine Büroklammer ersetzt.“ Er grinste triumphierend.
„Und mit der Büroklammer können wir die Handschellen öffnen.“ Hellen jubilierte förmlich.
„Absolut korrekt. Also mach den Reißverschluss auf, du müsstest dich noch erinnern können, wie das geht.“
Hellen schüttelte den Kopf. Obwohl sie nach wie vor in Lebensgefahr schwebten, zögerte sie. Aber nur eine Sekunde lang, dann griff sie nach unten, fasste den Reißverschluss und begann damit, die Büroklammer auszufädeln. Ihre Hände zitterten.
„So nervös warst du früher nie.“
Tom konnte es sich einfach nicht verkneifen.
„Halt den Mund, du Idiot“, schimpfte Hellen und hielt ein paar Sekunden später die Büroklammer triumphierend in der Hand.
Tom nahm die Büroklammer und ein paar Minuten später hatte er die Schlösser der Handschellen geöffnet. Er steckte die Handschellen ein, man wusste nie, wofür man die noch brauchen konnte. Er blickte auf die Leuchtstöcke, die langsam an Leuchtkraft verloren. Hellen lehnte sich an die Wand und schloss für ein paar Sekunden die Augen, um neue Kraft zu tanken.
„Können wir weiter? Sonst sitzen wir gleich im Dunkeln“, sagte Tom. Hellen blickte auf die Leuchtstöcke und war sofort wieder auf den Beinen.
„Okay, was machen wir jetzt?“
„Ich habe eine schlechte Nachricht. Wo der andere Gang hinführt, weiß ich nicht. Ich bin ein paar Meter hineingeschwommen und habe dort eine Luftblase entdeckt. Bin dann aber wieder umgekehrt. Ich sah zwar von irgendwo Licht kommen, aber ob es da rausgeht, kann ich nicht sagen. Und der Gang ist bei Weitem schmäler als dieser.“
Er zeigte auf sein aufgerissenes Hosenbein und die Schürfwunden darunter.
„Du musst also achtgeben. Ich schlage vor, wir tauchen bis zu dieser Luftblase und entscheiden dort, wie es weitergeht.“
Hellen nickte. Sie vertraute zwar Tom und war ein wenig zuversichtlicher, weil bis jetzt alles glattgegangen war, aber ihre Angst war nach wie vor stark.
„Mach dir keine Sorgen, wir können immer noch hierher zurück“, versuchte Tom sie aufzumuntern.
„Du schwimmst mir nach. Ich werde mich aber immer umsehen, damit ich sehe, ob bei dir alles in Ordnung ist.“
Sie gingen die Treppen nach unten und stiegen ins Wasser. Beide atmeten tief durch und begannen wieder zu tauchen. Schnell kamen sie wieder zurück zur Wendeltreppe und schwammen nun in den Gang nach Nordwesten. Tom kam der Weg, bis der Gang enger wurde, nun bei Weitem länger vor als beim ersten Mal, vermutlich, weil sich langsam, aber sicher Erschöpfung breitmachte. Er blickte sich um und Hellen war direkt hinter ihm. Er zwängte sich durch die enge Stelle und auch Hellen war schnell hindurch. Er sah schräg über sich die spiegelnde Stelle und tauchte auf. Hellen folgte. Für zwei war es gehörig eng und sie mussten sich fest aneinanderdrücken, um in der kleinen Höhle nicht mit dem Kopf gegen die Wände zu stoßen. Hellen atmete schwer und spuckte das salzige Wasser aus, das sie beim Auftauchen abbekommen hatte. Tom konnte nicht sagen, wie lange sie das noch durchhalten würde.
„Ab hier habe ich keine Ahnung, wie es weitergeht. Ich schlage vor, ich schwimme voraus und checke die Lage. Dann komme ich wieder zurück und wir entscheiden, was wir tun.“
„Ich würde lieber gleich mit dir mitschwimmen. Hier alleine zu warten macht mir noch mehr Angst.“
Sie hasste es, vor ihm so viel Schwäche zu zeigen, aber sie konnte nun mal nicht anders. Tom gab keine Antwort. Er nahm sie fest in seine Arme und drückte sie an sich.
„Wir schaffen das“, flüsterte er ihr ins Ohr.
Auch wenn Hellen am ganzen Körper zitterte, fühlte sie sich ein paar Sekunden warm, geborgen und sicher.
„Na, dann los“, flüsterte sie zurück.
„Bist du dir sicher?“, wollte Tom noch mal wissen.
„Los, die Lichter gehen schon langsam aus. Meines ist nur noch am glimmen. Ich will hier endlich raus.“
Tom wusste nicht recht, ob das neu gefasster Mut oder die reine Verzweiflung war, aber er hatte verstanden. Sie atmeten wieder tief ein und tauchten ab. Tom schwamm voran und sah ein paar Meter vor sich den Gang wieder enger werden. Gefährlich enger, soweit er das von hier abschätzen konnte. Mit kräftigen Schwimmbewegungen schwamm er auf die Stelle zu und drückte sich zwischen den Wänden durch. Er fühlte, wie Steine gegen seine Schultern rieben und sich teilweise die Wand zu lösen begann. Hellen war dicht hinter ihm und drängte ebenfalls durch die enge Stelle. Plötzlich löste sich ein Teil der Wand und drückte Hellen gegen die gegenüberliegende Seite. Sofort übermannte sie Panik. Weitere Brocken lösten sich und Hellen lief Gefahr, unter ihnen begraben zu werden. Tom sah, wie sie entsetzt die Augen aufriss und hektisch versuchte, sich wieder loszureißen. Ihr rechtes Bein steckte fest. Verzweifelt begann sie, an ihrer Wade zu ziehen, aber ihr Bein rührte sich keinen Millimeter.
Toms Hände halfen fieberhaft mit, Hellens Bein zu befreien. Langsam, aber sicher bemerkte er den Druck in der Brust. Seine Lunge begann zu brennen. Erst jetzt wurde ihm klar, dass sie jetzt nicht mehr zur kleinen Höhle mit der Luftblase zurückkonnten. Jetzt kam auch in ihm die Angst hoch. Er wusste aber, dass Angst der sicherste Weg war, hier unten zu sterben. Er riss sich zusammen und konnte Hellens Bein befreien. Er nahm sie fest an der Hand und die beiden schwammen den Gang weiter. Toms Lungen brannten wie Feuer und er konnte sich kaum vorstellen, wie Hellen das durchhalten würde. Er spürte, wie ihr Griff in seiner Hand schwächer wurde und sie ihre Kraft dann komplett verließ. Ihre Hand glitt aus der seinen und sie trieb regungslos im Wasser.