Kapitel 23

In dieser Nacht schlief Christopher wie ein Murmeltier an Romys Seite. Nach dem Aufwachen blieben sie aneinandergekuschelt liegen und er erzählte ihr von der erfolgreichen Observierung. Obwohl er sich größte Mühe gab, konnte er seine Besorgnis nicht verbergen.

„Warum setzt ihr euch solchen Risiken aus?“ Romy betrachtete ihn aus dunklen Augen. „Wenn diese Leute so gefährlich sind, müsst ihr die Ermittlungen abbrechen und die Polizei einschalten!“

Er schüttelte den Kopf. „Das wäre zu früh. Die Beweise reichen noch nicht aus, um die Bande zu verhaften.“

Romy nahm seine Hand. „Ich habe Angst um dich! Jeden Tag mehr! Und du hast auch Angst.“ Ihr Griff wurde stärker, fast schmerzhaft. „Ruf Kommissar von Evert an. Ihr braucht Unterstützung. Bevor jemand verletzt wird. Bevor du verletzt wirst!“

Der letzte Satz versetzte ihm einen Stich. „Das geht nicht. Wir wissen nicht, wie die Leute reagieren, wenn sie sich bedroht fühlen. Falls sie auf die Idee kommen, dass die Wagners nicht mehr mitmachen, könnte es für die Familie schlimm enden. Benni wurde übel zusammengeschlagen, und das war lediglich eine Warnung.“

„Nicht mehr mitmachen“, wiederholte Romy flach. „Betrachtet ihr das als Spiel? Ein bisschen Räuber und Gendarm, und hinterher essen alle gemeinsam ein Eis?“

„Natürlich nicht! Die Situation ist todernst.“ Falsche Wortwahl. Er hätte sich ohrfeigen können.

Romy musterte ihn durchdringend. „Ich weiß, ich kann dich nicht davon abhalten, deshalb sei bitte, bitte vorsichtig!“

„Versprochen.“ Er zog sie in seine Arme. „Ich liebe dich.“

Die Antwort war ein Laut, der wie ein unterdrücktes Schluchzen klang. Ihre Umarmung wurde stärker. Schnürte ihm fast die Luft ab. Es tat weh, Romy leiden zu sehen. Und es war allein seine Schuld. Schließlich löste sie sich von ihm. Ihre Augen waren leicht gerötet.

„Frühstück im Kaffee Stark ?“, fragte sie mit einem tapferen Lächeln.

Er nickte. „Gute Idee.“ Dann nahm er ihre Hand und küsste sie sanft. Romy kuschelte sich an ihn. Doch die Atmosphäre der Besorgnis und Anspannung wollte nicht verschwinden.

Als sie endlich aufstanden, war es fast elf. Sie zogen sich an und schlenderten Hand in Hand die kurze Strecke von seiner Wohnung zur Wohlwillstraße. Das gemütliche, skurril eingerichtete Kaffee Stark war äußerst beliebt. Entsprechend geräuschvoll ging es zu. Fast alle Tische waren besetzt. Auch ihr Stammplatz, an dem sie während ihres ersten Dates gesessen hatten. Sie fanden ein wackeliges Tischchen in einer Ecke und nahmen auf zwei ungleichen Stühlen Platz. Mariana, eine der zahlreichen Bedienungen, kam vorbeigewirbelt. Sie flötete ein vergnügtes „Hello, Lovers, das Übliche?“, wartete auf Romys Nicken und wirbelte weiter.

Nach einem zweistündigen Frühstück fuhren sie für einen Spaziergang mit der S-Bahn nach Blankenese. Den Weg durchs hübsche Treppenviertel sparten sie sich. An den Wochenenden fluteten Touristenströme die engen Gassen und steilen Treppen. Es war ein einziger nerviger Slalom. Außerdem wollte er sein Knie nicht durch die vielen Stufen überfordern. Allmählich gelang es Romy und ihm, die Unterhaltung vom Morgen abzuschütteln. Die Stimmung wurde unbeschwerter. Am Elbstrand setzten sie sich an einer windgeschützten Stelle auf den kühlen Sand und genossen in Gesellschaft zahlreicher Sonnenanbeter das hagel-, graupel- und regenfreie Wetter. Gerade als ihn eine wunderbare Trägheit überkam, klingelte sein Smartphone. Tara rief an.

„Moin, Frau Oswald, wie geht’s?“ Den Arm um Romys Schultern gelegt, blickte er auf die gemächlich dahinfließende Elbe.

„Mies“, kam es dumpf zurück. „Bertie wurde von der Polizei in Gewahrsam genommen. Er hat ein umfassendes Geständnis abgelegt. Eure Theorie war richtig. Katinka Linnova hat die Schlüsselkopien für die Panzerriegel organisiert und die Beute abtransportiert. Die zweite Komplizin heißt Nadja Hellgrund und ist eine Bekannte von Katinka. Sie hat die Schlösser der Raumtüren aufgebrochen. Bertie wusste, wo sich ein Einbruch lohnt, und war für die Diebstähle selbst zuständig. Und ja, mit dieser Nadja ist was gelaufen.“

„Tut mir leid.“

„Ich weiß nicht, wie ich damit umgehen soll.“

Romy musterte ihn fragend.

„Moment, Tara.“ Er senkte das Smartphone. „Taras Kollege hat die Einbrüche gestanden“, erklärte er leise. „Sie ist ziemlich fertig.“

„Oje“, gab Romy ebenso leise zurück.

Er hob das Smartphone ans Ohr. „Bin wieder da.“

„Bertie hat auch sein Alkoholproblem zugegeben“, fuhr Tara fort. „Er trinkt seit Jahren. Nach der Scheidung ist es aus dem Ruder gelaufen. Mit den Einkünften aus den Diebstählen hat er die Trinkerei finanziert und den Unterhalt für seine Tochter gezahlt. Das wird ein Schock, falls sie jemals davon erfährt. Wie dämlich kann ein Mensch sein, alles aufs Spiel zu setzen, statt sich Hilfe zu suchen?“

„Scham und Stolz.“ Wie bei den Wagners. „Hat Bertie erzählt, was sich in den geheimnisvollen Tüten befand?“

„Schnaps. Er lagert in einigen Bunkern Vorräte. Falls er während seiner Runden eine Stärkung braucht.“

„Das ist ein Witz! Die Geschichte ist aufgeflogen, weil er seinen eigenen Alkohol eingesammelt hat und zu blöd war, es unauffällig zu tun?“

„Jep.“

„Unglaublich!“

„Was ist bloß los?“, brach es aus Tara heraus. „Jeder Zweite, den ich kenne, steht mit einem Bein im Bau, weil er irgendein illegales Ding gedreht hat!“ Ein erschrockener Laut folgte. „Damit meine ich nicht Gerry! Seine Situation ist vollkommen anders!“

„Ich weiß.“

Trotzdem lag sie richtig. Die Wagners, Bertram Markgraf, Gerrit, die vereinte Schnüfflerriege der Detektei Kleemeyer, alles mögliche Knastvögel.

„Es wäre einfach unfair“, sagte Tara leise. „Ausgerechnet jetzt.“

Er brauchte einen Moment, um der Gesprächswendung zu folgen. „Ach, Gerry kriegt garantiert die Kurve. Der hat mehr Glück als Verstand. Und er ist von Haus aus ein pfiffiges Kerlchen.“

Verhaltenes Lachen drang aus der Leitung. „Danke, das habe ich gebraucht.“

„Gern geschehen.“

„Wie läuft es bei den Wagners?“

Der nächste Sprung. Das war wie Gehirnjogging. „Die erste Lieferung hat gestern stattgefunden. Morgen besprechen wir, wie es weitergehen soll.“

„Ich möchte euch helfen. Ich weiß, Martin findet es zu riskant, aber …“ Wie aufs Stichwort schallte ein vernehmliches „Mama! Anziehen!“ aus dem Hintergrund. Tara seufzte. „Mein Haustyrann ist zum Fußballspielen verabredet. Wenn wir zu spät kommen, gibt es Schimpfe.“

„Lass dich nicht aufhalten. Und denk nicht zu viel über alles nach.“

„Ich versuche es. Bis bald.“

„Bis bald.“

Er legte auf und begegnete Romys bohrendem Blick. Ihr Beziehungsfilter hatte garantiert die allerwichtigste Information aus dem Gespräch aufgefangen.

„Ja?“, gab er sich ahnungslos.

Sie betrachtete ihn verschmitzt. „Tara und Gerry?“

„Sieht so aus.“

Ein strahlendes Lächeln erhellte ihr Gesicht. „Schön.“

„Finde ich auch.“

Und wehe dem, der versuchte, ihnen Steine in den Weg zu legen!