Kapitel 27

Die Fahrt ging zunächst nach Nordwesten. Der Verkehr floss locker und verlangte ihnen keine auffälligen Manöver ab. Als sie die Landesgrenze zu Schleswig-Holstein überquerten, aktivierte er die Kartenapp des Smartphones. Außerhalb Hamburgs kannte er sich nicht so gut aus. Kurz darauf überholte er Andi und übernahm die Führung. Sie befanden sich auf der Poppenbütteler Straße in Richtung Norden. Mr Kawasaki fuhr drei Pkw vor ihm. Souverän und stets leicht unter der erlaubten Höchstgeschwindigkeit. Ein Auge auf den Verkehr gerichtet, verschob Christopher die Karte auf dem Display des Smartphones. Sie näherten sich einem Industriegebiet. Dahinter lagen ein See und ein Gewerbegebiet. Westlich ging es nach Norderstedt-Mitte. Dort gab es im Straßengewirr zahlreiche Möglichkeiten, abgehängt zu werden. An der nächsten Kreuzung blinkte der Motorradfahrer rechts. Weiter nach Norden. Zwischen ihnen fuhren zwei andere Pkw, ein ausreichender Puffer. Sie passierten das Industriegebiet und den See. Im Gewerbegebiet bog der Mann links ab. Die beiden Pkw fuhren geradeaus weiter. Christopher ließ sich zurückfallen. Nachdem er dem Motorradfahrer beim AEZ fast auf dem Schoß gesessen hatte, wollte er dringend Abstand halten. Andi schien Gedanken lesen zu können. Er überholte und scherte vor ihm ein. Das fühlte sich gleich besser an.

Einige Minuten später tauchte vor ihnen ein Umspannwerk auf. Sie folgten dem Straßenverlauf in einer Linkskurve an den hoch aufragenden Metallkonstruktionen vorbei. Laut Karte näherten sie sich einer T-Kreuzung. Er ging vom Gas. Vor ihm leuchteten die Bremslichter von Andis schwarzem VW Golf auf.

„Links oder rechts?“, fragte Christopher.

„Geradeaus.“

„Was?“

„Direkt aufs Feld.“

Er hielt am Straßenrand und kontrollierte die Karte. Jenseits der Kreuzung lag unbebaute Fläche. Ein feiner Strich verlief nach Norden. Das konnte ein Weg sein. Er verschob die Karte. Am oberen Rand erschienen zwei Rechtecke. Links ein großes und rechts daneben ein kleines, leicht versetzt zueinander. Neben einer Markierung stand Star Power Nutrition & Supplements . Das klang nach Proteinpulver mit illegalen Extras.

„Er fährt auf zwei Lagerhallen zu“, meldete Andi prompt.

Christophers Puls beschleunigte sich. „Ich glaube, wir sind am Ziel.“

„Ich warte an der Kreuzung. Wie teilen wir uns auf?“

„Moment.“ Christopher schaltete auf die Satellitenansicht um. Die Kohtla-Järve-Straße führte rechts am Brachland vorbei. Nach gut vierhundert Metern kam eine Zufahrt zu den Lagerhallen. Zweihundert Meter weiter zweigte links eine schmale Straße ab. Die verlief oberhalb der Gebäude durch bewaldetes Gebiet. Ausreichend Abstand und natürliche Deckung für eine Observierung. Er gab die Info an Andi weiter.

„Klingt gut. Wo stellst du dich hin?“

„Kampmoorweg.“ Auf der anderen Seite des Geländes, parallel zur Kohtla-Järve-Straße. Die Satellitenaufnahme zeigte im oberen Bereich ebenfalls dichten Baumbestand.

„Ist der Weg befahrbar? Sieht auf dem Navi nicht danach aus.“

„Finde ich heraus.“

Als er die Kreuzung erreichte, war Andi bereits abgebogen. Christopher blinkte links, fuhr ein Stück in die falsche Richtung und schwenkte bei einer Tannenbaumschule rechts in den Kampmoorweg ein. Die Reifen des Volvos holperten über verwitterten, rissigen Asphalt und durch flache Schlaglöcher. Trotzdem gab Christopher Gas. Über offenes Gelände zu fahren, behagte ihm überhaupt nicht. An der Rückseite der größeren Lagerhalle stand ein heller Lieferwagen. Das deutete auf weitere Personen hin. Er erreichte die schützenden Bäume und hielt in gebührendem Abstand zum Gebäude. Ein gut zwei Meter hoher Maschendrahtzaun umgab das Gelände. Keine sichtbaren Kameras. Das Walkie-Talkie erwachte zum Leben.

„Bin in Position“, meldete sich Andi. „Ich sehe das Motorrad zwischen den Hallen. Keine Spur vom Fahrer.“

„Hinter der größeren Halle steht ein Lieferwagen. Halte nach einer zweiten Person Ausschau.“ Das kleinere Gebäude konnte er aus diesem Winkel nicht sehen.

„Ich informiere Martin.“

„Alles klar.“

Christopher senkte das Beifahrerfenster, um keine Spiegelungen auf den Fotos zu haben, nahm die Kamera und knipste los. Die Lagerhalle hatte eindeutig schon bessere Zeiten gesehen. Rostflecke bedeckten die schmutzigen Außenwände. Das Fensterband unter dem Satteldach war blind vor Dreck. Mehrere Scheiben waren von spinnennetzartigen Rissen überzogen. Ein Rolltor in der ihm zugewandten Längsseite wurde von einem umgestürzten Palettenstapel blockiert. Die gesamte Gebäudekonstruktion neigte sich leicht nach rechts, als hätte sie bei einem der vergangenen Winterstürme ordentlich eins verpasst bekommen. Zuletzt fotografierte er das Kennzeichen des Lieferwagens. Auf dem Gelände blieb es ruhig. Er senkte die Kamera und berührte auf der Straßenkarte die Markierung neben dem Firmennamen. Ein neues Fenster öffnete sich im Display. Dort gab es zusätzliche Informationen. Unter anderem einen Link, der ihn zur offiziellen Website brachte. Star Power Nutrition & Supplements war angeblich ein Lieferant für ausgewählte Nahrungsergänzungsmittel und Sportlernahrung. Die ideale Maskierung für den illegalen Handel mit Anabolika und anderen Substanzen.

„Martin und Tara sind noch auf Tour mit Denno“, meldete sich Andi. „Der Opel bleibt hartnäckig am Taxi dran.“

Christopher wollte eben antworten, als eine Tür an der Rückseite der Lagerhalle geöffnet wurde. Eine dunkel gekleidete Frau trat ins Freie. Sie trug eine Schirmmütze und eine Sonnenbrille. Über ihrer linken Schulter hing eine Laptoptasche. Er hielt bildlich fest, wie sie die Tür schloss und in den Lieferwagen stieg.

„Ich habe hier jemanden“, informierte er Andi und gab eine knappe Beschreibung durch.

Die Frau startete das Fahrzeug und lenkte es rechts um die Halle herum. „Sie fährt los.“

„Sehe ich“, erwiderte Andi. „Wollen wir ihr folgen?“

„Lass uns abwarten, was der Motorradfahrer macht.“

„Einverstanden. Am besten … Sekunde … er kommt aus dem kleineren Gebäude. Er steigt auf seine Maschine.“ Durch das offene Beifahrerfenster drang das Startgeräusch des Motors. „Der fährt gleich in deine Richtung, Topher. Was machen wir? Ich müsste erst wenden, bis dahin ist der garantiert weg.“

„Dito“, antwortete Christopher. Auf dem schmalen Weg würde es dauern, bis er den Volvo gedreht hatte. „Außerdem wird der mich bemerken, sobald ich aus der Deckung komme.“

Das Dröhnen der Kawasaki wurde lauter. Die Maschine schoss hinter der Lagerhalle hervor und sauste über den Feldweg. Am Ende bog der Fahrer links ab.

„Schöner Mist“, grummelte Andi.

Christopher betrachtete die Lagerhalle. „Hast du sonst jemanden auf dem Gelände entdeckt?“

„Nein. Aber das muss nichts heißen.“

Er konnte den Blick nicht vom Gebäude nehmen. Dort würde er die Antworten finden, die sie so dringend brauchten, um die Bande zu überführen. Dessen war er sich absolut sicher. Er rang mit sich. Wägte Risiko und Nutzen ab. Und fällte eine Entscheidung. „Ich sehe mich um“, teilte er Andi mit.

„Das ist eine ganz schlechte Idee!“

„Keine unnötigen Risiken, versprochen.“ Christopher löste seinen Gurt. „Ich drehe die Lautstärke vom Walkie-Talkie runter. Ruf mich mobil an, falls sich was tut.“

„Topher, lass das! Es ist zu gefährlich!“

„Ich mache das nicht, weil ich es lustig finde. Es wäre einfach dämlich, diese Gelegenheit verstreichen zu lassen!“

„Martin reißt uns den Kopf ab!“

„Schieb die Schuld auf mich. Ich habe deine Warnung ignoriert, und du warst zu weit weg, um mich aufzuhalten. Ist nicht einmal gelogen“, fügte Christopher gezwungen humorig hinzu. Ihm war nicht ansatzweise zum Lachen zumute.

„Sei um Himmels willen vorsichtig!“

„Bis später.“ Er drosselte die Lautstärke des Walkie-Talkies und schaltete das Smartphone stumm. Bei Anrufen und Nachrichten würde es vibrieren. Danach schloss er das Beifahrerfenster und stieg aus. Den Volvo verriegelte er. Anschließend verstaute er Walkie-Talkie und Smartphone in den Hosentaschen und joggte los. Der Maschendrahtzaun verlief einige Schritte von den schützenden Bäumen entfernt. Kniehohes Gestrüpp umwucherte das Metall. Rankende Pflanzen wanden sich durch die Maschen. Er entdeckte keine zusätzlichen Sicherheitsvorkehrungen. Kameras erregten Aufmerksamkeit. Sie deuteten darauf hin, dass es etwas zu beschützen oder zu verbergen gab. Und welcher Kriminelle wollte seine illegalen Tätigkeiten für die Nachwelt festhalten? Inzwischen befand er sich parallel zur großen Lagerhalle. Die war geschätzte fünfzig Meter lang und wohl zwanzig Meter breit. Auf Höhe des Rolltores blieb er stehen. Es wurde nicht komplett vom Palettenmikado blockiert. Rechts befand sich ein freier Bereich. Er ließ sich auf ein Knie herab und aktivierte die Kamera im Smartphone. Mit dem Zoom holte er das Tor heran. Zwischen Tor und Boden klaffte eine Lücke. Ein Zugang zur Halle! Trotz aller Anspannung erfüllte ihn Euphorie. Er rang mit der Versuchung. Dachte an sein Versprechen an Andi, vorsichtig zu sein. Dachte an Romy, die sich Sorgen um ihn machte. Aber was sollte er sonst tun? Felix von Evert alarmieren? Ohne stichhaltige Beweise? Falls die Lagerhalle entgegen seiner Vermutung leer war, hätte die Detektei nichts in den Händen und die Bande wäre gewarnt.

Er trat aus der Deckung. Stand der Zaun unter Strom? Er hielt die Handfläche dicht ans Metall. Kein Prickeln auf der Haut. Er hakte die Finger in die Maschen ein und holte sich keinen Stromschlag ab. Galt es als Hausfriedensbruch, wenn man unerlaubt auf dem Besitz von Kriminellen herumschlich? Der Gedanke kam aus dem Nichts. Christopher schnaufte. Falls das hier schiefging, wäre eine Anzeige seine geringste Sorge.

Nach einer letzten Kontrolle kletterte er über den wackeligen Zaun. Er landete unfallfrei auf der anderen Seite. Mit wild pochendem Herzen und dem gruseligen Gefühl, von verborgenen Augen beobachtet zu werden, rannte er die zwanzig, fünfundzwanzig Meter bis zur Lagerhalle. Vor dem Palettenstapel ging er in die Knie. Adrenalin und Furcht kribbelten durch seinen ganzen Körper. Die Lücke zwischen Rolltor und Boden war gerade hoch genug für ihn, aber zu schmal. Er blickte sich rasch um, konnte niemanden entdecken und rückte vorsichtig eine der verwitterten, feuchten Paletten beiseite. Jetzt sollte es reichen. Er legte sich auf den Bauch, schaltete die Kamera des Smartphones ein und hielt es in die Öffnung, um das Innere der Halle zu überprüfen. Auf dem Display erschien eine Palette mit Pappkartons. Er drehte das Gerät von einer Seite zur anderen. Paletten und Kartons. Alle in knapp einem halben Meter Abstand zur Wand aufgestapelt. Das war verflucht eng! Wenn er stecken blieb oder eine weitere Panikattacke bekam, wäre er geliefert. Bei der Erinnerung an den Lagerraum zog sich ihm die Brust zusammen. Seine Handflächen wurden feucht. Verärgerung flammte in ihm auf. Er hatte keine Zeit dafür! Je länger er hier herumlag, desto größer wurde die Gefahr, entdeckt zu werden. Reiß dich zusammen! Christopher schwenkte das Smartphone erneut. Weiter links endete der schmale Gang offenbar an einem freien Bereich. Es war alles in Ordnung, er würde nicht in einem geschlossenen Raum gefangen sein. Er steckte das Smartphone ein, sammelte sich kurz und robbte schließlich vorwärts in die Halle. Der Rand des Tores schabte über seine Schultern. Erinnerte ihn daran, wie eng die Lücke war. Er kämpfte gegen die Furcht an, eingeklemmt zu werden, beugte den Oberkörper nach links, drehte sich auf die Seite und presste sich rücklings gegen einen Karton. Zuletzt zog er die langen Beine nach. Rasch stand er auf. Die Wand aus Kartons ragte bedrohlich dicht neben ihm auf. Er wandte beklommen den Blick ab. Sein schwarzes T-Shirt und die bloßen Arme waren von Staub und Krümeln bedeckt. An der Jeans klebten feuchte Grashalme und Erde. Ohne weiter darauf zu achten, eilte er zum freien Bereich und blieb im Schutz der Kartons stehen. Hier fiel ihm das Atmen gleich wesentlich leichter. Der Abstand zum nächsten Stapel betrug drei, vier Schritte. Die Paletten standen in Dreierreihe und erreichten fast die Decke. Alle Kartons trugen den grünen Aufdruck Star Power Nutrition & Supplements . Er schrieb Andi eine Textnachricht, dass er in der Halle war. Statt der erwarteten aufgebrachten Antwort folgte Schweigen. Voller Anspannung und Nervosität traute er sich aus der Deckung. An den Längswänden der Halle wechselten sich palettierte Ware und Regale mit Verpackungsmaterialien ab, gelegentlich unterbrochen von freien Flächen. Links standen an der Stirnseite dicht nebeneinander zwei rostrote Container. Die Luft roch abgestanden. Überall lag Staub in dicken Flocken. Hier herrschte definitiv kein täglicher Betrieb. Er lauschte. Alles ruhig. Zügig ging er auf die Container zu. Hielt sich dabei dicht an den Kartons. In der gegenüberliegenden Wand befand sich ein zweites Rolltor. Im Gegensatz zum ersten war es geschlossen und nicht zugestellt. Links vom Tor lag eine weitere Tür. Rasch machte er einige Fotos von der Umgebung. Hinter ihm ertönte ein Knacken. Vor Schreck ließ er fast das Smartphone fallen. Er wirbelte herum. Niemand zu sehen. Reglos wartete er ab. Horchte angestrengt in die Stille hinein. Nichts. Spielten seine Nerven nun endgültig verrückt? Schließlich schlich er weiter, auf die beiden Container zu. Es handelte sich um Zwanzig-Fuß-Boxen, knapp sechs Meter lang und zwei Meter breit. Die waren nicht nur rostrot, sondern auch rostig; die weißen Zahlen und Buchstaben am oberen Rand nahezu verblichen. Die Türen der linken Stahlbox sicherte ein schweres Vorhängeschloss. Die der rechten waren einen Spalt weit geöffnet. Von drinnen drang Licht heraus. Christopher erstarrte. Lauschte angestrengt. Keine Geräusche. Vorsichtig trat er näher. Streckte die Hand nach der rechten Flügeltür aus. Er bereitete sich auf metallisches Quietschen vor und zog sachte am Hebel der Verriegelung. Kein Geräusch. Er öffnete die Tür und blinzelte verblüfft. Das Innere der Stahlbox war zu einer Art Lagerraum ausgebaut. An der linken Wand standen zwei Metallregale. Im vorderen stapelten sich Plastikbehältnisse unterschiedlicher Form, Farbe und Größe. Einige etikettiert, andere blank. Im hinteren Regal lagen zusammengefaltete Kartons, Rollen von Luftpolsterfolie, Plastikbeutel mit Verpackungschips, Briefumschläge, leere CD- und DVD-Hüllen. An der Stirnseite des Containers stand ein Kühlschrank. Daneben zwei graue Metallkanister. Rechts eine breite Arbeitsfläche. Darauf zwei elektronische Waagen, unterschiedliche Gefäße, ein Klebebandabroller und zahlreiche flache Kartons. Ein Klappstuhl lehnte an einem gelben Plastikfass ohne Beschriftung. Den Boden bedeckte dunkles Linoleum. Das Licht stammte von einer Glühbirne, die an einem Kabel von der Decke baumelte. Christopher schoss rasch eine Reihe von Fotos. Jede Sekunde, die er in der Halle verbrachte, war eine zu viel. Um das Fass und die Kartons zu untersuchen, musste er in den Container gehen. Die Vorstellung trieb seinen Puls schlagartig höher. Das konnte er nicht. Nicht jetzt. Wenn die Flügeltüren zufielen …

Mechanisches Rattern ließ ihn herumfahren. Zu seiner Linken wurde das Rolltor geöffnet. Furcht rauschte durch seine Adern. Verstecken! Sofort! Links konnte er zwischen den Paletten verschwinden. Es waren vielleicht sieben Meter. Rechts lag das zweite Rolltor, der Zugang, durch den er in die Halle gekommen war. Die Strecke war weiter, aber er würde es knapp schaffen. Er wollte losrennen, doch im letzten Moment fiel ihm ein, dass die Containertür offen stand. Hektisch schob er sie zu. Das Rolltor war inzwischen zur Hälfte hochgefahren. Jemand stand dicht davor. Zu spät für die schützenden Kartons. Er quetschte sich rückwärts in den freien Raum zwischen den Containern. Ein blonder Mann tauchte unter dem Rolltor hindurch. Er hielt sich ein Handy ans Ohr. War auf ein Telefonat konzentriert. Christopher wich zurück. Metall scheuerte schmerzhaft über seine Oberarme. Er drehte sich seitlich und blieb gegen die linke Stahlbox gepresst stehen. Er spürte seinen Herzschlag in der Kehle. Wagte kaum zu atmen. Die Rückseiten der Container berührten die Hallenwand. Der einzige Fluchtweg wäre nach oben. Nicht daran denken, wie eng es war! Nicht daran denken!

„Wir kümmern uns drum!“, blaffte der blonde Mann. „Was weiß ich, verdammter Scheißdreck!“ Er kam näher. Tauchte vor der Lücke zwischen den Containern auf. Sah Christopher nicht, der vor Schreck wie erstarrt war. „Das kriegen wir raus.“ Der Blonde machte sich am rechten Container zu schaffen. Metall schlug gegen Metall. Ein Quietschen von schlecht geölten Scharnieren. „Nikos ist auf dem Weg. In ein paar Minuten wissen wir mehr.“ Ein plötzlicher Schlag oder Tritt gegen den Container ließ Christopher zusammenzucken. „Ist ja gut, ich bin dran!“ Schritte entfernten sich zügig.

Er atmete keuchend aus. Sein Körper bebte vor Anspannung und Adrenalin. Schweiß hatte sich auf seinem erhitzten Gesicht gebildet. Die Gesprächsfetzen beunruhigten ihn. Irgendetwas lief nicht wie geplant. Er schob sich seitlich vorwärts. Warum hatte Andi ihn nicht vor dem Mann gewarnt? Er kontrollierte das Smartphone. Keine Textnachricht, kein verpasster Anruf. Aus der Deckung konnte er das offene Rolltor sehen. Keine Spur von dem Blonden. Christopher gab sich einen Ruck und trat aus dem Versteck hervor. Das schwere Vorhängeschloss am rechten Container war verschwunden. Die Türverriegelung stand in der geöffneten Position. Was immer sich in der Stahlbox befand, es musste wichtig sein. Er blickte zum Tor. Niemand zu sehen oder hören. Nach einem Moment des Zögerns öffnete er die rechte Flügeltür. Und erstarrte. In dem Container stand ein orangefarbener VW-Bus. Jemand hatte das Fahrzeug vorwärts hineingefahren oder geschoben. Hamburger Kennzeichen. Sven Laurentzen besaß einen VW-Bus. Ein Schauer lief ihm über den Rücken. Von einer furchtbaren Ahnung erfüllt, umfasste er den Griff am Heck. Drückte ihn probeweise herunter. Nicht verschlossen. Ein Geräusch! Hinter ihm! Christopher fuhr herum. Doch da war niemand. Reine Einbildung. Er atmete tief ein und aus. Dann zog er die Tür des Busses einen Spalt auf. Ein scharfer, chemischer Geruch stieg ihm in die Nase. Ihm wurde eiskalt. Sein Mund war plötzlich staubtrocken. Wie ferngesteuert öffnete er die Tür. Wollte nicht hinsehen und tat es doch. Auf der blanken Ladefläche lag ein menschlicher Körper. Ein Mann. Nackt. In durchsichtige Folie verpackt. Der Kopf zeigte zum Heck. Braune Haare. Dunkle Flüssigkeit bedeckte den Oberkörper. Sven Laurentzen. Es musste Sven Laurentzen sein. Die Bande hatte ihn ermordet. Absichtlich? Aus Versehen? Waren da Stichwunden in der Brust des Mannes? Plötzlich rebellierte Christophers Magen. Er würgte. Presste sich die Hand vor den Mund, um sich nicht zu übergeben. Er schlug die Hecktür zu. Erschrak über das laute Geräusch und fuhr herum. Vor dem Rolltor war niemand zu sehen. Er schob die Containertür heran und verschwand rechts zwischen den Kartonstapeln. In dem engen Gang zwischen Hallenwand und Kartons blieb er keuchend stehen. Gedankenfetzen wirbelten ihm durch den Kopf. Sven Laurentzen ermordet. Die Wagners in Gefahr. Alles viel größer. Andi! Polizei! Vor Aufregung schaffte er es nicht, das Smartphone aus der Hosentasche zu ziehen. Seine Finger wollten ihm nicht gehorchen. Er bekam das Walkie-Talkie zu fassen und rief Andi. Erhielt keine Antwort. Rief ihn erneut. Die Lautstärke stand noch auf zwei. Deshalb war nichts zu hören. Er drehte am Knopf. Versuchte es noch einmal. Keine Antwort. Er zwang sich zur Ruhe. Sammelte sich. Als seine Hände endlich weniger zitterten, zwängte er das Walkie-Talkie zurück in die Hosentasche und holte das Smartphone hervor. Er wählte Andis Nummer. Die Mailbox sprang an. Er legte auf. Wollte Martin anrufen.

„Mach das Maul auf!“ Ein gebrüllter Befehl. In der Halle! Vor Schreck entglitt ihm fast das Smartphone. „Bist du allein?“ Die Stimme des blonden Mannes. Ein dumpfes Geräusch. Gefolgt von einem unterdrückten Schmerzensschrei. Es klang, als würde jemand stolpern. Nein, das konnte nicht sein! Es durfte nicht sein! Obwohl sich alles in ihm dagegen sträubte, schlich er zurück zum freien Bereich. Er schob sich lautlos hinter den Kartons hervor, bis er freie Sicht hatte. Was er sah, erfüllte ihn mit Entsetzen. Andi kniete in der Nähe des Rolltors auf dem Boden. Er blutete aus Mund und Nase. Der linke Ärmel seines Jacketts war eingerissen, der Stoff dreckig. Vor Andi stand der blonde Mann, ein Smartphone in der Hand. „Wie lautet die PIN-Nummer?“ Als keine Antwort kam, schlug er Andi mit der flachen Hand ins Gesicht. „Wie lautet die PIN?“

Wut und Furcht rauschten durch Christopher. Er wollte losstürmen. Draußen näherte sich jemand dem Rolltor.

„Ein beschissener Privatdetektiv!“ Der Motorradfahrer marschierte in die Halle. Kochend vor Wut.

Zum ersten Mal sah Christopher sein Gesicht. Scharfe Züge, südländischer Teint. Kurze schwarze Haare. Nikos?

„Ich habe gesagt, du sollst aufpassen!“, fauchte der Blonde. „Stattdessen führst du Idiot den Typ direkt hierher!“

„Halt’s Maul!“ Der Motorradfahrer ballte die Hände zu Fäusten. „Ich habe ihn wenigstens bemerkt!“

„Super, Nikos! Echte Glanzleistung!“

Für einen Moment wirkte es, als wollten die Männer aufeinander losgehen.

„Das verdanken wir diesem aufgepumpten Gorilla“, schoss Nikos hinterher. „Der Typ ist dran! Wenn das hier erledigt ist, schnapp ich ihn mir. Danach sein verhuschtes Frauchen und diesen weinerlichen Schwächling von Sohn. Nein, erst die beiden. Und der Affe darf zusehen!“

„Vergiss es! Wir haben deinetwegen schon genug Ärger am Hals!“

Nikos’ Gesicht wurde noch eine Spur röter. Er deutete auf den Container, in dem der VW-Bus mit Sven Laurentzens Leiche stand. „Der Wichser hat versucht, uns abzuziehen! Wenn ich eines nicht ausstehen kann, ist es die Kombi von Gier und Unfähigkeit! Hey, Schnüffler!“ Nikos wandte sich Andi zu. „Wer weiß, dass du hier bist? Wer hat dich beauftragt?“ Als keine Antwort kam, schickte er Andi mit einem Tritt gegen die Schulter zu Boden. Und trat erneut zu. Diesmal in die Rippengegend. Andi schrie auf vor Schmerz und rollte sich zu einer Kugel zusammen. Christopher wollte eingreifen. Andi helfen. Doch es wäre das Dümmste, was er tun konnte. Von Mark Brenner lernte er Selbstverteidigung, keine Angriffstaktiken, um mehrere Gegner gleichzeitig auszuschalten. Bebend vor Wut und Verzweiflung schickte er eine Textnachricht an Martin.

110 sofort aufgeflogen nicht antworten gefahr

Ein schrilles Klingeln ließ ihn zusammenzucken. Nikos ging ans Handy. Hörte aufmerksam zu. Seine Miene strahlte plötzlich eisige Ruhe aus. „Wo?“ Und dann: „Welche Farbe?“

Christopher war sich sicher, dass jemand den Volvo entdeckt hatte. Ihm wurde schlecht vor Furcht.

Hinter Nikos Stirn arbeitete es. Er erinnerte sich. Knüpfte Verbindungen.

„Was ist los?“, fragte der Blonde angespannt.

Nikos ignorierte ihn. „Nein“, antwortete er seinem Gesprächspartner. „Wir kümmern uns darum.“ Danach legte er auf. Starrte ins Leere. Seine Kiefer mahlten.

„Was ist los?“, wiederholte sein Kumpan genervt.

„Auf dem Kampmoorweg steht ein verlassenes Fahrzeug. Die sind zu zweit!“

„Der Wagen könnte einem Spaziergänger gehören.“

„Tut er nicht.“

„Woher …?“

„Glaub mir einfach.“

„Sucht Carolina nach dem Fahrer?“

„Nein. Sie bringt die Laptops in Sicherheit.“

Carolina. Laptops. Die Frau im Lieferwagen. Es war eine Finte gewesen. Nikos hatte Andi entdeckt. Vielleicht beim Umspannwerk, vielleicht früher. Er hatte seine Komplizen informiert und die Show mit dem Wegfahren inszeniert. Um Andi aufzuspüren. Es gab drei Straßen, von denen das Gelände beobachtet werden konnte. Wenn man wusste, nach wem man suchte …

„Verdammter Scheißdreck“, brach es aus dem Blonden hervor. „Das hast du sauber versaut!“

Nikos funkelte ihn an und verschwand wortlos im umgebauten Lagercontainer. Im Inneren fielen Gegenstände zu Boden. Ließ er seinen Frust an der Einrichtung aus? Als Nikos zurückkam, trug er einen der grauen Metallkanister. Er öffnete den anderen Container und zog die Hecktüren des VW-Busses auf. Danach entfernte er den Deckel vom Kanister und schüttete eine klare Flüssigkeit ins Fahrzeug. Nach einem letzten Schwall schraubte er den Kanister zu, stellte ihn vor dem Blonden ab und deutete auf Andi.

„Prügle so viel wie möglich aus dem Typ heraus. Danach fackelst du hier alles ab. Ich kümmere mich ums Büro.“ Ohne auf die Antwort zu warten, verließ er die Lagerhalle.

Der Blonde fluchte. Er packte Andi am Kragen, der vor Schmerzen stöhnte, und zerrte ihn auf die Knie. „Wem gehört der andere Wagen? Deinem Kollegen?“ Schweigen. „Wer hat euch beauftragt? Wer weiß, dass ihr hier seid? Wenn du das Maul aufmachst, lassen wir dich laufen. Ich gebe dir mein Wort.“

Es war gelogen. Andi hatte zu viel gehört. Sie konnten ihn nicht am Leben lassen. Sie würden ihn ermorden. Das würde Christopher nicht zulassen! Schlagartig fiel die Furcht von ihm ab. Er machte sich bereit.

Dann ging alles blitzschnell.

Der Blonde griff in Andis Haare. Schlug ihm ins Gesicht und holte erneut aus. Christopher sprintete los. Er schaffte fast die gesamte Strecke, bevor der andere ihn bemerkte. Der Mann fuhr herum, die Augen vor Verblüffung geweitet. Christopher rammte ihn wie ein Footballspieler beim Tackle. Sie stürzten hart zu Boden. Überschlugen sich durch den Schwung. Er landete halb unter seinem Gegner. Umklammerte ihn. Der Blonde wand sich in seinem Griff. Versetzte ihm schlecht gezielte Faustschläge. Rief laut nach Nikos. Christopher zog das Knie hoch. Einmal, zweimal. Er traf seinen Gegner in der Seite, in den Unterleib. Der Blonde keuchte und gab für einen Moment den Kampf auf. Christopher stieß ihn von sich. Er kam auf die Knie und schlug seinem Gegenüber mit der Faust ins Gesicht. Er legte all seine Angst und Wut in diesen einen Schlag. Der Blonde verdrehte die Augen und brach zusammen. Um Atem ringend starrte Christopher auf den Bewusstlosen hinab. Er konnte nicht fassen, was er getan hatte. Andi lag reglos am Boden. Er streckte die Hand nach seinem Kollegen aus.

Ein Dampfhammer traf ihn in den Rücken und katapultierte ihn nach vorn. Er krachte neben dem Blonden auf den Betonboden. Bekam vor Schmerz keine Luft. Jemand packte ihn. Schleifte ihn durch die Halle. Christopher war zu benommen, um sich zu wehren. Im nächsten Moment wurde er in den Lagercontainer gestoßen. Er landete bäuchlings auf dem dunklen Linoleum. Beißender Gestank stieg ihm in die Nase. Er wollte sich hochdrücken, doch der Untergrund war glitschig, und seine Hände rutschten weg. Er landete wieder auf dem Bauch. Atmete einen Schwall Dämpfe ein und würgte. Benzin! Überall Benzin! Vor dem hinteren Regal lagen Kartons und Verpackungsmaterial. Dazwischen der zweite Metallkanister. Ohne Verschluss. Raus hier! Er musste sofort raus! In Panik wälzte er sich herum, kam auf die Knie und erstarrte. Nikos stand vor dem Container, eine Pistole auf ihn gerichtet.

Christopher hob die Hände zum Zeichen der Aufgabe. Benzin tropfte ihm von den Fingern. Sein T-Shirt und die Hose waren vorn von der Flüssigkeit durchtränkt. Die Dämpfe brannten ihm in den Augen. In der Luftröhre.

„Du hast zwei Möglichkeiten“, erklärte sein Gegenüber ruhig. „Du erzählst mir alles, was ich wissen will, und kommst lebend aus diesem Container heraus. Oder du schweigst.“ Nikos holte etwas aus der linken Tasche seiner Motorradjacke. Es war ein Feuerzeug. „In dem Fall kannst du dir aussuchen, ob du lieber verbluten oder verbrennen möchtest.“ Er blickte über die Schulter zu dem reglosen Andi. „Dein qualvoller Tod wäre bestimmt ein wirkungsvoller Anreiz für deinen Kollegen, das Maul aufzumachen.“ Nikos entzündete das Feuerzeug. Die Flamme loderte hoch auf.

„Nein!“, rief Christopher entsetzt. Er zitterte so stark, dass er kaum sprechen konnte. „Das ist nicht nötig! Bitte!“ Er zweifelte keine Sekunde daran, dass der Mann ihn töten würde. Sven Laurentzen war von ihm ermordet worden. Was sollte ihn von einem zweiten Mord abhalten?

Sein Gegenüber blies die Flamme aus. „Gehört dir der Volvo?“

Er nickte. Zwang sich, flach zu atmen. Seine Augen tränten von den Dämpfen.

Nikos lächelte grimmig. „Du hast beim Einkaufszentrum hinter mir gestanden. Ich Idiot habe es nicht geschnallt. Ich dachte, du wärst ein harmloser Typ, der seine Freundin im Shopping-Center abgeladen hat und die Ruhepause genießt. Dein Kollege war weniger subtil. Wäre der mir nicht so penetrant auf die Pelle gerückt …“ Nikos steckte das Feuerzeug wieder ein. Seine Miene verhärtete sich. „Wer weiß, dass ihr hier seid?“

„Niemand. Wir hatten keine Gelegenheit, unseren Chef zu informieren.“ Er musste raus hier! Raus aus dem Container. Aus der Enge!

„Wer hat euch beauftragt, uns zu beschatten?“

Was sollte er antworten? Christopher wollte auf keinen Fall den Verdacht des Mannes bestätigen, dass Clemens Wagner dahintersteckte. Ihm fiel nichts anderes ein. Die Angst und die Dämpfe vernebelten seine Gedanken.

„Hey“, blaffte Nikos. „Ich werde mich nicht wiederholen!“

Schieb es auf den Toten! „Sven Laurentzen“, stieß er hervor.

Sein Gegenüber starrte ihn ungläubig an. „Bullshit! Das kleine Wiesel? Nie im Leben! Es war dieser Wagner.“

„Nein. Sven …“ Eine Welle der Übelkeit erfasste Christopher. Er kämpfte gegen den Brechreiz an. Ihm wurde schwindelig. „Eure Drohungen gegen die Wagners haben ihm Angst gemacht. Sven …“ Die Welt geriet plötzlich in Schieflage. Christopher kippte seitlich gegen das vordere Regal. Alles drehte sich.

„Werd mir nicht ohnmächtig!“ Nikos hob die Pistole. Plötzlich ertönte hinter ihm ein lauter Schrei. Er fuhr herum. Etwas Klobiges traf ihn am Kopf. Ein dumpfes Geräusch. Ein Knall. Nikos stolperte zur Seite und brach zusammen. Andi stand vor dem Container. Blutüberströmt und schwankend. In den Händen hielt er den Metallkanister, aus dem Nikos zuvor Sven Laurentzen mit Benzin übergossen hatte. Christopher mobilisierte seine letzten Kräfte und kroch ins Freie. Gierig sog er die Luft ein. Hustete. Würgte. Er schaffte es auf die Beine, taumelte einige Schritte und brach dann in die Knie. Die Konturen der Regale und Kartonstapel verschwammen vor seinen Augen. Sein Gehirn schien wie in Watte gepackt. Er fühlte keine Schmerzen, obwohl alles wehtun musste. Das benzindurchtränkte T-Shirt klebte ihm am Oberkörper. Er zerrte daran. Zog es sich ungelenk über den Kopf und warf es von sich. Der Blonde lag noch immer reglos in der Nähe des Rolltores. Dem bewusstlosen Nikos rann Blut aus einer Platzwunde an der linken Schläfe. Die Pistole hatte er fallen gelassen. Andi kauerte neben dem Benzinkanister. Er atmete schwer. Hielt sich die Rippen. Das blutverschmierte Gesicht war geschwollen von den Schlägen. Sie brauchten einen Krankenwagen. Zwei Krankenwagen! Christopher versuchte, ans Smartphone zu kommen. Seine Finger verweigerten den Dienst. Schwindelgefühl und Übelkeit setzten ihm zu. Er legte sich auf den kühlen Hallenboden und schloss erschöpft die Augen. Durch den Nebel in seinem Kopf drang das Heulen von Sirenen.