Einführung:
Märkte und Moral

Manches ist für Geld nicht zu kaufen. Aber nicht mehr viel. Heutzutage steht fast alles zum Verkauf, wie die folgenden Beispiele zeigen:

Nicht jeder kann es sich leisten, dergleichen zu kaufen. Zum Glück gibt es heutzutage zugleich massenhaft neue Wege, Geld zu verdienen. Wer ein wenig Extra-Cash benötigt, kann sich hier inspirieren lassen:

Wir leben also heute in einer Zeit, in der fast alles ge- und verkauft werden kann. Im Lauf der letzten drei Jahrzehnte haben es die Märkte – und die damit verbundenen Wertvorstellungen – geschafft, unser Leben wie nie zuvor zu beherrschen. Nicht, dass wir uns bewusst dafür entschieden hätten. Es scheint einfach über uns gekommen zu sein.

Als der Kalte Krieg zu Ende ging, erfreuten sich die Märkte und das Marktdenken verständlicherweise eines hohen Ansehens. Kein anderes Organisationsprinzip hat bei der Produktion und Verteilung von Gütern ähnlich viel Überfluss und Wohlstand hervorgebracht. Doch während sich immer mehr Länder in aller Welt auf die Marktmechanismen verließen, geschah noch etwas anderes. Im Leben der Gesellschaft begannen die Wertvorstellungen des Marktes eine immer größere Rolle zu spielen. Ökonomie wurde zu einer Herrschaftswissenschaft. Inzwischen gilt die Logik des Kaufens und Verkaufens nicht mehr nur für materielle Güter – sie lenkt zunehmend das Leben insgesamt. Es wird Zeit, uns zu fragen, ob wir so wirklich leben wollen.

Der Triumph des Marktes

Die Jahre und Jahrzehnte vor der Finanzkrise von 2008 waren durch den unbedingten Glauben an die Märkte und die positiven Folgen der Deregulierung gekennzeichnet – es war eine Ära der triumphierenden Märkte. Sie begann Anfang der 80er Jahre, als Ronald Reagan und Margaret Thatcher ihre Überzeugung verkündeten, dass nicht Staaten, sondern Märkte der Schlüssel zu Wohlstand und Freiheit seien. In den 90ern setzte sich diese Ansicht mit dem Wirtschaftsliberalismus von Bill Clinton und Tony Blair fort, die den Glauben daran, dass Märkte das vorrangige Mittel zur Herstellung des Gemeinwohls seien, in moderater Form aufgriffen und konsolidierten.

Heute wird dieser Glaube in Frage gestellt. Die Ära der triumphierenden Märkte hat ein Ende gefunden. Die Finanzkrise säte nicht nur Zweifel an deren Fähigkeit, das Risiko effizient zu streuen, sondern löste bei vielen Menschen auch das Gefühl aus, dass die Märkte sich von der Moral abgekoppelt hätten und wir diese beiden Sphären irgendwie wieder miteinander verknüpfen müssten. Was das bedeuten könnte oder wie wir es zustande bringen sollten, ist allerdings unklar.

Manche halten das moralische Versagen der Märkte für die Folge von Gier, die dazu geführt habe, dass die Entscheidungsträger unverantwortliche Risiken eingingen. Dieser Ansicht nach besteht die Lösung darin, die Gier zu zügeln, auf die Integrität und die Verantwortung der Banker und Führungskräfte an der Wall Street zu bestehen und vernünftige gesetzliche Regeln einzuführen, mit denen sich verhindern ließe, dass sich eine ähnliche Krise wiederholt.

Diese Diagnose trifft bestenfalls teilweise zu. Obwohl Gier sicherlich eine Rolle in der Finanzkrise gespielt hat, geht es hier um etwas Größeres. Die schicksalhafteste Änderung der letzten drei Jahrzehnte war nicht die Zunahme der Gier. Es war die Ausdehnung der Märkte und ihrer Wertvorstellungen in Lebensbereiche, in die sie nicht gehören.

Um diesen Zustand zu ändern, müssen wir mehr tun, als gegen die Gier zu wettern; wir müssen die Rolle überdenken, die die Märkte in unserer Gesellschaft spielen sollten. Wir brauchen eine öffentliche Debatte darüber, was es heißt, die Märkte in ihre Schranken zu weisen. Und als Voraussetzung für diese Debatte müssen wir die moralischen Grenzen der Märkte durchdenken. Wir müssen uns fragen, ob es Dinge gibt, die für Geld nicht zu haben sein sollten.

Das Übergreifen von Märkten und marktorientiertem Denken auf Aspekte des Lebens, die bislang von Normen außerhalb des Marktes gesteuert wurden, ist eine der bedeutsamsten Entwicklungen unserer Zeit.

Denken Sie an die Ausbreitung von gewinnorientierten Schulen, Kliniken und Gefängnissen und an die Auslagerung von Kriegshandlungen an private Militärunternehmen. (Im Irak und in Afghanistan waren mehr Angestellte privater Sicherheits- und Militärunternehmen im Einsatz als Soldaten der US-Armee.16)

Denken Sie daran, dass öffentliche Polizeikräfte durch private Sicherheitsfirmen abgelöst werden – besonders in den USA und in England, wo es mittlerweile doppelt so viele private Sicherheitsleute wie Polizeibeamte gibt.17 Denken Sie an die aggressive Werbung für verschreibungspflichtige Medikamente. (Jemand, der in den USA die Fernsehwerbung vor den Abendnachrichten sieht, könnte glauben, das bei Weitem größte Gesundheitsproblem der Welt sei nicht die Malaria, die Onchozerkose oder die Schlafkrankheit, sondern eine grassierende Epidemie der erektilen Dysfunktion.)

Oder denken Sie an die Werbung in öffentlichen Schulen, an den Verkauf des Rechts, Parks und öffentlichen Einrichtungen »Namen zu geben«, die Vermarktung von Eiern und Sperma mit »definierten Eigenschaften«, die Auslagerung der Schwangerschaft an Ersatzmütter in Entwicklungsländern, den Handel von Unternehmen und Staaten mit Emissionsrechten oder das amerikanische System der Finanzierung von Wahlkämpfen, das beinahe den Eindruck erweckt, man könne das Wahlergebnis kaufen.

Vor dreißig Jahren waren wir noch weit davon entfernt, Gesundheit, Ausbildung, öffentliche Sicherheit, Strafvollzug, Umweltschutz, Freizeit, Fortpflanzung und andere gesellschaftliche Güter über die Märkte zuzuteilen. Heute halten wir das weitgehend für selbstverständlich.

Alles ist käuflich

Warum sollten wir uns darüber Sorgen machen, dass wir auf dem Weg in eine Gesellschaft sind, in der alles käuflich ist?

Aus zwei Gründen – einer davon hat mit Ungleichheit zu tun, der andere mit Korruption.

Zuerst die Ungleichheit: In einer Gesellschaft, in der alles käuflich ist, haben es Menschen mit bescheidenen Mitteln schwerer. Je mehr für Geld zu haben ist, desto schwerer fällt der Reichtum (oder sein Fehlen) ins Gewicht.

Bestünde der einzige Vorteil von Reichtum darin, Jachten, Sportwagen und teure Feriendomizile erstehen zu können, würden Ungleichheiten bei Einkommen und Vermögen nicht sehr viel bedeuten. Doch weil man mit Geld mittlerweile immer mehr kaufen kann – etwa politischen Einfluss, gute medizinische Versorgung, eine Wohnung in einer guten Wohngegend statt in einem Viertel mit hoher Kriminalität, Zugang zu Eliteschulen –, wird die Verteilung von Einkommen und Reichtum zu einem immer bedeutsameren Faktor. Wo alles von Wert ge- und verkauft wird, macht allein der Besitz von Geld den Unterschied aus.

Das erklärt, warum die letzten Jahrzehnte für Familien aus der Unter- oder Mittelschicht besonders schwierig gewesen sind. Nicht nur ist die Kluft zwischen Reichen und Armen größer geworden, die Kommerzialisierung aller Lebensbereiche hat auch den Stachel der Ungleichheit zugespitzt, indem sie dem Geld eine bedeutendere Rolle zugewiesen hat.

Der zweite Grund, weshalb wir zögern sollten, alles zu kommodifizieren, also zur Handelsware zu machen, ist nicht so einfach darzustellen. Es geht dabei nicht um Ungleichheit und Fairness, sondern darum, dass Märkte tendenziell zersetzend wirken. Werden die guten Dinge des Lebens mit einem Preis versehen, können sie korrumpiert werden. Das liegt daran, dass Märkte nicht nur Güter zuteilen, sondern auch bestimmte Einstellungen gegenüber den gehandelten Gütern ausdrücken und diese verstärken. Bezahlt man Kinder fürs Bücherlesen, bringt man sie vielleicht dazu, mehr zu lesen, lehrt sie aber zugleich auch, Lesen eher als Fron zu betrachten und nicht als vorbehaltlos zu genießende Quelle von Zufriedenheit. Die Versteigerung von Studienplätzen an die Meistbietenden steigert vielleicht die Einkünfte eines College, könnte aber auch seine Integrität und den Wert seiner Abschlüsse schmälern. Das Anheuern ausländischer Söldner, die unsere Kriege ausfechten, mag das Leben unserer Bürger schonen, geht aber zu Kosten der staatsbürgerlichen Verantwortung aller.

Ökonomen gehen oft davon aus, dass Märkte keinen Einfluss auf die dort gehandelten Güter hätten. Doch das ist nicht wahr. Märkte hinterlassen ihren Stempel. Manchmal verdrängen die Werte des Marktes andere Werte, die wir lieber erhalten sollten.

Selbstverständlich sind die Menschen uneins darüber, welche Werte wir schützen sollten und warum. Um also entscheiden zu können, was für Geld zu haben – und nicht zu haben – sein sollte, müssen wir darüber nachdenken, welche Werte die unterschiedlichen Bereiche des sozialen und staatsbürgerlichen Lebens beherrschen sollten. Und genau darum geht es in diesem Buch.

Hier ein Ausblick auf die Antwort, die ich anzubieten habe: Wenn wir beschließen, dass bestimmte Güter ge- und verkauft werden dürfen, entscheiden wir – zumindest implizit –, dass es in Ordnung ist, sie als Waren zu behandeln, als Werkzeuge für den Profit und den Gebrauch. Doch nicht alle Güter werden angemessen bewertet, wenn man sie als Ware betrachtet.18 Menschen zum Beispiel. Die Sklaverei war schrecklich, weil sie Menschen zu Waren degradierte, die auf Versteigerungen gehandelt wurden. Diese Menschen wurden nicht auf angemessene Art behandelt – nämlich als Personen, die Würde und Achtung verdienen –, sondern als Werkzeuge für den Profit und als Gebrauchsgegenstände.

Ähnliches gilt auch für andere Güter und Handlungsweisen. Wir erlauben nicht, dass Kinder auf dem Markt gehandelt werden. Selbst wenn die Käufer die erworbenen Kinder nicht misshandeln, wäre ein Kindermarkt Ausdruck und Förderung einer falschen Art und Weise, Kinder wertzuschätzen. Sie als Ware zu betrachten ist nicht angemessen – sie sind als Wesen zu sehen, die der Liebe und Fürsorge bedürfen. Oder nehmen wir die Rechte und Pflichten als Staatsbürger. Wer als Schöffe verpflichtet wird, darf keinen Ersatzmann anheuern, der ihn vertritt. Ebenso wenig erlauben wir es den Bürgern, bei einer Wahl ihre Stimme zu verkaufen, selbst wenn sich ein Käufer dafür finden ließe. Und warum nicht? Weil wir glauben, dass Bürgerpflichten nicht als Privateigentum betrachtet werden sollten, sondern vielmehr als Verantwortung gegenüber der Öffentlichkeit. Outsourcing degradiert sie hingegen – sie werden dadurch auf falsche Weise wertgeschätzt.

Diese Beispiele illustrieren einen umfassenderen Zusammenhang: Manche Dinge werden beschädigt oder herabgesetzt, wenn man sie in Waren verwandelt. Um also entscheiden zu können, wo der Markt hingehört und wo er auf Abstand gehalten werden sollte, müssen wir darüber nachdenken, wie wir die fraglichen Güter bewerten – Gesundheit, Ausbildung, Familienleben, Natur, Kunst, Bürgerpflichten und so weiter. Dies sind moralische und politische und nicht bloß ökonomische Fragen. Um sie lösen zu können, müssen wir von Fall zu Fall diskutieren, welche moralische Bedeutung diese Güter besitzen und wie sie angemessen zu bewerten sind.

Eine solche Debatte fand in der Ära der triumphierenden Märkte nicht statt. Das führte dazu, dass wir – ohne es recht zu bemerken und ohne es je zu beschließen – allmählich keine Marktwirtschaft mehr hatten, sondern anfingen, eine Marktgesellschaft zu sein.

Der Unterschied: Eine Marktwirtschaft ist ein Werkzeug – ein wertvolles und wirksames Werkzeug – für die Organisation produktiver Tätigkeit. Eine Marktgesellschaft jedoch ist eine Lebensweise, in der das Wertesystem des Marktes in alle Aspekte menschlicher Bemühung eingesickert ist. Sie ist ein Ort, an dem alle sozialen Beziehungen marktförmig geworden sind.

Die große Debatte, die in der heutigen Politik nicht geführt wird, geht also um die Funktion und die Reichweite der Märkte. Wollen wir eine Marktwirtschaft oder eine Marktgesellschaft? Welche Rolle sollten Märkte im öffentlichen Leben und in persönlichen Beziehungen spielen? Wie können wir entscheiden, welche Güter handelbar und welche hingegen durch Werte beherrscht sein sollten, die nicht dem Markt unterliegen? Wo sollte die Verfügungsmacht des Marktes ihre Grenzen finden?

Um diese Fragen wird es im Folgenden gehen. Da sie umstrittene Vorstellungen von einer guten Gesellschaft und einem guten Leben berühren, kann ich keine definitiven Antworten versprechen. Ich hoffe aber, wenigstens eine öffentliche Diskussion dieser Fragen anzustoßen und einen philosophischen Rahmen anzubieten, innerhalb dessen sie geklärt werden können.

Die Rolle der Märkte neu denken

Selbst wenn Sie mit mir darin übereinstimmen, dass wir uns mit den großen Fragen über die Moral von Märkten auseinandersetzen müssen, bezweifeln Sie vielleicht, dass unser öffentlicher Diskurs der Aufgabe gewachsen ist. Diese Sorge ist legitim. Jeder Versuch, die Rolle und Reichweite der Märkte zu überdenken, sollte zunächst zwei einschüchternde Hindernisse zur Kenntnis nehmen: zum einen Macht und Prestige des Marktdenkens, die auch nach dem schlimmsten Marktversagen in 80 Jahren fortbestehen; zum anderen das Ressentiment und die Inhaltsleere, die unsere öffentlichen Debatten kennzeichnen. Diese beiden Phänomene sind nicht vollkommen unabhängig voneinander.

Das erste Hindernis erscheint rätselhaft. Die Finanzkrise von 2008 wurde weithin als moralisches Urteil über die unkritische Marktvergötzung betrachtet, die quer durch das politische Spektrum drei Jahrzehnte lang vorgeherrscht hatte. Der Beinahe-Zusammenbruch einst mächtiger Finanzfirmen der Wall Street und die Notwendigkeit, sie auf Kosten des Steuerzahlers zu retten, schien ganz sicher eine Neubewertung der Märkte anzustoßen. Sogar Alan Greenspan – als Vorsitzender der Federal Reserve der USA eine Art Hohepriester des Glaubens an die Märkte – bekannte, schockiert und fassungslos zu sein, dass sein Vertrauen in die Kraft der freien Märkte zur Eigenkorrektur sich als Irrtum herausgestellt habe.19 Die durch und durch marktfreundliche britische Zeitschrift The Economist zeigte auf der Titelseite ein zu einer Pfütze zerfließendes Wirtschaftslehrbuch und darüber die Schlagzeile »What went wrong with economics?«.20

Die Ära der triumphierenden Märkte hatte ein verheerendes Ende genommen. Nun würde, so dachte mancher, ganz gewiss eine Zeit moralischer Bewertung anbrechen, eine Saison nüchternen, genaueren Nachdenkens. Doch es kam anders.

Der spektakuläre Zusammenbruch der Finanzmärkte schwächte den Glauben an die Märkte nur geringfügig. Tatsächlich diskreditierte die Finanzkrise den Staat mehr als die Banken. Laut Umfragen im Jahr 2011 gab die amerikanische Öffentlichkeit der US-Bundesregierung größere Schuld an den wirtschaftlichen Problemen des Landes als den Finanzinstituten der Wall Street – zwei von drei Befragten waren dieser Ansicht.21

Die Finanzkrise hatte die USA und einen großen Teil der Weltwirtschaft in den schlimmsten Abschwung seit der Weltwirtschaftskrise des letzten Jahrhunderts gestürzt und Millionen Menschen den Arbeitsplatz gekostet. Dennoch führte sie nicht dazu, dass wir grundsätzlich neu über die Märkte nachdachten. Ihre auffälligste politische Folge in den USA war stattdessen der Aufstieg der Tea-Party-Bewegung, deren Regierungsskepsis und Marktvertrauen selbst Ronald Reagan zum Erröten gebracht hätten. Im Herbst 2011 trug zudem die Bewegung »Occupy Wall Street« Protest in Städte der gesamten USA und rund um die Welt. Diese Demonstrationen richteten sich gegen die Macht der Großbanken und Unternehmen sowie gegen die wachsende Ungleichheit von Einkommen und Reichtum. Ungeachtet ihrer unterschiedlichen ideologischen Ausrichtung gaben sowohl die Tea-Party-Bewegung als auch Occupy Wall Street der populistischen Empörung gegen die Bankenrettung eine Stimme.22

Sieht man von diesen Protestbekundungen ab, blieben ernsthafte Debatten über Rolle und Reichweite der Märkte jedoch weitgehend aus. Demokraten wie Republikaner streiten in den USA wie üblich über Steuern, Ausgaben und Budgetdefizite, nur dass sie es jetzt mit noch größerer Parteilichkeit tun und weniger denn je dazu fähig sind, das Volk von ihrer Sache zu begeistern oder zu überzeugen. Die politische Desillusionierung hat sich vertieft, weil die Bürger sich zunehmend von einem politischen System im Stich gelassen fühlen, das nicht in der Lage ist, für das Gemeinwohl zu handeln oder die vordringlichsten Fragen der Gesellschaft anzugehen.

Dieser prekäre Zustand des öffentlichen Diskurses ist das zweite Hindernis für eine Debatte über die moralischen Grenzen von Märkten. In einer Zeit, in der politische Auseinandersetzung vor allem aus Schreiduellen im Kabelfernsehen, ätzenden Statements im Rundfunk und ideologischen Schlammschlachten auf den Gängen des Kongresses besteht, kann man sich nur schwer eine politische Debatte über so umstrittene Themen wie Fortpflanzung, Erziehung, Ausbildung, Gesundheit, Umwelt oder Bürgerpflichten vorstellen. Ich glaube aber, dass eine solche Debatte möglich ist und unser öffentliches Leben stärken würde.

Manche halten unsere Politik für übersättigt mit moralischen Überzeugungen: Zu viele Menschen glauben demnach zu tief und zu heftig an ihre eigenen Überzeugungen und wollen sie allen anderen aufzwingen. Ich meine, dass damit unsere missliche Lage falsch gedeutet wird. Das Problem unserer Politik ist nicht ein Übermaß moralischer Auseinandersetzung, sondern ein Mangel daran. Unsere Politik ist überhitzt, weil sie leerläuft – ihr fehlt es an moralischer und spiritueller Substanz. Sie schafft es nicht, sich auf die großen Fragen einzulassen, die den Menschen auf der Seele liegen.

Die moralische Entleerung der zeitgenössischen Politik hat mehrere Ursachen. Da ist zum einen der Versuch, Begriffe des guten oder richtigen Lebens aus dem öffentlichen Diskurs zu verbannen. In der Hoffnung, konfessionelle Zwistigkeiten zu vermeiden, bestehen wir häufig darauf, dass die Bürger von ihren moralischen und spirituellen Überzeugungen zu schweigen haben, wenn sie den öffentlichen Raum betreten. Doch es war genau dieses Widerstreben, Argumente über das gute Leben in die Politik einfließen zu lassen, was entgegen aller guten Absichten den Weg dafür bereitet hat, dass der Markt triumphieren und das marktkonforme Denken sich hartnäckig halten konnte.

Das marktkonforme Denken selbst lässt die moralische Auseinandersetzung auf seine eigene Weise aus dem öffentlichen Leben verschwinden. Der Reiz der Märkte besteht unter anderem darin, dass sie keine Urteile zu den von ihnen befriedigten Vorlieben abgeben. Sie fragen nicht danach, ob bestimmte Güter höher oder anders bewertet werden sollten als andere. Wenn jemand bereit ist, für Sex oder eine Niere zu bezahlen, so fragt der Ökonom nur: »Wie viel?« Märkte erheben keinen mahnenden Zeigefinger. Sie unterscheiden nicht zwischen bewundernswerten und niedrigen Vorlieben. Jeder, der einen Handel abschließt, entscheidet selbst, welchen Wert er den gehandelten Dingen beimisst.

Diese neutrale Einstellung gegenüber Werten ist der Wesenskern des marktkonformen Denkens und erklärt weitgehend, warum es so attraktiv erscheint. Doch unser Widerstreben, uns auf von Moral und Glauben geprägte Auseinandersetzungen einzulassen, hat zusammen mit unserer Übernahme der Marktideologie einen hohen Preis gefordert: Es hat dem öffentlichen Diskurs die moralische und staatsbürgerliche Energie entzogen und zu der technokratischen und verwaltungstechnischen Politik geführt, die inzwischen viele Gesellschaften plagt.

Eine Debatte über die moralischen Grenzen der Märkte würde uns die gesellschaftliche Entscheidung ermöglichen, in welchen Bereichen Märkte dem Gemeinwohl dienen und wo sie nichts zu suchen haben. Außerdem würde sie unsere Politik beleben, weil konkurrierende Begriffe des guten Lebens in der Öffentlichkeit diskutiert würden. Denn wie sonst könnten solche Auseinandersetzungen geführt werden? Wenn man der Meinung ist, dass bestimmte Güter beschädigt oder entwertet werden, wenn man sie kauft oder verkauft, dann muss man auch überzeugt sein, dass es andere, bessere Arten gibt, damit umzugehen. Es ergibt kaum einen Sinn, von einer Entwertung gewisser Tätigkeiten – etwa der Elternschaft oder der staatsbürgerlichen Pflichten – zu reden, wenn man nicht davon überzeugt ist, dass zum Beispiel die Rolle als Elternteil oder Staatsbürger besser oder schlechter erfüllt werden kann.

Noch immer entziehen sich diese Lebensbereiche weitgehend der Logik des Marktes. Eltern ist es nicht erlaubt, ihre Kinder zu verkaufen, und Staatsbürger dürfen ihre Stimme nicht veräußern. Der Grund dafür ist einfach: Wir glauben, ein Verkauf solcher Dinge bewerte sie auf falsche Weise und kultiviere schlechte Einstellungen.

Wollen wir die moralischen Grenzen von Märkten überdenken, müssen wir uns diesen Fragen stellen und gemeinsam und öffentlich darüber diskutieren, wie die von uns geschätzten sozialen Güter zu bewerten sind. Es wäre naiv, zu erwarten, dass selbst eine robust und offen geführte öffentliche Debatte zu Einigkeit bei jeder umstrittenen Frage führen würde. Sie würde aber ein gesünderes öffentliches Leben mit sich bringen. Und sie würde uns bewusst machen, welchen Preis wir dafür entrichten, dass wir in einer Gesellschaft leben, in der alles zum Verkauf steht.

Wenn wir an die Moral der Märkte denken, fallen uns zuerst die Banken der Wall Street ein mit ihren rücksichtslosen Missetaten, die Hedgefonds und Rettungsaktionen und die Reform der Börsenregeln. Doch die moralische und politische Herausforderung, vor der wir stehen, ist profaner und gleichzeitig tiefgreifender: Es geht darum, Rolle und Reichweite der Märkte in unserem sozialen Handeln, unseren zwischenmenschlichen Beziehungen und in unserem Alltagsleben zu überdenken.