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Anreize
und Belohnungen

Bargeld für die Sterilisation

Jedes Jahr werden Hunderttausende Babys von drogenabhängigen Müttern geboren. Manche dieser Babys sind von Geburt an selbst drogenabhängig, und sehr viele von ihnen werden misshandelt oder vernachlässigt. Barbara Harris, Gründerin einer in North Carolina ansässigen Hilfsorganisation namens Project Prevention, bietet eine auf der Logik des Marktes beruhende Lösung an: Drogenabhängige Frauen erhalten 300 Dollar in bar, wenn sie sich sterilisieren lassen oder langfristig Empfängnisverhütung betreiben. Seit das Programm 1997 begonnen wurde, haben mehr als 3000 Frauen das Angebot angenommen.1

Kritiker bezeichnen das Projekt als »moralisch verwerflich« und als »Bestechung«. Drogenabhängigen einen finanziellen Anreiz zu geben, damit sie ihre Fortpflanzungsfähigkeit aufgeben, laufe auf Zwang hinaus – insbesondere deshalb, weil das Programm auf anfällige Frauen in armen Wohngebieten abziele. Anstatt den Empfängern zu helfen, ihre Abhängigkeit zu überwinden, werde die Sucht subventioniert, meinen die Kritiker. Oder wie es in einem Werbe-Flugblatt für das Programm heißt: »Lass dir deine Drogensucht nicht durch eine Schwangerschaft verderben.«2

Wie Harris einräumt, verwenden ihre Klienten das Geld recht häufig dazu, sich weitere Drogen zu beschaffen. Sie ist jedoch davon überzeugt, dies sei, gemessen an ihrem Ziel – zu verhindern, dass drogenabhängige Kinder geboren werden –, nur ein kleiner Preis. Manche der Frauen, die sich für Geld sterilisieren lassen, sind schon ein Dutzend Mal oder häufiger schwanger gewesen; viele haben bereits mehrere Kinder in Pflegeeinrichtungen gegeben. Harris fragt: »Wieso soll das Recht einer Frau auf Fortpflanzung wichtiger sein als das Recht eines Kindes auf ein normales Leben?« Sie spricht aus Erfahrung: Sie und ihr Mann haben vier Kinder einer von Crack abhängigen Frau in Los Angeles adoptiert. »Ich werde alles Notwendige tun, um zu verhindern, dass Babys leiden. Ich glaube nicht, dass irgendjemand das Recht hat, einem anderen Menschen seine Sucht aufzuzwingen.«3

2010 exportierte Harris ihr Belohnungsmodell nach Großbritannien, wo die Vorstellung von Bargeld gegen Sterilisation auf heftigen Widerstand beim britischen Ärzteverband und in der Presse stieß – ein Artikel im Telegraph sprach von einem »gruseligen Vorschlag«. Harris hat die Initiative mittlerweile auf Kenia ausgedehnt, wo sie HIV-positiven Frauen 40 Dollar bezahlt, damit sie sich Spiralen einsetzen lassen. In Kenia und Südafrika (dort will Harris demnächst tätig werden) haben Vertreter von Gesundheitsbehörden und Menschenrechtsaktivisten mit Empörung und Ablehnung reagiert.4

Aus Sicht der Marktlogik ist nicht nachvollziehbar, warum das Programm für Entrüstung sorgen sollte. Auch wenn manche Kritiker vorbringen, dies erinnere sie an die Eugenik der Nazis, ist der Tausch von Bargeld gegen Sterilisation ein freiwilliges Arrangement zwischen privaten Parteien. Der Staat ist nicht eingebunden, und niemand wird gegen seinen Willen sterilisiert. Einige meinen, Drogenabhängige, die dringend Geld benötigten, seien nicht in der Lage, eine wirklich freie Entscheidung zu treffen. Wenn ihr Urteilsvermögen aber tatsächlich so stark beeinträchtigt sei, entgegnet Harris, wie kann man von ihnen dann vernünftige Entscheidungen in Sachen Schwangerschaft und Kindererziehung erwarten?5

Sieht man es als einfaches Geschäft, bringt der Deal beiden Seiten einen Gewinn und steigert den gesellschaftlichen Nutzen. Die Süchtige erhält 300 Dollar im Tausch dafür, dass sie ihre Gebärfähigkeit aufgibt. Harris und ihre Organisation erhalten für ihre 300 Dollar die Gewissheit, dass die Süchtige künftig keine drogenabhängigen Kinder mehr in die Welt setzen wird. Nach der normalen Logik des Marktes ist dieser Tausch ökonomisch effizient. Er teilt ein Gut – in diesem Fall die Kontrolle über die Fortpflanzungsfähigkeit der Süchtigen – jemandem (Harris) zu, der es so sehr schätzt, dass er bereit ist, einen hohen Geldbetrag dafür zu bezahlen.

Wieso also die ganze Aufregung? Sie beruht auf zwei Gründen, die zusammen Licht auf die moralischen Grenzen der Marktlogik werfen. Einige kritisieren die Sterilisation gegen Cash als Zwang, andere nennen sie Bestechung. Letztlich sind das zwei verschiedene Einwände. Jeder verweist auf einen anderen Grund, sich dem Zugriff des Marktes auf Bereiche zu widersetzen, in denen er nichts zu suchen hat.

Der auf Zwang abzielende Einwand ist von der Sorge getragen, dass Drogenabhängige, die sich gegen Geld sterilisieren lassen, nicht frei handeln. Zwar hält ihnen niemand ein Schießeisen an den Kopf, doch der finanzielle Anreiz könnte trotzdem unwiderstehlich sein. Angesichts ihrer Sucht und ihrer Armut erfolgt die Entscheidung, sich für 300 Dollar sterilisieren zu lassen, nicht wirklich frei. Tatsächlich könnten die Frauen aufgrund ihrer Lage unter Zwang stehen.

Natürlich gibt es unterschiedliche Ansichten, welche Anreize unter welchen Bedingungen auf Zwang hinauslaufen. Wenn wir also den moralischen Status einer beliebigen Markttransaktion einschätzen wollen, müssen wir uns vorher fragen: Unter welchen Bedingungen beruhen die Marktbeziehungen auf einer freien Entscheidung, und unter welchen Bedingungen üben sie einen gewissen Zwang aus?

Der Einwand der Bestechung ist von anderer Art. Er betrifft nicht die Bedingungen, unter denen man einen Handel abschließt, sondern die Art des gehandelten Gutes. Nehmen wir einen Standardfall für Bestechung. Wenn ein skrupelloser Typ einen Richter oder Staatsbeamten schmiert, um einen illegitimen Vorteil zu erhalten, kann die schändliche Transaktion durch und durch freiwillig erfolgen. Keine Partei wird gezwungen, und beide gewinnen dabei. Einwände gegen die Bestechung beziehen sich nicht darauf, dass sie mit Zwang einhergeht, sondern darauf, dass es sich um Korruption handelt. Die Korruption besteht darin, dass etwas gehandelt wird (etwa ein Gerichtsurteil oder politischer Einfluss), was nicht verkäuflich sein sollte.

Oft bringen wir Korruption mit ungesetzlichen Zahlungen an Behördenvertreter in Verbindung. Doch wie wir im ersten Kapitel gesehen haben, hat Korruption auch eine breitere Bedeutung: Wir korrumpieren ein Gut, eine Handlung oder eine gesellschaftliche Praxis immer dann, wenn wir sie unangemessen behandeln, also gemäß einer niedrigeren Norm, als ihr zusteht. Um ein extremes Beispiel zu nehmen: Kinder zu bekommen, um sie zu verkaufen, ist demnach als Korrumpierung der Elternschaft zu sehen, weil hier Kinder als Gebrauchsgegenstände behandelt werden und nicht als Personen. Politische Korruption kann man im gleichen Licht betrachten: Wenn ein Richter Schmiergeld annimmt und dann ein korruptes Urteil fällt, handelt er, als sei seine gesetzliche Autorität ein Werkzeug für persönlichen Profit (und missbraucht damit das Vertrauen, das in ihn als Amtsträger gesetzt wurde). Er entwertet und entwürdigt sein Amt, weil er es gemäß einer niedrigeren, unangemessenen Norm behandelt.

Dieser weiter gefasste Begriff von Korruption steht hinter dem Vorwurf, Bargeld für Sterilisation sei eine Form von Bestechung. Wer hier von Schmiergeld spricht, will darauf hinaus, dass der Handel (unabhängig davon, ob er Zwang einschließt oder nicht) verwerflich sei, weil beide Parteien – der Käufer (Harris) und der Verkäufer (die Drogenabhängige) – das gehandelte Gut (die Gebärfähigkeit der Verkäuferin) auf falsche Weise bewerten. Harris behandelt drogenabhängige und HIV-positive Frauen als beschädigte Gebärmaschinen, die gegen eine bestimmte Gebühr abgeschaltet werden können. Und wer auf das Angebot eingeht, schließt sich dieser abwertenden Sicht seiner selbst an. Hier liegt die moralische Stärke des Bestechungsvorwurfs. Wie korrupte Richter und Beamte verkaufen diejenigen, die sich sterilisieren lassen, etwas, was nicht verkäuflich sein sollte. Sie behandeln ihre Fortpflanzungsfähigkeit als Mittel für finanziellen Gewinn und nicht als Geschenk oder etwas, mit dem sie verantwortungsvoll und umsichtig umgehen sollten.

Dagegen ließe sich vorbringen, dass die Analogie falsch ist. Ein Richter, der im Tausch für ein korruptes Urteil Schmiergeld annimmt, verkauft etwas, dessen Verkauf ihm nicht zusteht – das Urteil ist ja nicht sein Eigentum. Eine Frau, die einwilligt, sich gegen Bezahlung sterilisieren zu lassen, verkauft dagegen etwas, was ihr gehört, nämlich ihre Fortpflanzungsfähigkeit. Es ist schließlich nicht an sich falsch, wenn sie beschließt, sich sterilisieren zu lassen (oder keine Kinder zu bekommen); der Richter jedoch verhält sich falsch, wenn er wider besseres Wissen ein ungerechtes Urteil spricht – selbst wenn er kein Schmiergeld dafür bekommt. Wenn eine Frau das Recht hat, ihre Fortpflanzungsfähigkeit aus ganz persönlichen Gründen aufzugeben, so muss sie nach dieser Sicht der Dinge auch das Recht haben, dies gegen Bezahlung zu machen.

Wenn wir dieses Argument akzeptieren, dann ist der Handel Bargeld gegen Sterilisation am Ende gar keine Bestechung. Um also bestimmen zu können, ob die Fortpflanzungsfähigkeit einer Frau Gegenstand einer Markttransaktion sein sollte, müssen wir fragen, um welche Art von Gut es hier geht: Sollen wir unseren Körper als persönliches Eigentum betrachten, mit dem wir nach Belieben verfahren können, oder sind manche Gebrauchsweisen schlicht entwürdigend? Diese große und umstrittene Frage spielt auch in Debatten über Prostitution, Leihmutterschaft und den Handel mit Eizellen und Spermien eine Rolle. Ehe wir entscheiden können, ob es angemessen ist, diese Bereiche über den Markt zu regeln, müssen wir herausfinden, welche Normen unser Sexualleben und unser Fortpflanzungsverhalten beherrschen sollten.

Die Ökonomie des Lebens

Die meisten Ökonomen ziehen es vor, sich nicht mit moralischen Fragen zu beschäftigen, zumindest nicht in ihrer Rolle als Ökonomen. Sie sagen, ihr Job bestehe nicht darin, das Verhalten der Menschen zu beurteilen, sondern darin, es zu erklären. Welche Normen bei dieser oder jener Tätigkeit gälten oder wie wir dieses oder jenes Gut beurteilen sollten, gehe sie nichts an.

Das Preissystem verteilt Güter gemäß den Vorlieben der Leute; es beurteilt nicht, ob diese Vorlieben wertvoll oder bewundernswert oder den Umständen angemessen sind. Doch trotz aller Vorbehalte finden sich Ökonomen zunehmend in moralische Fragen verstrickt.

Zum einen, weil die Welt sich weitergedreht hat, und zum anderen, weil die Wirtschaftswissenschaftler ihren Gegenstand mittlerweile anders definieren.

Während der letzten Jahrzehnte haben Märkte und marktkonformes Denken auf Lebensbereiche übergegriffen, die üblicherweise von marktfremden Normen beherrscht waren. Immer häufiger versehen wir heutzutage nichtökonomische Güter mit einem Preis. Die von Harris angebotenen 300 Dollar sind ein Beispiel für diesen Trend.

Gleichzeitig haben die Ökonomen ihr Fachgebiet geöffnet. In der Vergangenheit behandelten sie ausschließlich explizit wirtschaftliche Themen: Inflation und Arbeitslosigkeit, Ersparnisse und Investments, Zinssätze und Außenhandel. Sie erklärten, wie Länder reich werden und wie das Preissystem Angebot und Nachfrage bei Termingeschäften mit Schweinebäuchen und anderen Marktgütern zur Deckung bringt.

In jüngster Zeit aber haben Ökonomen sich eine ehrgeizigere Aufgabe gestellt. Was die Ökonomie biete, sagen sie, sei nicht bloß eine Sammlung von Einsichten über Produktion und Konsum materieller Güter, sondern auch eine Wissenschaft des menschlichen Verhaltens. Im Zentrum dieser Wissenschaft liege eine schlichte, aber durchschlagende Idee: Das Leben der Menschen kann in allen Lebensbereichen durch die Annahme erklärt werden, dass die Leute ihre Entscheidungen treffen, indem sie Kosten und Nutzen der verschiedenen Möglichkeiten gegeneinander abwägen und sich dann für die Handlungsoption entscheiden, die ihrer Meinung nach den größten Gewinn oder Nutzen verspricht.

Falls diese Vorstellung zutrifft, hat alles seinen Preis. Dieser Preis kann wie bei Autos, Toastern und Schweinebäuchen offen erkennbar oder nur implizit erschließbar sein, wie bei Sexualität, Ehe, Kindern, Erziehung, kriminellen Aktivitäten, Rassendiskriminierung, politischer Beteiligung, Umweltschutz oder sogar dem menschlichen Leben an sich. Ob wir uns dessen bewusst sind oder nicht, das Gesetz von Angebot und Nachfrage regelt alle Bereiche unseres Lebens.

Die einflussreichste Ausformulierung dieser Ansicht liefert Gary Becker, ein Ökonom der University of Chicago, in seinem Buch Der ökonomische Ansatz zur Erklärung menschlichen Verhaltens (1976). Er verwirft die altmodische Vorstellung, Ökonomie sei nur »durch den Bezug auf materielle Güter« definiert. Dass sich diese Ansichten so hartnäckig hielten, sei auf die »Weigerung zurückzuführen, bestimmte Formen menschlichen Verhaltens dem ›kühlen‹ Kalkül der Ökonomie zu unterwerfen«. Becker möchte uns diese Weigerung gern abgewöhnen.6

Laut Becker streben die Menschen stets danach, ihr Wohlergehen zu maximieren – und das bei ausnahmslos allen Aktivitäten. Diese Annahme, »unablässig und unbeirrt angewandt, bildet den Kern der ökonomischen Annäherung« an menschliches Verhalten. Der ökonomische Ansatz gilt uneingeschränkt für alle denkbaren Güter. Er erklärt Entscheidungen auf Leben und Tod wie auch »die Auswahl einer Kaffeemarke«. Man kann ihn auf die Wahl des Partners und auf den Kauf einer Farbdose anwenden. Becker fährt fort: »In der Tat bin ich zu der Auffassung gekommen, dass der ökonomische Ansatz so umfassend ist, dass er auf alles menschliche Verhalten anwendbar ist, sei es nun Verhalten, das monetär messbar ist oder unterstellte ›Schatten‹-Preise hat, seien es wiederkehrende oder seltene Entscheidungen, seien es wichtige oder nebensächliche Entscheidungen, emotionale oder nüchterne Ziele, reiche oder arme Menschen, Männer oder Frauen, Erwachsene oder Kinder, kluge oder dumme Menschen, Patienten oder Therapeuten, Geschäftsleute oder Politiker, Lehrer oder Schüler.«7

Becker behauptet nicht, dass Patienten und Therapeuten, Geschäftsleute und Politiker, Lehrer und Schüler ihre Entscheidungen tatsächlich so verstehen, als seien sie durch ökonomische Imperative gesteuert. Das liege aber nur daran, dass wir den Ursprüngen unserer Handlungen gegenüber oft blind seien. Der ökonomische Ansatz »unterstellt nicht, dass die Entscheidungsträger sich notwendigerweise ihrer Maximierungsbemühungen bewusst sind oder dass sie in informativer Weise Gründe für die systematischen Muster in ihrem Verhalten verbalisieren oder sonstwie darstellen können«. Doch diejenigen, die ein scharfes Auge für die in jeder menschlichen Situation enthaltenen Preissignale haben, können laut Becker erkennen, dass unser gesamtes Verhalten, auch wenn es fern aller materiellen Belange liegt, als rationale Berechnung von Kosten und Nutzen erklärt und vorhergesagt werden kann.8

Becker illustriert seine Behauptung mit einer ökonomischen Analyse von Heirat und Scheidung:

Entsprechend dem ökonomischen Ansatz heiratet ein Mensch, wenn der Nutzen, den er von einer Heirat erwartet, den Nutzen übersteigt, den er sich vom Alleinbleiben oder von weiterer Suche nach einem passenden Partner verspricht. Ebenso beendet eine verheiratete Person ihre Ehe, wenn der antizipierte Nutzen des Alleinlebens oder einer Ehe mit einem anderen Partner den Nutzenentgang übersteigt, der durch die Trennung entsteht, wobei Verluste, die durch die räumliche Trennung von den eigenen Kindern, durch die Teilung gemeinsamen Besitzes, durch Anwaltsgebühren und so fort entstehen, eingeschlossen sind. Da sehr viele Menschen nach Partnern Ausschau halten, kann man davon sprechen, dass es einen Heiratsmarkt gibt.9

Manche Leute glauben, dieser berechnende Blick unterschätze den romantischen Aspekt der Ehe. Sie meinen, Liebe, Selbstverpflichtung und Hingabe seien Ideale, die sich nicht auf monetäre Begriffe reduzieren ließen, und halten daran fest, dass eine Ehe keinen Preis habe; sie sei etwas, was für Geld nicht zu haben ist.

Für Becker ist dies ein Anfall von Sentimentalität, der das klare Denken blockiert. »Mit einem Einfallsreichtum, der Bewunderung verdiente, wenn er einem besseren Zweck dienen würde«, führen für ihn diejenigen, die sich dem ökonomischen Ansatz widersetzen, das menschliche Verhalten zurück auf »Unwissenheit oder Irrationalität, auf Werte und deren häufige, unerklärliche Veränderungen, auf Brauchtum und Tradition, wobei diese Beeinflussbarkeit irgendwie als Ausfluss sozialer Normen … angesehen wird.« Becker hat wenig Geduld mit dieser Art schlampigen Denkens. Wenn man sich zielstrebig auf die Effekte von Einkommen und Preisen konzentriere, so glaubt er, dann ergebe sich für die Sozialwissenschaft eine stabilere Grundlage.10

Ob wirklich alle menschlichen Aktivitäten als Transaktionen auf einem Markt begriffen werden können, ist zwischen Ökonomen, Politikwissenschaftlern und Rechtsgelehrten weiterhin umstritten. Auffallend ist aber, wie mächtig diese Vorstellung geworden ist – nicht nur in Akademikerkreisen, sondern auch im Alltag. Die letzten Jahrzehnte haben eine bemerkenswert weitreichende Neukonstruktion der sozialen Beziehungen nach dem Vorbild der Marktbeziehungen gesehen. Ein Maßstab dieses Wandels ist der zunehmende Einsatz monetärer Anreize zur Lösung gesellschaftlicher Probleme.

Geld für gute Schulnoten

Jemanden dafür zu bezahlen, dass er sich sterilisieren lässt, ist eines der schamloseren Beispiele. Hier ein anderes: Manche Schulbezirke in den USA versuchen inzwischen, die schulischen Leistungen zu verbessern, indem sie Kinder bezahlen, wenn sie gute Noten oder hohe Punktzahlen in genormten Tests erzielen. Die Vorstellung, dass finanzielle Anreize dazu beitragen könnten, das Lernniveau zu heben, ist in der Bewegung für eine Erziehungsreform weit verbreitet.

Ich selbst habe als Kind eine sehr gute (wenn auch von übergroßem Konkurrenzdenken geprägte) öffentliche High-school in Pacific Palisades in Kalifornien besucht. Gelegentlich hörte ich von Kindern, die von ihren Eltern für jede Eins im Zeugnis Geld bekamen. Den meisten von uns kam das einigermaßen skandalös vor. Doch niemandem wäre es auch nur im Traum eingefallen, dass die Schule selbst für gute Noten bezahlen würde. Ich erinnere mich allerdings, dass die Los Angeles Dodgers in jenen Jahren ein Förderprogramm auflegten, das den besonders guten Schülern der High School für obere Plätze auf der Rangliste Freikarten gewährte. Gegen dieses Programm hatten wir sicher nichts einzuwenden, und meine Freunde und ich besuchten einige Spiele. Doch keiner sah darin einen wirklichen Anreiz zum Lernen – es war eher ein Zeitvertreib auf Kosten anderer.

Inzwischen ist das anders. Finanzielle Anreize werden immer mehr als Schlüssel zur Verbesserung der schulischen Leistungen angesehen, besonders für Schüler in städtischen Schulen mit mäßigem Leistungsniveau.

Die Zeitschrift Time formulierte die Frage kürzlich auf ihrer Titelseite ganz unverblümt: »Sollen Schulen die Kids bestechen?«11 Manche Leute meinen, dies hänge allein davon ab, ob das Schmiergeld funktioniere.

Roland Fryer, ein Wirtschaftswissenschaftler in Harvard, versucht das herauszufinden. Der Afroamerikaner Fryer, aufgewachsen in Problemvierteln in Florida und Texas, ist überzeugt, dass finanzielle Anreize dazu beitragen können, Kinder in schwierigen Lernumgebungen zu motivieren. Ausgestattet mit Stiftungsgeldern, hat er seine Idee in einigen der größten Schulbezirke der USA überprüft. Von 2007 an zahlte sein Projekt insgesamt 6,3 Millionen Dollar an überwiegend afro- und hispanoamerikanische Probanden aus Familien mit niedrigem Einkommen aus. Dabei wurden in verschiedenen Städten jeweils unterschiedliche Anreizsysteme angewandt:12

Die Resultate waren gemischt. In New York City besserten sich die schulischen Leistungen nicht, wenn man die Kinder für gute Testergebnisse bezahlte. Das Bargeld für gute Noten in Chicago führte zu verbesserter Anwesenheit, brachte aber keine besseren Resultate bei normierten Tests. In Washington verhalf die Bezahlung manchen Schülern (Hispanoamerikanern, Knaben und Schülern mit Verhaltensproblemen) zu höheren Punktzahlen beim Lesen. Bei den Zweitklässlern in Dallas wirkte das Bargeld am besten: Die Kinder, die pro Buch zwei Dollar bekamen, erzielten am Ende des Jahres bessere Werte beim Leseverständnis.17

Fryers Projekt ist einer von mehreren Versuchen der letzten Zeit, Kinder für bessere Schulleistungen zu bezahlen. Andere Programme dieser Art bieten Geld für gutes Abschneiden bei den Prüfungen des Advanced-Placement-Programms (AP). Kurse für AP konfrontieren Schüler der Highschool mit anspruchsvollem Lehrmaterial auf College-Niveau in den Fächern Mathematik, Geschichte, Naturwissenschaften, Englisch und anderen Gebieten. 1996 startete Texas ein Anreizsystem für AP, das Schülern je nach Schule zwischen 100 und 500 Dollar anbietet, wenn sie bei AP-Examina hinreichend gut abschneiden. Auch ihre Lehrer werden belohnt – mit 100 bis 500 Dollar pro Schüler, der das Examen besteht, ergänzt durch Gehaltsboni. Das mittlerweile in 60 texanischen Highschools laufende Anreizprogramm zielt darauf ab, bei Schülern aus Minderheiten und niedrigen Einkommensgruppen die Befähigung zum Studium zu erhöhen. Mittlerweile bietet ein Dutzend Staaten finanzielle Anreize für Schüler und Lehrer bei erfolgreichem Abschneiden in den AP-Tests.18

Manche Belohnungsprogramme wenden sich eher an Lehrer als an Schüler. Obwohl Lehrerverbände den Vorschlägen, Leistung mit Geld zu belohnen, skeptisch gegenüberstehen, ist die Vorstellung, Lehrer für die Verbesserung der Leistungen ihrer Schüler zu bezahlen, bei Wählern, Politikern und manchen Schulreformern beliebt. Seit 2005 haben Schulbezirke in Denver, New York City, Washington, D. C., Guilford County, North Carolina und Houston Belohnungssysteme für Lehrer eingeführt. 2006 hat der Kongress den Teacher Incentive Fund eingerichtet, der erfolgreichen Lehrern in Schulen mit niedrigem Leistungsniveau Zuschüsse gewährt. Die Obama-Regierung erhöhte die Mittel für dieses Programm. Ein privat finanziertes Belohnungsprogramm bot Mathelehrern der Mittelstufe in Nashville kürzlich Boni von bis zu 15 000 Dollar, wenn sie die Testergebnisse ihrer Schüler verbessern konnten.19

Die durchaus erheblichen Boni in Nashville wirkten sich auf die Matheleistungen der Schüler praktisch nicht aus. Dagegen brachten die AP-Anreizsysteme in Texas und anderswo positive Folgen. Mehr Schüler (auch solche aus Minderheiten oder Schichten mit niedrigem Einkommen) wurden dazu ermutigt, die Kurse für das AP zu absolvieren. Und viele bestehen die genormten Examina, mit denen sie am College angenommen werden. Das ist eine sehr gute Nachricht. Die unter Ökonomen gängige Ansicht, wonach die Schüler umso härter arbeiten und entsprechend bessere Resultate erzielen, je mehr man ihnen zahlt, stützt sie jedoch nicht. Die Angelegenheit ist komplizierter.

Die erfolgreichen AP-Anreizprogramme bieten den Schülern und Lehrern mehr als nur Geld – sie verwandeln die Schulkultur und die Einstellung der Schüler zu ihren schulischen Leistungen. Solche Programme beinhalten spezielle Lehrerfortbildungen, Laborausrüstung sowie organisierte Nachhilfe an den Nachmittagen und an Samstagen. Eine Problemschule in Worcester, Massachusetts, erleichterte so den Zugang zu AP-Klassen für alle Schüler anstatt nur für eine vorher festgelegte Elite. Sie warb für das Programm mit Postern bekannter Rapper, wodurch es selbst »für Jungs mit tief hängenden Jeans, die Rapper wie Lil Wayne verehren, zu einer coolen Entscheidung wird, wenn sie die schwierigsten Klassen wählen«. Die 100 Dollar Belohnung für das Bestehen des AP-Tests am Jahresende hatten anscheinend eher Symbolwirkung. »Das Geld ist irgendwie cool«, erklärte ein erfolgreicher Schüler gegenüber der New York Times. »Es ist ein tolles Extra.« Die zweimal wöchentlich stattfindenden Nachhilfesitzungen sowie die im Programm vorgesehenen 18 Stunden Unterricht an Samstagen haben sicher einen guten Teil zum Erfolg des Programms beigetragen.20

Ein Ökonom, der sich das AP-Anreizprogramm in Schulen niedriger Einkommensgruppen in Texas genauer ansah, stellte etwas Interessantes fest: Mit dem Programm gelang es, die Schulleistungen zu stärken, wenn auch nicht so, wie der übliche »Preiseffekt« vorhersagen würde (je mehr man bezahlt, desto besser die Noten). Obwohl manche Schulen 100 Dollar für einen passablen Test boten und andere 500 Dollar, waren die Ergebnisse in den Schulen mit den höheren Beträgen nicht besser. Schüler und Lehrer »benahmen sich nicht einfach wie Leute, die ihr Einkommen maximieren wollen«, schrieb C. Kirabo Jackson, der Autor der Studie.21

Aber warum nicht? Das Geld sagte etwas aus – es ließ bessere Schulleistungen als »cool« erscheinen. Deshalb war die Höhe des Betrags nicht entscheidend. Und obwohl an den meisten Schulen nur für die AP-Kurse in Englisch, Mathe und Naturwissenschaften Geld geboten wurde, führte das Programm auch zu mehr Einschreibungen für andere AP-Kurse wie Geschichte und Sozialwissenschaft. Das AP-Anreizprogramm hat nicht deswegen funktioniert, weil die Schüler für Leistungen geschmiert wurden, sondern weil es die Einstellung der Schüler zu ihren Leistungen und die allgemeine Schulkultur veränderte.22

Gesund leben

Die Gesundheitsfürsorge ist ein weiteres Gebiet, auf dem finanzielle Anreize in Mode sind. Immer häufiger bezahlen Ärzte, Krankenversicherungen und Arbeitgeber die Leute dafür, dass sie sich gesund verhalten – also ihre Medikamente nehmen, mit dem Rauchen aufhören oder abnehmen. Mancher könnte meinen, die Aussicht, Leiden oder lebensbedrohliche Krankheiten zu vermeiden, sei Motivation genug. Doch überraschenderweise ist das häufig nicht der Fall. Ein Drittel bis hin zur Hälfte der Patienten beispielsweise nehmen ihre Medikamente nicht nach Vorschrift. Wenn ihr Zustand sich dadurch verschlechtert, führt das zu zusätzlichen Kosten in Milliardenhöhe. Also bieten Ärzte und Versicherer finanzielle Anreize, damit die Patienten ihre Medikamente einnehmen.23

In Philadelphia können Patienten, denen der Gerinnungshemmer Warfarin verschrieben wurde, zwischen 10 und 100 Dollar Belohnung erhalten, wenn sie das Medikament einnehmen (eine Pillenschachtel mit Chip registriert, ob sie die Arznei nehmen, und teilt den Patienten mit, ob sie etwas gewonnen haben). Die Teilnehmer des Belohnungsprogramms kommen im Schnitt auf 90 Dollar pro Monat, wenn sie sich an die Verschreibung halten. In England bezahlt man Patienten mit bipolarer Störung oder Schizophrenie 15 Pfund, wenn sie sich die monatliche Spritze mit antipsychotischen Medikamenten geben lassen. Weibliche Teenager erhalten Einkaufsgutscheine im Wert von etwa 45 Pfund, wenn sie sich gegen ein sexuell übertragbares Virus impfen lassen, das Gebärmutterhalskrebs verursachen kann.24

Rauchen belastet Unternehmen, die für die Krankenversicherung ihrer Beschäftigten aufkommen, mit erheblichen Kosten. Deshalb begann General Electric 2009, einige seiner Angestellten dafür zu bezahlen, dass sie mit dem Rauchen aufhörten. Wenn sie ein volles Jahr lang abstinent blieben, erhielten sie 750 Dollar. Die Ergebnisse waren so vielversprechend, dass GE das Angebot auf all seine Angestellten in den USA ausdehnte. Eine Drogeriekette bietet Arbeitern, die nicht rauchen und regelmäßig Gewicht, Blutdruck und Cholesterin kontrollieren, reduzierte Beiträge zur Krankenversicherung. Immer mehr Firmen arbeiten mit Zuckerbrot und Peitsche, um ihre Angestellten zu motivieren, etwas für ihre Gesundheit zu tun. 80 Prozent der großen US-Firmen bieten inzwischen finanzielle Anreize für alle, die an Wellness-Programmen teilnehmen. Und fast die Hälfte bestrafen Arbeiter für ungesunde Gewohnheiten – üblicherweise berechnen sie ihnen mehr für die Krankenversicherung.25

Gewichtsreduzierung ist das spannendste Ziel von Experimenten mit Anreizen. Allerdings ist sie auch schwer zu kontrollieren. Eine Reality-Show von NBC inszeniert den aktuellen Hype, mit dem man Leute dafür bezahlt abzuspecken. Der Teilnehmer, der während einer Saison relativ zum Ausgangsgewicht am meisten abnimmt, erhält 250 000 Dollar.26

Ärzte, Forscher und Arbeitgeber versuchen es mit bescheideneren Anreizen. In einer Studie in den USA ließen sich fettleibige Teilnehmer durch eine Belohnung von wenigen hundert Dollar dazu bewegen, in vier Monaten etwa sieben Kilo loszuwerden. (Leider erwiesen sich die Gewichtsverluste als nur vorübergehend.) In England, wo der nationale Gesundheitsdienst NHS fünf Prozent seines Budgets für die Behandlung von Folgeschäden der Fettleibigkeit ausgibt, versuchte der NHS, übergewichtigen Personen bis zu umgerechnet 425 Pfund zu bezahlen, wenn sie abnahmen und ihr Gewicht zwei Jahre lang hielten. Das Programm heißt übersetzt »Pfund gegen Pfunde«.27

Angesichts dieser Entwicklungen stellen sich zwei Fragen: Funktioniert es? Und ist etwas dagegen einzuwenden?

Aus ökonomischer Sicht geht es bei der Bezahlung für eine gesunde Lebensführung ganz einfach um Kosten und Nutzen. Es zählt allein die Frage, ob Belohnungsprogramme funktionieren. Wenn Geld die Menschen dazu bringt, ihre Medikamente zu nehmen, mit dem Rauchen aufzuhören oder ins Fitness-Studio zu gehen, und somit die Notwendigkeit teuerer Folgebehandlungen verringert – warum sollte man dagegen sein?

Und doch löst das System der finanziellen Anreize zur Förderung gesunder Lebensführung heftige Debatten aus. Ein Einwand betrifft die Fairness, der andere spricht von Bestechung. Der die Fairness betreffende Einwand wird auf beiden Seiten des politischen Spektrums geäußert, wenn auch in jeweils unterschiedlicher Weise. Manche Konservative meinen, Leute mit Übergewicht sollten aus eigenem Antrieb abnehmen; bezahle man sie dafür (insbesondere mit dem Geld der Steuerzahler), belohne man unfairerweise ihre Trägheit, das Geld sei eine »Belohnung ihrer Schwäche«. Dahinter steht die Vorstellung, dass »jeder sein Gewicht kontrollieren kann«, weshalb es ungerecht sei, diejenigen zu bezahlen, die es nicht schafften, das selbst im Griff zu haben. Das gelte insbesondere dann, wenn das Geld wie in England vom nationalen Gesundheitsdienst stamme. »Jemanden dafür zu bezahlen, dass er schlechte Gewohnheiten bleiben lässt, ist der Gipfel der staatlichen Rundumfürsorge – den Leuten wird jede Verantwortung für die eigene Gesundheit abgenommen.«28

Einige eher linke Kritiker äußern die entgegengesetzte Sorge: Finanzielle Anreize für gute (und Strafen für schlechte) Gesundheit könnten Menschen für medizinische Gegebenheiten, die sie nicht zu verantworten hätten, in unfairer Weise benachteiligen. Gestatte man Unternehmen oder Versicherern, bei der Festsetzung von Beiträgen zwischen Gesunden und Kranken zu unterscheiden, sei das ungerecht gegenüber denjenigen, die ohne eigenes Zutun weniger gesund seien und damit ein größeres Risiko darstellten. Es sei eine Sache, jemandem einen Rabatt zu gewähren, der sich im Fitness-Studio anmelde, aber etwas ganz anderes, Versicherungsprämien aufgrund gesundheitlicher Risiken festzulegen, die nur bedingt beeinflussbar seien.29

Der auf Bestechlichkeit zielende Einwand ist schwerer zu fassen. In der Presse werden finanzielle Gesundheitsanreize gewöhnlich als Bestechung bezeichnet. Aber ist das wirklich so? Im Falle der Bezahlung für eine Sterilisation trifft der Vorwurf der Bestechung eindeutig zu. Frauen erhalten Geld, wenn sie ihre Fortpflanzungsfähigkeit wegen eines ihnen äußerlichen Zieles aufgeben – es geht darum, die Zahl drogenabhängiger Babys zu verringern. Man bezahlt sie, damit sie – zumindest in vielen Fällen – gegen ihre eigenen Interessen handeln.

Von finanziellen Anreizen, die manchen Leuten helfen, mit dem Rauchen aufzuhören oder Gewicht zu verlieren, lässt sich das jedoch nicht sagen. Ungeachtet der äußeren Ziele, denen damit gedient ist (etwa der Reduktion der Gesundheitskosten für Firmen oder einen nationalen Gesundheitsdienst), fördert das Geld ein Verhalten, das der Gesundheit des Empfängers dient. Warum sollte dies Bestechung sein?30 Oder, um die Frage ein wenig abzuwandeln: Warum scheint der Vorwurf der Bestechung hier zu passen, obwohl die gesunde Lebensführung doch im Interesse der bestochenen Person liegt?

Ich meine, er ist angemessen, weil der Verdacht besteht, dass das finanzielle Motiv andere, bessere Motive verdrängt. Eine gute Gesundheit hat nicht nur damit zu tun, dass man den richtigen Cholesterinwert und passenden Body-Mass-Index erreicht. Es geht auch darum, die richtige Einstellung gegenüber unserem physischen Wohlbefinden zu entwickeln und unseren Körper mit Sorgfalt und Achtung zu behandeln. Bezahlt man die Menschen dafür, dass sie ihre Medikamente einnehmen, trägt das wenig dazu bei, eine solche Einstellung zu erwerben – es kann sie sogar untergraben.

Denn Bestechung ist manipulativ. Sie umgeht die Überzeugungsarbeit und ersetzt einen inneren Grund durch einen äußeren. »Du kümmerst dich nicht genug um das eigene Wohlbefinden und kannst deshalb das Rauchen nicht aufgeben oder dein Gewicht reduzieren? Dann mach es doch einfach deswegen, weil ich dir 750 Dollar dafür bezahle.«

Die finanziellen Anreize bringen uns durch einen Trick dazu, etwas zu tun, was wir ohnehin tun sollten. Es verleitet uns dazu, das Richtige aus den falschen Gründen zu tun. Manchmal ist es hilfreich, ausgetrickst zu werden. Es ist nicht leicht, aus eigener Kraft das Rauchen aufzugeben oder abzunehmen. Aber am Ende sollten wir uns moralisch über die Manipulation erheben. Denn sonst könnte das Bestechungsgeld Gewohnheiten entstehen lassen.

Andererseits: Wenn das System der Anreize funktioniert, mag es ziemlich abgehoben erscheinen, sich wegen der Korrumpierung guter Einstellungen Sorgen zu machen. Wenn Bargeld Fettleibigkeit kurieren kann – warum sollten wir dann daran herumnörgeln? Nun, unter anderem deswegen, weil die angemessene Sorge um unser körperliches Wohlbefinden eine Frage der Selbstachtung ist. Aber es gibt noch einen weiteren Grund, der eher praktischer Natur ist: Wenn die Einstellung nicht stimmt, dürften die Pfunde wiederkehren, sobald der finanzielle Anreiz endet.

Bei den Programmen zur Gewichtsreduzierung gegen Bargeld, die bisher untersucht worden sind, scheint das der Fall gewesen zu sein. Geld für die Raucherentwöhnung hat einen Hoffnungsschimmer erkennen lassen. Doch selbst die hoffnungsvollste Studie kam zu dem Ergebnis, dass mehr als 90 Prozent der Raucher, die gegen Geld mit dem Rauchen aufgehört hatten, sechs Monate nach dem Ende der finanziellen Anreize wieder damit angefangen haben. Ganz allgemein scheinen finanzielle Belohnungen besser geeignet, Menschen dazu zu bringen, etwas Bestimmtes zu tun – etwa einen Arzttermin wahrzunehmen oder eine Injektion über sich ergehen zu lassen; langfristige Gewohnheiten und Verhaltensweisen lassen sich damit nicht so leicht verändern.31

Bezahlt man die Leute für eine gesunde Lebensweise, kann es das Gegenteil dessen bewirken, was man eigentlich erreichen möchte, weil die Werte, die für die Erhaltung der Gesundheit wichtig sind, damit nicht kultiviert werden. Falls dies zutrifft, ist die Frage des Ökonomen (»Funktionieren finanzielle Anreize?«) enger mit der Frage des Moralisten (»Was spricht dagegen?«) verbunden, als es zunächst den Anschein hat. Ob ein Anreiz »funktioniert«, hängt von der Zielvorstellung ab – und diese sollte Werte und Einstellungen mit einschließen, die durch finanzielle Anreize untergraben werden.

Perverse Anreize

Einer meiner Freunde zahlte seinen kleinen Kindern regelmäßig einen Dollar für jedes schriftliche Dankeschön (gewöhnlich sah man es den Dankesbezeugungen auch an, dass sie nicht ganz freiwillig geschrieben worden waren). Diese Methode mag langfristig wirksam sein oder auch nicht. Es könnte sich herausstellen, dass die Kinder, wenn sie nur oft genug solche Bekundungen geschrieben haben, schließlich lernen, was es damit auf sich hat. Sie würden dann weiterhin ihre Dankbarkeit für Geschenke zum Ausdruck bringen, auch wenn sie nicht mehr dafür bezahlt würden. Es ist aber auch möglich, dass sie die falsche Lektion verinnerlichen und Dankesbezeugungen als Akkordarbeit betrachten – als eine Anstrengung, die man gegen Bezahlung ausführt. In diesem Fall bleibt die Gewohnheit nicht hängen, und sie werden keinen Dankesbrief mehr schreiben, sobald die Bezahlung aufhört. Schlimmer noch, die Bestechung könnte ihre moralische Erziehung korrumpieren und es ihnen erschweren, die Tugend der Dankbarkeit zu erlernen. Selbst wenn das Schmiergeld kurzfristig die Produktion von Dankesschreiben erhöht, wird es längerfristig kontraproduktiv sein, weil die Kinder das fragliche Gut nun auf die falsche Art bewerten.

Eine ähnliche Frage ergibt sich im Fall der Bezahlung für gute Noten: Warum sollte man ein Kind nicht dafür belohnen, wenn es gute Noten bekommt oder ein Buch liest? Schließlich soll das Kind ja dazu motiviert werden, eifrig zu lernen oder zu lesen. Die Bezahlung scheint diesem Ziel förderlich zu sein. Denn die Ökonomie lehrt, dass die Menschen auf Anreize reagieren. Und während manche Kinder aus reiner Liebe zum Lernen Bücher lesen, dürfte das bei anderen nicht zutreffen. Warum also sollte man jenen als zusätzlichen Anreiz kein Geld anbieten?

Es mag ja sein, dass zwei Anreize – das legt die ökonomische Argumentation nahe – besser funktionieren als einer. Es könnte sich aber auch herausstellen, dass der finanzielle Anreiz die intrinsische Motivation aushöhlt und dazu führt, dass weniger statt mehr gelesen wird. Oder dass er zwar kurzfristig das Lesen fördert, aber aus den falschen Gründen.

In diesem Szenario ist der Markt ein Werkzeug, wenn auch keinesfalls ein harmloses. Denn was als Marktmechanismus beginnt, tendiert dazu, zu einer aus dem Markt abgeleiteten Norm zu werden. Offensichtlich besteht durchaus die Gefahr, dass die Bezahlung Kinder dazu bringt, das Bücherlesen als eine Art des Geldverdienens anzusehen, und die Liebe zum Lesen um seiner selbst willen verwässert, verdrängt oder korrumpiert wird.

Finanzielle Anreize, die die Menschen dazu bewegen sollen, Gewicht zu verlieren, Bücher zu lesen oder sich sterilisieren zu lassen, spiegeln die Logik der ökonomischen Annäherung an das Leben, erweitern aber auch ihren Geltungsbereich. Als Gary Becker Mitte der 70er Jahre schrieb, alle unsere Tätigkeiten seien durch die Annahme zu erklären, dass wir Kosten und Nutzen kalkulieren, führte er den Begriff der »Schattenpreise« ein – jene imaginären Preise, die in den vor uns liegenden Alternativen und unseren Entscheidungen verborgen sind. Wenn beispielsweise jemand beschließt, lieber verheiratet zu bleiben, statt sich scheiden zu lassen, sind bei dieser Entscheidung keine Preisschilder zu sehen; der Betreffende sieht sich vielmehr den impliziten (finanziellen wie emotionalen) Preis einer Trennung an und beschließt, dass die Vorteile den Preis nicht wert sind.

Doch die heutzutage massenhaft aufgelegten Belohnungsprogramme reichen weiter. Sie versehen alle möglichen ehemals marktfremden Verrichtungen mit einem expliziten Preis – und holen damit Beckers Schattenpreise aus der Latenz in die Aktualität. Sie verleihen seiner Idee Wirklichkeit, dass alle menschlichen Beziehungen letztlich Marktbeziehungen seien.

Becker selbst hat in diesem Sinne einen bemerkenswerten Vorschlag gemacht – eine Marktlösung für die umstrittene Frage der Einwanderungspolitik: Die USA sollten ihr komplexes System aus Quoten, Punktesammeln, familiären Bevorzugungen und Wartelisten aufgeben und das Recht auf Einwanderung schlichtweg verkaufen. Becker regt an, den Preis für die Genehmigung auf 50 000 Dollar oder höher festzusetzen.32

Einwanderer, die bereit sind, eine hohe Eintrittsgebühr zu bezahlen, so die Überlegung Beckers, brächten automatisch alle wünschenswerten Eigenschaften mit. Sie wären wahrscheinlich jung, geschickt, ehrgeizig und zu harter Arbeit bereit. Zudem wäre es sehr unwahrscheinlich, dass sie Sozialhilfe oder Leistungen der Arbeitslosenunterstützung beanspruchten.

Als Becker 1987 erstmals anregte, das Recht auf Einwanderung zu verkaufen, hielten das viele für weit hergeholt. Doch diejenigen, die das ökonomische Denken mit der Muttermilch eingesogen hatten, hielten es für eine vernünftige und sogar auf der Hand liegende Möglichkeit, die Logik des Marktes auf eine ansonsten heikle Frage anzuwenden: Wie sollen wir entscheiden, welche Einwanderer wir aufnehmen?

Der Ökonom Julian L. Simon legte etwa zur gleichen Zeit einen ähnlichen Plan vor. Er schlug vor, eine jährliche Quote aufzunehmender Einwanderer festzulegen und die Aufnahme an die höchsten Bieter zu versteigern, bis die Quote erfüllt sei. Das Recht auf Einwanderung zu verkaufen sei laut Simon fair, »weil es gemäß der Norm einer am Markt orientierten Gesellschaft unterscheidet: der Befähigung und Bereitschaft, zu bezahlen«. Dem Einwand, sein Plan erlaube nur den Wohlhabenden, in die USA einzuwandern, begegnete Simon mit dem Vorschlag, die erfolgreichen Bieter könnten einen Teil ihres Eintrittsgeldes vom Staat borgen und später mit ihrer Einkommensteuer zurückzahlen. Falls sie den Betrag nicht tilgen könnten, merkte er an, könne man sie immer noch ausweisen.33

Die Vorstellung, das Recht auf Einwanderung zu verkaufen, empfanden manche als widerwärtig. Doch in einer zunehmend marktgläubigen Gesellschaft fand der Kern des Vorschlags von Becker/Simon bald seinen Weg in die Gesetzgebung. 1990 bestimmte der Kongress, dass Ausländer, die 500 000 Dollar in den USA investierten, mit ihren Familien für zwei Jahre einreisen durften. Wenn ihre Investition mindestens zehn Arbeitsplätze geschaffen hatte, konnten sie eine unbefristete Green Card erhalten. Die Green Card gegen Bargeld war der ultimative Weg zum Überspringen der Warteschlange – eine Überholspur zur Staatsbürgerschaft. 2011 brachten zwei Senatoren einen Gesetzentwurf ein, der einen ähnlichen finanziellen Anreiz vorsah, um den infolge der Finanzkrise immer noch schwächelnden Markt für gehobene Immobilien anzukurbeln. Jeder Ausländer, der ein Haus für 500 000 Dollar kaufte, sollte ein Visum bekommen, das es dem Käufer, seiner Ehefrau und ihren minderjährigen Kindern erlaubte, so lange in den USA zu leben, wie sie Eigentümer des Anwesens blieben. Eine Schlagzeile im Wall Street Journal brachte es auf den Punkt: »Hauskauf verschafft Visa.«34

Becker machte sogar den Vorschlag, verfolgten Flüchtlingen Geld für die Einreiseerlaubnis abzunehmen. Der freie Markt, verkündete er, werde die Entscheidung erleichtern, welche Flüchtlinge man aufnehmen wolle – nämlich diejenigen, die ausreichend motiviert seien, den Preis zu entrichten: »Politische Flüchtlinge und Menschen, die im eigenen Land verfolgt werden, wären aus naheliegenden Gründen bereit, eine ansehnliche Gebühr zu bezahlen, um in ein freies Land einreisen zu dürfen. Ein System der Eintrittsgebühren würde es also automatisch überflüssig machen, in zeitraubenden Anhörungen zu ermitteln, ob sie wirklich physischer Gefahr ausgesetzt wären, wenn man sie zur Rückkehr zwänge.«35

Den meisten dürfte es ein wenig kaltschnäuzig vorkommen, von einem politisch verfolgten Flüchtling 50 000 Dollar für die Einreise zu verlangen – als ein weiteres Beispiel für das Unvermögen der Ökonomen, zwischen der Bereitschaft und der Fähigkeit zu bezahlen zu unterscheiden. Sehen wir uns also einen anderen marktkonformen Vorschlag für die Lösung des Flüchtlingsproblems an, in dem die Flüchtlinge selbst nichts aus der eigenen Tasche bezahlen müssen. Der Rechtsprofessor Peter Schuck schlug Folgendes vor:

Ein internationales Gremium weist jedem Land eine jährliche Flüchtlingsquote zu, die auf seinem nationalen Wohlstand beruht. Und anschließend können die Länder diese Verpflichtungen untereinander handeln. Wenn also beispielsweise Japan jährlich 20 000 Flüchtlinge zugewiesen bekommt, sie aber nicht aufnehmen will, könnte es Russland oder Uganda dafür bezahlen, sie einreisen zu lassen. Nach der Logik des Marktes profitieren alle. Russland oder Uganda erhalten eine neue Quelle für Staatseinnahmen, Japan wird seinen Verpflichtungen gerecht, indem es Flüchtlinge auslagert, und es finden mehr Flüchtlinge Asyl als ohne eine entsprechende Regel.36

Ein Markt für Flüchtlinge hat jedoch etwas Widerliches an sich, selbst wenn er dazu führt, dass mehr Flüchtlinge eine Zuflucht finden. Aber warum erscheint das eigentlich so verwerflich? Dies hat mit der Tatsache zu tun, dass ein Markt für Flüchtlinge unsere Einstellung zu den Flüchtlingen verändert. Er ermutigt die Teilnehmer – Käufer, Verkäufer und auch diejenigen, deren Recht auf Asyl da verschachert wird –, Flüchtlinge als Bürde anzusehen, die man loswerden sollte oder als Einkommensquelle erschließen kann – nicht aber als Menschen in Gefahr.

Man könnte diesen erniedrigenden Effekt einräumen und dennoch zu dem Schluss kommen, dass das Verfahren mehr Gutes als Schlechtes bewirkt. Das Beispiel zeigt aber, dass Märkte keine bloßen mechanischen Apparate sind. Sie verkörpern bestimmte Normen. Sie unterstellen – und fördern – gewisse Arten, die ausgetauschten Güter zu bewerten.

Ökonomen gehen oft davon aus, dass Märkte die von ihnen gelenkten Güter unversehrt lassen. Doch das ist nicht wahr. Märkte beeinflussen die gesellschaftlichen Normen. Häufig zerfressen oder verdrängen Marktanreize andere, marktfremde Normen.

Eine Untersuchung mehrerer Kindergärten in Israel zeigt, wie das ablaufen kann. Die Einrichtungen standen vor einem bekannten Problem: Eltern holen ihre Kinder manchmal zu spät ab, und die Erzieher müssen die Kinder dann beaufsichtigen, bis die verspäteten Eltern auftauchen. Um das Problem zu lösen, legten die Kindergärten eine Geldbuße für verspätetes Abholen fest. Was glauben Sie, was geschah? Die Eltern verspäteten sich häufiger.37

Wenn man davon ausgeht, dass die Menschen auf Anreize reagieren, ist das Ergebnis rätselhaft. Es wäre zu erwarten gewesen, dass die Buße die Häufigkeit von Verspätungen verringern und nicht steigern würde. Was also war passiert? Mit der Einführung einer Strafgebühr wurden die Normen geändert. Vorher mussten verspätete Eltern ein schlechtes Gewissen haben – sie bereiteten den Erziehern ja schließlich Unannehmlichkeiten. Jetzt aber sahen die Eltern eine verspätete Abholung als Service an, für den sie bezahlen konnten. Sie betrachteten die Geldbuße als Gebühr. Anstatt dem Erzieher etwas aufzuzwingen, bezahlten sie ihn einfach für seine längere Arbeitszeit.

Geldbußen vs. Gebühren

Worin besteht der Unterschied zwischen einer Geldbuße und einer Gebühr? Es lohnt sich, über diese Unterscheidung nachzudenken. Geldbußen stehen für moralische Missbilligung, während Gebühren schlicht Preise darstellen, die kein moralisches Urteil implizieren. Wenn wir für das Wegwerfen von Abfällen ein Bußgeld festsetzen, so kennzeichnen wir diese Handlung als falsch. Wenn jemand eine Bierdose in den Grand Canyon wirft, zieht das nicht nur Entsorgungskosten nach sich, es zeigt auch eine Einstellung, die wir als Gesellschaft nicht ermutigen wollen. Nehmen wir an, die Geldbuße beträgt 100 Dollar und ein reicher Wanderer ist der Ansicht, so viel sei es ihm wert, sein Leergut nicht wieder mit hinaustragen zu müssen. Er tut so, als sei die Strafe eine Gebühr, und wirft die leeren Dosen in den Grand Canyon. Obwohl er draufzahlt, sind wir der Ansicht, er habe etwas falsch gemacht. Weil er den Grand Canyon wie eine teure Müllkippe behandelt, hat er ihn nicht in angemessener Weise bewertet.

Oder nehmen wir Behindertenparkplätze. Ein emsiger Kleinunternehmer ohne körperliche Behinderungen möchte in der Nähe seiner Baustelle parken. Für die Bequemlichkeit, den Wagen auf einem Behindertenparkplatz abzustellen, zahlt er bereitwillig eine hohe Geldbuße; für ihn sind das Betriebskosten. Glauben wir nicht, er verhalte sich falsch, auch wenn er das Bußgeld bezahlt? Er tut so, als sei die Strafe einfach eine teure Parkgebühr. Damit aber ignoriert er die moralische Dimension der Angelegenheit. Er missachtet die Bedürfnisse der Behinderten und den Wunsch der Gemeinschaft, ihnen gerecht zu werden und bestimmte Parkplätze für sie zu reservieren.

170 000 Euro für zu schnelles Fahren

Wenn die Menschen Geldbußen als Gebühren betrachten, setzen sie sich über die Normen hinweg, die sich in Bußgeldern ausdrücken. Häufig schlägt die Gesellschaft zurück. Einige reiche Autofahrer sehen Bußgelder für zu schnelles Fahren als Preis, den sie dafür bezahlen, die Geschwindigkeitsbegrenzung übertreten zu dürfen. In Finnland geht man gegen diese Haltung (und den entsprechenden Fahrstil) hart vor: Man koppelt das Bußgeld an das Einkommen des Missetäters. 2003 ging Jussi Salonoja, dem 27-jährigen Erben eines Wurstunternehmens, ein Bescheid über 170 000 Euro zu, weil er in einer 40er-Zone mit 80 Stundenkilometern gefahren war. Salonoja, einer der reichsten Männer Finnlands, hatte ein jährliches Einkommen von sieben Millionen Euro. Vorher hielt Anssi Vanjoki, eine Führungskraft von Nokia, den Rekord für das höchste Bußgeld wegen überhöhter Geschwindigkeit. 2002 hatte er 116 000 Euro zu bezahlen, weil er mit seiner Harley-Davidson zu schnell durch Helsinki gebrettert war. Ein Richter reduzierte den Betrag, als Vanjoki nachwies, dass sein Einkommen wegen eines Gewinneinbruchs bei Nokia gefallen war.38

Die finnischen Strafzettel für zu schnelles Fahren sind nicht nur deswegen eher Geldbußen als Gebühren, weil sie mit dem Einkommen variieren – hier geht es auch um die moralische Schande, die damit verbunden ist, das Urteil, dass die Übertretung der zulässigen Geschwindigkeit falsch ist. Progressive Einkommensteuern variieren ebenfalls mit dem Einkommen und sind doch keine Geldbußen; sie sollen keine Aktivitäten mit Strafe belegen, die Einkommen schaffen, sondern die Staatseinkünfte mehren. Die finnische Geldbuße über 170 000 Euro zeigt, dass die Gesellschaft damit nicht nur die Kosten für riskantes Verhalten abdecken will, sondern auch die Bestrafung mit dem Vergehen (und dem Banksaldo des Missetäters) in Einklang bringen möchte.

Auch wenn manche reichen Leute zu schnelles Fahren als Kavaliersdelikt sehen, ist die Unterscheidung zwischen einer Geldbuße und einer Gebühr nicht so leicht zu verwischen. Fast überall ist es stigmatisierend, wenn man herausgewinkt wird und eine Verwarnung wegen überhöhter Geschwindigkeit erhält. Niemand wird annehmen, der Polizeibeamte kassiere nichts weiter als eine Maut oder präsentiere dem Rechtsverletzer eine Rechnung für die Bequemlichkeit, schneller zu Hause oder im Büro zu sein.

Kürzlich fiel mir eine schräge Idee auf, die den Sachverhalt verdeutlicht, weil sie zeigt, wie eine Gebühr für Schnellfahren statt eines Bußgeldbescheids tatsächlich aussehen würde.

2010 machte Eugene DiSimone, ein unabhängiger Kandidat für das Gouverneursamt in Nevada, einen ungewöhnlichen Vorschlag zur Steigerung der staatlichen Einnahmen: Man solle den Leuten erlauben, für 25 Dollar pro Tag die ausgeschilderte Geschwindigkeitsbeschränkung zu übertreten und auf bestimmten Straßen Nevadas mit 90 Meilen pro Stunde zu fahren. Wer den Wunsch habe, nur ab und zu zu beschleunigen, könne sich einen Transponder anschaffen und per Handy sein Konto anzapfen, wann immer er schnell irgendwohin kommen möchte. Die 25 Dollar würden von der Kreditkarte abgebucht, woraufhin man berechtigt sei, die nächsten 24 Stunden schneller zu fahren, ohne aus dem Verkehr gezogen zu werden. Wenn der Polizist mit der Radarpistole merke, dass da einer den Highway hinunterbrettere, signalisiere der Transponder, dass er ein zahlender Kunde sei, und es würde kein Bußgeldbescheid ausgestellt. Nach DiSimones Schätzung hätte sein Vorschlag dem Bundesstaat mindestens 1,3 Milliarden Dollar jährlich eingebracht, ganz ohne neue Steuern. Trotz der verführerischen Profitchance für den Staatshaushalt erklärte die Nevada Highway Patrol, das Vorhaben würde die öffentliche Sicherheit beeinträchtigen – der Kandidat verlor die Wahl.39

U-Bahn-Tickets und Videos

In der Praxis verschwimmt die Unterscheidung zwischen einer Geldbuße und einer Gebühr gelegentlich. Ein Beispiel: Fährt man in Paris mit der U-Bahn, ohne die zwei Euro für ein Ticket zu bezahlen, kann man mit einer Geldbuße bis 60 Euro belegt werden. Das Bußgeld ist eine Strafe dafür, dass man ohne Fahrschein gefahren ist und so das System betrogen hat. Kürzlich hat aber eine Gruppe von regelmäßigen Schwarzfahrern eine Methode erfunden, mit der die Geldbuße in eine bescheidene Gebühr verwandelt wird. Sie richteten eine Versicherung ein, die die Kosten übernimmt, wenn jemand erwischt wird. Jedes Mitglied bezahlt monatlich etwa sieben Euro in den Topf ein (die Mutuelle des fraudeurs – Versicherung auf Gegenseitigkeit für Schwarzfahrer) – was wesentlich günstiger kommt als die 60 Euro für eine Monatskarte.

Die Mitglieder dieser Bewegung geben an, es gehe ihnen nicht ums Geld, sondern um ein ideologisches Engagement für kostenlosen öffentlichen Nahverkehr. »Es ist eine Möglichkeit des gemeinsamen Widerstands«, sagte ein Anführer der Gruppe in der Los Angeles Times. »In Frankreich gibt es Dinge, die umsonst sind – Schulen, Gesundheitsfürsorge. Warum also nicht die Verkehrsmittel?« Obwohl die Fraudeurs sich wahrscheinlich nicht durchsetzen werden, wandelt ihr neuartiges System eine Strafe für Betrug in eine monatliche Versicherungsprämie um – in einen Preis, den sie bereitwillig bezahlen, um dem System entgegenzutreten.40

Wollen wir entscheiden, ob ein Bußgeld oder eine Gebühr angemessen ist, müssen wir uns den Zweck der entsprechenden sozialen Einrichtung und die Normen vergegenwärtigen, nach denen sie funktioniert. Die Antwort wird sich von Fall zu Fall unterscheiden – je nachdem, ob wir von einer verspäteten Abholung im Kindergarten reden, vom Sprung über das Drehkreuz in der Pariser Metro oder von der Rückgabe einer überfälligen DVD im Videoverleih um die Ecke.

In der Frühzeit der Videoläden tat man so, als seien Gebühren Geldbußen. Wenn ich ein Video zu spät zurückbrachte, machte der Angestellte hinter der Theke sehr deutlich, dass ich mich moralisch falsch verhalten hatte, indem ich den Film drei Tage zu spät zurückbrachte. Ich hielt diese Einstellung für unangebracht. Ein kommerzieller Videoverleih ist schließlich keine öffentliche Bibliothek. Bibliotheken verlangen für überfällige Bücher Bußgelder und keine Gebühren. Denn ihre Aufgabe ist es, in einer Gemeinde dafür zu sorgen, dass Bücher für alle kostenlos zur Verfügung stehen. Insofern ist es richtig, wenn ich mit einem überfälligen Buch voller Schuldgefühle angeschlichen komme.

Ein Videoladen dagegen ist ein Geschäft. Sein Zweck ist es, mit der Vermietung von Filmen Geld zu verdienen. Wenn ich also das Video länger behalte und dafür mehr bezahle, sollte man mich nicht als schlechteren, sondern als besseren Kunden ansehen. So zumindest war meine damalige Überzeugung. Mittlerweile hat sich diese Norm verschoben. Inzwischen scheinen Videoläden die Kosten für überzogene Leihfristen eher als Gebühren denn als Geldbußen zu betrachten.

Die Ein-Kind-Politik in China

Oft ist der moralische Einsatz höher. Nehmen wir beispielsweise folgende Kontroverse über die manchmal unscharfe Grenze zwischen Geldbuße und Gebühr: In China wird die Geldbuße für Verstöße gegen die staatliche Ein-Kind-Politik von wohlhabenden Chinesen zunehmend als Preis für ein zweites Kind gesehen. Diese Maßnahme, vor mehr als drei Jahrzehnten zur Eindämmung des chinesischen Bevölkerungswachstums eingeführt, erlaubt den meisten Paaren in urbanen Gebieten nur ein Kind. (Familien auf dem Land dürfen ein zweites Kind bekommen, wenn das erste ein Mädchen ist.) Die Geldbuße variiert je nach Region, erreicht in großen Städten jedoch 200 000 Yuan (etwa 30 000 Euro) – für einen durchschnittlichen Arbeiter eine schwindelerregende Summe, aber problemlos für reiche Unternehmer, Sportstars und Berühmtheiten. Eine chinesische Nachrichtenagentur berichtete von einer schwangeren Frau und ihrem Ehemann in Guangzhou, die in ihre lokale Behörde für Geburtenkontrolle »stolzierten«, das Geld auf den Tisch klatschten und erklärten: »Hier sind 200 000 Yuan. Wir müssen für unser kommendes Baby sorgen. Bitte lassen Sie uns in Ruhe.«41

Die Beamten der Familienplanung haben versucht, den strafenden Aspekt der Sanktion wiederherzustellen, indem sie die Bußgelder für begüterte Regelbrecher anhoben, Berühmtheiten anprangerten, die gegen die Vorschrift verstoßen hatten, und Geschäftsleute mit überzähligen Kindern von Regierungsaufträgen ausschlossen. »Für die Reichen sind das Peanuts«, erklärte Zhai Zhenwu, ein Soziologieprofessor der Universität von Renmin. »Die Regierung müsste sie härter anfassen, da, wo es wirklich wehtut, bei ihrem Ruhm, ihrem Ansehen und ihrer Stellung in der Gesellschaft.«42

Die Behörden sehen in dem Bußgeld eine Strafe und möchten das damit verbundene Stigma aufrechterhalten. Sie wollen es nicht zur Gebühr verkommen lassen. Der Hauptgrund ist nicht so sehr die Sorge, dass begüterte Paare zu viele Kinder bekommen; die Zahl reicher Regelverletzer ist relativ klein. Ihnen geht es eher um die Norm, auf der diese Politik beruht. Wäre das Bußgeld lediglich eine Gebühr, würde der Staat das Recht auf weitere Kinder an diejenigen verkaufen, die fähig und bereit sind, dafür zu bezahlen.

Die Lizenz zum Kinderkriegen

Seltsamerweise haben einige westliche Ökonomen einen marktkonformen Ansatz für Geburtenkontrolle gefordert, der stark dem auf einer Gebühr beruhenden System ähnelt, das die chinesischen Regierungsvertreter vermeiden wollen. Diese Ökonomen haben Länder, die ihr Bevölkerungswachstum einschränken sollen, dazu gedrängt, handelbare Genehmigungen zur Fortpflanzung auszugeben. 1964 schlug Kenneth Boulding zur Kontrolle der Überbevölkerung ein System handelbarer Fortpflanzungslizenzen vor. Dabei sollte jeder Frau eine (oder je nach Regelung auch eine zweite) Bescheinigung ausgestellt werden, die ihr das Recht auf ein Kind einräumte. Von dieser Lizenz könnte sie dann Gebrauch machen oder sie zum aktuellen Preis verkaufen. Boulding stellte sich einen Markt vor, in dem Menschen mit dringendem Kinderwunsch solche Zertifikate kaufen, und zwar von (wie er etwas taktlos formulierte) »Armen, Nonnen, alten Jungfern und so weiter«.43

Diese Regelung wäre weniger restriktiv als ein System fixer Quoten wie bei der Ein-Kind-Politik. Außerdem wäre sie ökonomisch effizienter, da die Güter (in diesem Fall Kinder) denjenigen Kunden zufielen, die am bereitwilligsten dafür bezahlen würden.

Kürzlich brachten zwei belgische Ökonomen Bouldings Vorschlag erneut ins Spiel. Sie verwiesen darauf, diese Regelung hätte, weil die Reichen wahrscheinlich Fortpflanzungslizenzen von den Armen kaufen würden, den zusätzlichen Vorteil, dass die Ungleichheit verringert würde, weil die Armen eine neue Einkommensquelle erschlössen.44

Es gibt Leute, die gegen alle Beschränkungen der Fortpflanzung sind, während andere glauben, das Recht darauf könne zur Vermeidung von Überbevölkerung in legitimer Weise eingeschränkt werden. Lassen wir diese prinzipielle Uneinigkeit einmal beiseite und stellen wir uns eine Gesellschaft vor, die entschlossen ist, eine obligatorische Bevölkerungskontrolle einzuführen. Zwei Möglichkeiten kämen in Frage: ein fixes Quotensystem, das jedem Paar nur ein Kind zubilligt und Verstöße mit einem Bußgeld ahndet, und ein marktkonformes System, das jedem Paar einen handelbaren Gutschein zur Fortpflanzung ausstellt. Gegen welche Regelung hätten wir weniger einzuwenden?

Aus der Sicht der Ökonomen ist die zweite Regelung eindeutig vorzuziehen. Frei entscheiden zu können, ob man den Gutschein nutzen oder verkaufen möchte, stellt einige Menschen besser, ohne andere schlechter zu stellen. Diejenigen, die Gutscheine kaufen oder verkaufen, gewinnen etwas (sie schließen einen wechselseitig vorteilhaften Handel ab), und diejenigen, die nicht auf den Markt gehen, sind nicht schlechter dran als unter einem fixen Quotensystem – sie können immer noch ein Kind bekommen.

Dennoch hat eine Regelung, bei der Menschen mit dem Recht auf Kinder Handel treiben, etwas Beunruhigendes. Zum Teil liegt es daran, dass ein solches System unter der Bedingung der Ungleichheit unfair erscheint. Es widerstrebt uns, Kinder zum Luxusgut zu machen, das für Reiche, aber nicht für Arme erschwinglich ist. Wenn es der zentrale Aspekt des menschlichen Lebens ist, dass man Kinder bekommt, ist es unfair, den Zugang zu diesem Gut an die Fähigkeit zum Bezahlen zu knüpfen.

Infrage steht aber auch, ob es sich hierbei nicht um eine Form der Bestechung handelt. Im Kern der Markttransaktion liegt ein moralisch beunruhigendes Verhalten: Eltern, die sich ein weiteres Kind wünschen, müssen andere mögliche Eltern dazu bringen oder verlocken, ihr Recht auf ein Kind zu verkaufen. Moralisch unterscheidet sich das nicht allzusehr davon, das einzige Kind eines Paares nach der Geburt zu kaufen.

Ökonomen dürften einwenden, dass ein Markt, auf dem Kinder oder ein Anrecht auf sie gehandelt werden, den Vorzug der Effizienz besitzt: Er vergibt Kinder an diejenigen, die sie am meisten schätzen, was sich an der Zahlungsfähigkeit messen lässt. Doch der Handel mit dem Recht auf Fortpflanzung korrumpiert die Elternschaft. Die Elternliebe kreist im Wesentlichen um die Vorstellung, dass die eigenen Kinder unveräußerlich sind; es ist undenkbar, sie zum Verkauf freizugeben. Wenn also jemand ein Kind oder das Recht darauf von anderen möglichen Eltern kauft, wirft dies einen Schatten auf die Elternschaft als solche, weil man andere Paare bestechen muss, damit sie kinderlos bleiben. Man könnte sogar versucht sein, diese Tatsache vor seinen Kindern zu verbergen. Und falls dem so ist, lässt sich mit einigem Recht schließen, dass ein Markt für das Recht auf Fortpflanzung ungeachtet möglicher Vorzüge die Elternschaft auf eine Weise beschädigt, die durch eine fixe Quote – wie abstoßend man diesen Gedanken auch findet – vermieden würde.

Handelbare Verschmutzungsrechte

Die Unterscheidung zwischen einer Geldbuße und einer Gebühr ist auch relevant für die Debatte, auf welche Weise Treibhausgase und Kohlenstoffemissionen zu reduzieren sind. Sollte der Staat Grenzen für Emissionen festlegen und Unternehmen mit Bußgeldern belegen, die sie überschreiten? Oder sollte der Staat handelbare Verschmutzungsrechte einführen?

Der zweite Ansatz läuft darauf hinaus, dass die Emission von Schadstoffen nicht als Ausstoßen von Müll, sondern lediglich als Posten auf der Betriebskostenrechnung begriffen wird. Aber ist das richtig? Sollten Firmen, die die Luft exzessiv verschmutzen, nicht in gewisser Weise moralisch stigmatisiert werden? Wollen wir diese Frage entscheiden, dürfen wir nicht nur Kosten und Nutzen kalkulieren; wir müssen uns auch fragen, welche Einstellungen gegenüber der Umwelt wir fördern wollen.

Bei der Kyoto-Konferenz zur globalen Erwärmung von 1997 beharrten die USA darauf, dass alle bindenden Emissionsnormen weltweit eine Handelsregelung einschließen müssten, die es den Ländern ermöglicht, Emissionsrechte zu kaufen oder zu verkaufen. So könnten die USA beispielsweise ihre Verpflichtungen aus dem Kyoto-Protokoll erfüllen, indem sie entweder die eigenen Emissionen von Treibhausgasen reduzieren oder aber dafür bezahlen, dass die Emissionen an anderer Stelle eingespart werden. Statt Sprit saufende Autos wie den Hummer zu Hause zu besteuern, könnten die USA für die Aufforstung im Amazonas-Regenwald bezahlen oder mit dem Geld ein altes Kohlekraftwerk in einem Entwicklungsland modernisieren.

Damals schrieb ich in der New York Times einen vom Leitartikel abweichenden Kommentar, in dem ich mich gegen den Handel mit Emissionsrechten wandte. Ländern zu erlauben, das Recht auf die Verschmutzung der Luft zu kaufen, so meine Sorge, sei so ähnlich wie die Erlaubnis, gegen Bezahlung seine privaten Abfälle in die Landschaft zu werfen. Wir sollten aber das mit der Umweltverschmutzung verbundene moralische Stigma verschärfen und nicht schwächen. Außerdem äußerte ich die Befürchtung, wir würden das Bewusstsein für die im Rahmen künftiger globaler Zusammenarbeit notwendigen gemeinsamen Opfer untergraben, wenn reiche Länder sich aus der Pflicht herauskaufen könnten, die eigenen Emissionen zu vermindern.45

Die New York Times wurde mit Schmähbriefen überschwemmt – die meisten stammten von Ökonomen, darunter einige von meinen Kollegen in Harvard. Sie meinten, ich verstünde nichts von den Vorzügen der Märkte, der Effizienz des Handels oder den Grundlagen der ökonomischen Vernunft.46 Inmitten des kritischen Donnerwetters erhielt ich eine wohlwollende E-Mail von meinem alten Wirtschaftsprofessor aus dem College. Er verstünde, worauf es mir ankomme, schrieb er. Er bat mich aber auch um einen kleinen Gefallen: Ich solle doch bitte nicht öffentlich verkünden, wer mir Ökonomie beigebracht habe.

Inzwischen habe ich meine Ansichten zum Emissionshandel in gewissem Umfang revidiert, wenn auch nicht aus den doktrinären Gründen, die von den Ökonomen vorgebracht werden. Gegen die Müllentsorgung durch das Autofenster ist einiges einzuwenden – gegen die Emission von Kohlendioxid an sich dagegen nichts. Wir alle machen es mit jedem Atemzug. CO2 in die Luft abzugeben ist nicht automatisch falsch. Zu beanstanden ist allerdings, wenn das im Übermaß geschieht – als Teil eines verschwenderischen Lebensstils. Es gilt also, diesen Lebensstil zusammen mit den dahinterstehenden Einstellungen zu entmutigen und zu stigmatisieren.47

Staatliche Vorschriften sind eine Möglichkeit, die Verschmutzung zu reduzieren: Man verpflichtet Autohersteller auf niedrigere Abgasnormen, verbietet Chemiefirmen und Papiermühlen, giftige Abfälle in öffentliche Gewässer zu leiten, und schreibt Fabriken vor, ihre Schornsteine mit einer Filteranlage auszustatten. Und wenn die Unternehmen die Normen nicht einhalten, belegt man sie mit Bußgeldern. So verfuhren etwa die USA während der ersten Generation der Umweltgesetze Anfang der 70er Jahre.48 Diese Regelungen stellten eine Möglichkeit dar, Firmen für Verschmutzungen bezahlen zu lassen. Überdies enthielten sie eine moralische Botschaft: »Schande über uns, weil wir Quecksilber und Asbest in Seen und Flüsse leiten und die Luft mit erstickendem Qualm verpesten. Damit gefährden wir nicht nur unsere Gesundheit; wir dürfen die Erde insgesamt nicht so behandeln.«

Manche wandten sich gegen diese Regeln, weil ihnen alles missfiel, was der Industrie höhere Kosten auferlegte. Andere dagegen sahen den Umweltschutz positiv und suchten nach effizienteren Möglichkeiten, ihn zu verwirklichen. Als das Ansehen der Märkte in den 80er Jahren wuchs und das Denken in ökonomischen Kategorien immer mehr Rückhalt gewann, begannen einige Umweltaktivisten, marktkonforme Ansätze für die Rettung des Planeten zu favorisieren. Anstatt jeder Fabrik Emissionsnormen aufzuerlegen, könnte man, so ihre Überlegung, der Verschmutzung einen Preis zuweisen und dem Markt den Rest überlassen.49

Am einfachsten versieht man die Verschmutzung mit einem Preis, indem man sie besteuert. Eine Emissionssteuer gleicht eher einer Gebühr als einer Geldbuße. Ist sie aber groß genug, hat sie den Vorzug, dass die Verschmutzer für den angerichteten Schaden bezahlen müssen. Aus genau diesem Grund ist sie politisch so schwierig durchzusetzen. Also haben die Entscheidungsträger eine marktfreundlichere Lösung gefunden: den Emissionshandel.

1990 unterzeichnete US-Präsident George Bush ein Gesetz zur Reduktion des sauren Regens, der auf die Emission von Schwefeldioxid in Kohlekraftwerken zurückzuführen ist. Das Gesetz legte für die Kraftwerke keine Obergrenze fest, sondern gab jedem Anlagenbetreiber eine Lizenz für einen bestimmten Verschmutzungsbetrag. Die Unternehmen konnten die Lizenzen dann frei untereinander handeln. Damit konnte eine Firma entweder die eigenen Emissionen reduzieren oder zusätzliche Emissionsrechte von einer anderen Firma erwerben, die weniger ausstieß als den ihr zugeteilten Betrag.50

Die Schwefelemissionen gingen zurück, und der Emissionshandel wurde weithin als Erfolg angesehen.51 Gegen Ende der 90er Jahre richtete sich die Aufmerksamkeit dann auf die globale Erwärmung. Das Kyoto-Protokoll zum Klimawandel stellte die Länder vor die Wahl: Sie konnten die eigenen Emissionen von Treibhausgasen reduzieren oder andere dafür bezahlen, ihren Ausstoß zu verringern. Die Logik dieses Ansatzes läuft darauf hinaus, dass er die Kosten für den Umweltschutz senkt. Wenn es billiger ist, Kerosinlampen in indischen Dörfern zu ersetzen, als Emissionen in den USA zu vermindern, warum sollte man dann nicht für den Austausch der Lampen bezahlen?

Trotzdem traten die USA dem Kyoto-Protokoll nicht bei, und die folgenden Klimagipfel scheiterten. Mein Interesse gilt jedoch weniger den Vereinbarungen selbst als der Frage, wieweit sie die moralischen Kosten eines globalen Handels mit Verschmutzungsrechten illustrieren.

Der vorgeschlagene Markt für das Recht auf Fortpflanzung ist mit einem moralischen Problem belastet: Er bringt manche Paare dazu, andere zu bestechen, damit jene selbst auf ein Kind verzichten. Das höhlt die Norm der Elternliebe aus: Eltern werden dazu ermutigt, Kinder als veräußerbares Gut zu betrachten – als Handelsware. Ein globaler Markt für Verschmutzungsrechte hingegen unterliegt einem anderen moralischen Problem. Hier geht es nicht um Bestechung, sondern um das Auslagern einer Verpflichtung. Im globalen Maßstab tritt dieses Auslagern stärker in Erscheinung als in einzelnen Ländern.

Erhalten reiche Länder die Erlaubnis, relevante Einsparungen beim eigenen Energieverbrauch dadurch zu vermeiden, dass sie Verschmutzungsrechte von anderen kaufen (oder Programme finanzieren, durch die andere Länder weniger emittieren), so werden zwei Normen beeinträchtigt. Erstens verfestigt es die Einstellung, die Natur sei in technischen Kategorien zu begreifen, zweitens untergräbt es das Bewusstsein, dass gemeinsame Opfer notwendig sein könnten, um eine globale Umweltethik zu schaffen. Wenn reiche Länder sich von der Verpflichtung loskaufen können, die eigenen Kohlenstoffemissionen zu reduzieren, dann könnte das Bild des Wanderers im Grand Canyon am Ende passen. Nur dass der wohlhabende Wanderer jetzt, anstatt Bußgeld für das Wegwerfen von Abfall zu bezahlen, seine Bierdose ungestraft in der Landschaft liegen lassen kann, falls er jemanden anheuert, der im fernen Himalaya Müll aufsammelt. Sicher, die beiden Fälle sind nicht identisch. Müll ist nicht so gut verrechenbar wie Treibhausgase. Die Bierdose im Grand Canyon wird durch eine unberührte Landschaft auf der anderen Seite der Welt nicht ausgeglichen. Die globale Erwärmung dagegen ist ein kumulatives Unheil. Von außen betrachtet ist es belanglos, welche Orte auf dem Planeten weniger Kohlenstoff in die Luft blasen. Aber moralisch und politisch spielt es sehr wohl eine Rolle. Wenn es reichen Ländern gestattet ist, ihre verschwenderischen Gewohnheiten gegen eine Gebühr beizubehalten, verstärkt das eine schädliche Einstellung: Die Natur wird als Müllkippe für diejenigen betrachtet, die es sich leisten können. Ökonomen gehen oft davon aus, das Problem der globalen Erwärmung sei einfach dadurch zu lösen, dass man die richtigen Anreize formuliert und die Länder dazu bringt, sich entsprechend zu verpflichten. Doch damit wird ein entscheidender Punkt verfehlt: die Bedeutung der Normen. Globales Handeln gegen den Klimawandel könnte es erfordern, dass wir eine neue Umweltethik finden und neue Einstellungen gegenüber der Natur entwickeln. Ungeachtet der möglichen Effizienz könnte es durch einen globalen Markt für Verschmutzungsrechte schwieriger werden, die Bereitschaft zur Einschränkung und zu gemeinsamen Opfern zu kultivieren, die für solch eine verantwortliche Umweltethik erforderlich sind.

Klimakompensation

Eine ähnliche Frage ergibt sich aus der zunehmenden Nutzung von freiwilligen Ausgleichsmaßnahmen für Kohlenstoffemissionen. Ölfirmen und Fluglinien laden Kunden mittlerweile ein, ihren persönlichen Beitrag zur globalen Erwärmung durch einen Geldbetrag zu neutralisieren. BP ermöglicht es Kunden auf seiner Webseite, die Menge an CO2 zu kalkulieren, die sie durch ihre Fahrgewohnheiten freisetzen, und diese Emissionen durch einen finanziellen Beitrag zu grünen Energieprojekten in Entwicklungsländern zu kompensieren. Glaubt man der Webseite, kann der durchschnittliche Autofahrer in England seine jährlichen Emissionen für etwa 20 Pfund ausgleichen.52 British Airways bietet eine ähnliche Kalkulation an: Mit 17 Dollar kann man die klimatischen Auswirkungen einer Flugreise von New York nach London und zurück neutralisieren. Die Fluglinie bereinigt den durch den Flug verursachten Schaden, indem sie das Geld an einen Windpark in der Inneren Mongolei überweist.

Der Gedanke der Klimakompensation steht für einen löblichen Impuls: Der Schaden, den unser Energiekonsum dem Planeten zufügt, wird mit einem Preis versehen, und dieser Preis wird von jedem Einzelnen zur Schadensbehebung entrichtet. Die Unterstützung von Wiederaufforstung und von Projekten für saubere Energie in Entwicklungsländern ist sicher sinnvoll. Doch Ausgleichsmaßnahmen bergen auch die Gefahr in sich, dass diejenigen, die sie bezahlen, sich von jeder weiteren Verantwortung für den Klimawandel befreit sehen. Es ist zu befürchten, dass die Klimakompensation zumindest von einigen als schmerzlose Möglichkeit angesehen wird, sich von der Notwendigkeit freizukaufen, die eigenen Gewohnheiten und Einstellungen grundlegend zu ändern.53

Kritiker der Klimakompensation haben diese mit dem Ablasshandel früherer Zeiten verglichen, bei dem Sünder als Ausgleich für ihre Sünden Geld an die Kirche bezahlten. Die Webseite www.cheatneutral.com persifliert den Gedanken, indem sie einen Handel mit Ausgleichszahlungen für Untreue arrangiert. Wenn in London jemand Schuldgefühle hat, weil er seinen Partner betrügt, kann er jemanden in Manchester dafür bezahlen, dass er bzw. sie treu ist, und die Verfehlung so »ausgleichen«. Moralisch ist die Analogie unvollkommen: Der Betrug ist nicht nur (oder vor allem) verwerflich, weil er die Summe des Unglücks in der Welt mehrt; er ist ein Unrecht gegenüber einer bestimmten Person, das durch einen tugendsamen Akt an anderer Stelle nicht wettzumachen ist. Dagegen sind Kohlenstoffemissionen an sich nichts Unrechtes – sie werden es erst in der Summe.54

Trotzdem haben die Kritiker nicht ganz unrecht. Wenn man die Verantwortung für Treibhausgase in ein Handelsgut verwandelt und individualisiert, könnte sich das ebenso paradox auswirken wie die Geldforderungen für verspätetes Abholen im Kindergarten – es könnte mehr schädliches Verhalten hervorrufen statt weniger. In Zeiten der globalen Erwärmung gilt ein Spritsäufer wie der Hummer nicht als Statussymbol, sondern als Zeichen für verschwenderische Maßlosigkeit, für eine Art von Unersättlichkeit. Dagegen haben Hybridfahrzeuge ein gewisses Prestige. Ein Ausgleich für Kohlenstoffemissionen könnte diese Normen jedoch untergraben, weil er die Verschwendung lizenziert. Wenn Hummer-Fahrer ihre Schuld durch einen Scheck an eine Organisation tilgen können, die in Brasilien Bäume pflanzt, dürften sie kaum dazu geneigt sein, ihre CO2-Schleuder gegen ein Hybridfahrzeug zu tauschen. Einen Hummer zu fahren könnte respektabel statt unverantwortlich erscheinen, und der Druck zugunsten umfassenderer, kollektiver Reaktionen auf den Klimawandel könnte nachlassen.

Natürlich ist das hier geschilderte Szenario spekulativ. Wie Bußgelder, Gebühren und andere finanzielle Anreize wirken, ist nicht mit Gewissheit vorherzusagen, und es kann sich von Fall zu Fall ändern. Ich will einfach zum Ausdruck bringen, dass Märkte bestimmte Normen reflektieren und fördern – bestimmte Arten, die dort ausgetauschten Güter zu bewerten. Um entscheiden zu können, ob wir ein Gut zur Ware machen, müssen wir also mehr als nur die Effizienz und die Verteilungsgerechtigkeit betrachten. Wir müssen auch fragen, ob die Normen des Marktes jene Normen verdrängen, die nicht seiner Logik folgen, und wenn ja, ob wir über diesen Verlust besorgt sein sollten.

Ich behaupte nicht, dass sich die Förderung tugendhafter Einstellungen gegenüber Umwelt, Elternschaft oder Bildung stets gegen konkurrierende Erwägungen durchsetzen sollte. Bestechung funktioniert gelegentlich, und in manchen Fällen kann sie genau das richtige Mittel der Wahl sein. Wenn die Lesefähigkeit dramatisch ansteigt, sobald man leseschwache Kinder für das Lesen von Büchern bezahlt, könnten wir beschließen, es einmal damit zu versuchen, und hoffen, ihnen die Liebe zum Lesen später vermitteln zu können. Wir dürfen aber nicht vergessen, dass es sich dabei um Bestechung handelt – eine moralisch kompromittierte Praxis, die eine höhere Norm (Lesen um seiner selbst willen) durch eine niedrigere Norm (Lesen, um Geld zu verdienen) ersetzt.

Weil Märkte und marktkonformes Denken auf Bereiche übergreifen, die traditionell von marktfremden Normen beherrscht wurden – Gesundheit, Bildung, Fortpflanzung, Flüchtlingspolitik, Umweltschutz –, tritt dieses Dilemma immer häufiger auf. Wie sollen wir uns verhalten, wenn im Namen von Wirtschaftswachstum und Effizienz Dinge, die wir für unbezahlbar halten, einen Preis bekommen? Wann dürfen wir uns moralisch fragwürdiger Märkte bedienen, um ein achtenswertes Ziel zu erreichen?

Ein Nashorn schießen

Nehmen wir an, es geht darum, gefährdete Arten zu schützen – etwa das Schwarze Nashorn. Zwischen 1970 und 1992 nahm die Population dieser Spezies in Afrika von 65 000 auf weniger als 2500 ab. Obwohl die Jagd auf gefährdete Arten illegal ist, waren die meisten afrikanischen Länder nicht in der Lage, die Nashörner vor Wilderern zu schützen. Ihre Hörner wurden für viel Geld in Asien und im Nahen Osten verkauft.55

In den 90ern begannen einige Tierschutzorganisationen und die südafrikanische Behörde für Artenvielfalt in Betracht zu ziehen, zum Schutz gefährdeter Arten Marktmechanismen einzusetzen. Wenn man privaten Ranchern erlaubte, Jägern das Recht auf den Abschuss einer begrenzten Zahl Schwarzer Nashörner zu verkaufen, hätten die Rancher einen Anreiz, sie zu züchten, sich um sie zu kümmern und Wilderer fernzuhalten.

2004 erhielt die Regierung Südafrikas die Genehmigung der Organisation des Washingtoner Artenschutzabkommens, pro Jahr fünf Abschüsse von Schwarzen Rhinozerossen zu erlauben. Diese Nashörner sind berüchtigt für ihre Angriffslust und schwer zu erlegen, weshalb die Chance, Jagd auf eines dieser Tiere zu machen, unter Trophäenjägern heiß begehrt ist. Die erste legale Jagd seit Jahrzehnten erforderte ein hübsches Sümmchen: Ein amerikanischer Jäger aus der Finanzbranche ließ sie sich 150 000 Dollar kosten. Es folgten weitere Kunden, darunter ein russischer Erdölmilliardär, der gleich für den Abschuss von drei Schwarzen Nashörnern bezahlte.

Die Marktlösung scheint zu funktionieren. In Kenia, wo die Jagd auf Rhinos nach wie vor verboten ist, fiel die Population der Schwarzen Nashörner von 20 000 auf etwa 600, weil das Land gerodet und für Ackerbau und Viehzucht genutzt wurde. In Südafrika dagegen, wo für Landbesitzer nun ein finanzieller Anreiz besteht, den Wildtieren ausreichend Lebensraum zur Verfügung zu stellen, wächst die Population der Nashörner inzwischen wieder.

Für diejenigen, die gegen eine Trophäenjagd prinzipiell nichts einzuwenden haben, sind marktkonforme Anreize eine vernünftige Möglichkeit, eine gefährdete Art zu retten – auch wenn man dazu das Recht verkaufen muss, ein Schwarzes Nashorn abzuschießen. Wenn Jäger für die Jagd auf ein Nashorn bereitwillig 150 000 Dollar bezahlen, haben die Rancher einen Anreiz, die Tiere zu züchten und zu schützen, was den Bestand erhöht. Es ist eine besondere Art des Ökotourismus: »Bezahlen Sie dafür, ein gefährdetes Schwarzes Nashorn zu schießen. Sie werden ein unvergessliches Erlebnis haben und zugleich die Arterhaltung unterstützen.«

Aus Sicht der ökonomischen Vernunft scheint die Marktlösung eindeutig zu funktionieren. Einige Menschen sind dadurch bessergestellt, ohne dass andere einen Nachteil hätten. Die Rancher verdienen Geld, die Jäger haben eine Chance, einem großartigen Geschöpf nachzustellen und es abzuschießen, und eine gefährdete Art am Rande der Ausrottung erholt sich wieder. Wer sollte sich da beklagen?

Nun ja, das hängt vom moralischen Status der Trophäenjagd ab. Wenn Sie der Ansicht sind, es sei moralisch verwerflich, Wildtiere aus Vergnügen zu töten, wird Ihnen der Markt für Nashornjagd wie ein Pakt mit dem Teufel vorkommen, eine Art moralischer Erpressung. Sie dürften den positiven Effekt des Schutzes für Nashörner begrüßen, aber die Tatsache beklagen, dass dieses Ergebnis zustande kommt, indem die perversen Gelüste reicher Jäger befriedigt werden. Es ist fast so, als bewahre man einen alten Bestand an Mammutbäumen vor der Vernichtung, indem man reichen Spendern das Recht verkauft, ihre Initialen in die Rinde zu schnitzen.

Wie soll man sich also entscheiden? Man könnte die Marktlösung verwerfen, weil die moralische Verkommenheit der Trophäenjagd schwerer wiegt als der Nutzen der Arterhaltung. Oder man könnte beschließen, der moralischen Erpressung nachzugeben, und das Recht zur Jagd auf ein paar Rhinos verkaufen, weil man hofft, die Art vor der Ausrottung zu bewahren.

Die richtige Antwort hängt zum Teil davon ab, ob der Markt den versprochenen Nutzen wirklich erbringt. Sie hängt aber auch davon ab, wie schwer das Unrecht wiegt, wenn man zulässt, dass Trophäenjäger Wildtiere zum Vergnügen abschlachten.

Auch hier ist die Marktlogik ohne moralische Überlegungen unvollständig. Wir können nicht entscheiden, ob das Recht auf den Abschuss von Nashörnern handelbar sein soll, ohne die Frage beantwortet zu haben, wie diese Erlaubnis moralisch angemessen zu bewerten ist. Und das ist naturgemäß eine umstrittene Frage, bei der die Menschen uneins sind. Doch das Plädoyer zugunsten der Märkte kann eben nicht abgelöst werden von der umstrittenen Frage, wie die ausgetauschten Güter angemessen zu bewerten sind.

Großwildjäger klammern sich instinktiv an diesen Punkt. Sie begreifen, dass die moralische Legitimität ihres Sports (und die Nashornjagd gegen Bezahlung) von einer bestimmten Einstellung abhängt. So geben einige Trophäenjäger vor, ihre Beute zu verehren, und bestehen darauf, dass das Töten eines großen und mächtigen Geschöpfes eine Form von Respekt darstelle. Ein russischer Geschäftsmann, der 2007 ein Schwarzes Nashorn gegen Bezahlung abgeschossen hatte, erklärte: »Ich habe es erlegt, weil das eines der größten Komplimente ist, die man einem Schwarzen Nashorn machen kann.«56

Kritiker werden einwenden, dies sei eine verrückte Art, Verehrung auszudrücken. Im Kern der Debatte geht es jedenfalls um das Problem, ob die Trophäenjagd Wildtiere angemessen bewertet. Was uns zur Frage nach den Einstellungen und Normen zurückbringt: Ob man einen Markt für Jagdrechte auf gefährdete Arten einrichtet, hängt nicht nur davon ab, ob deren Bestand dadurch größer wird, sondern auch davon, ob man damit die richtige Art ausdrückt und fördert, sie angemessen zu bewerten.

Der Markt für Schwarze Nashörner ist ein moralisch komplexes Thema, weil es hier darum geht, eine gefährdete Art zu schützen, indem man eine fragwürdige Einstellung gegenüber Wildtieren fördert. Hier eine weitere Jagdgeschichte, die einen noch härteren Prüfstein für die Vernunft des Marktes darstellt.

Ein Walross schießen

Für Jahrhunderte war das atlantische Walross in den arktischen Regionen Kanadas so häufig wie der Bison im amerikanischen Westen. Der massige, wehrlose Meeressäuger, geschätzt wegen seines Fleisches, seines Fells, seines Specks und der Stoßzähne aus Elfenbein, war eine leichte Beute für Jäger, und gegen Ende des 19. Jahrhunderts war die Population stark zurückgegangen. 1928 verbot Kanada die Walrossjagd; ausgenommen war eine kleine Quote für die Inuit, eingeborene Jäger mit Subsistenzwirtschaft, deren Lebensweise sich seit gut 4500 Jahren um die Walrossjagd dreht.57 In den 90ern wandten sich Führer der Inuit mit einem Vorschlag an die kanadische Regierung: Konnte sie den Inuit nicht erlauben, ihr Recht auf den Abschuss einiger Walrosse aus ihrer Quote an Großwildjäger zu verkaufen? Die Zahl der getöteten Walrosse würde gleich bleiben, die Inuit würden die Jagdgebühren kassieren, den Trophäenjägern als Führer dienen, den Abschuss überwachen und Fleisch wie Felle behalten, so wie sie das immer getan hatten. Damit würde das wirtschaftliche Wohl einer armen Gemeinschaft verbessert, ohne die geltenden Quoten zu überschreiten. Die kanadische Regierung war einverstanden.

Für die Gelegenheit, ein Walross zu schießen, reisen mittlerweile reiche Trophäenjäger aus der ganzen Welt in die Arktis. Für dieses Privileg bezahlen sie zwischen 6000 und 6500 Dollar. Sie kommen sicher nicht wegen des Nervenkitzels der Jagd oder der sportlichen Herausforderung. Walrosse sind harmlose Geschöpfe, die sich langsam bewegen und für Jäger mit Gewehren kein Problem darstellen. In seinem eindrucksvollen Bericht im New York Times Magazine verglich C. J. Chivers die Walrossjagd unter Aufsicht der Inuit mit »einer langen Bootsfahrt, an deren Ende man auf einen sehr großen Sitzsack schießt«.58

Die Führer manövrieren das Boot bis auf etwa 15 Meter an das Walross heran und geben dem Jäger ein Zeichen, wann er schießen soll. Chivers schilderte die Szene, als ein Jäger aus Texas seine Beute erlegte: »Die Kugel des Jägers klatschte in den Hals des Bullen, riss seinen Kopf herum und warf das Tier auf die Seite. Aus dem Einschussloch sprudelte Blut. Reglos lag der Bulle da. Der Jäger setzte sein Gewehr ab und griff nach der Videokamera.« Dann machte sich die Inuit-Mannschaft an die harte Arbeit, das tote Walross auf eine Eisscholle zu hieven und den Kadaver zu zerlegen.

Der Reiz einer solchen Jagd ist schwer zu ergründen. Sie stellt keine Herausforderung dar, weshalb sie weniger als Sport denn als eine Art todbringender Tourismus erscheint. Nicht einmal eine Trophäe kann sich der Jäger zu Hause an die Wand hängen. In den USA sind Walrosse geschützt, und es ist illegal, Körperteile dieser Tiere ins Land zu bringen.

Warum also sollte man ein Walross abschießen? Anscheinend geht es darum, je ein Exemplar all der Tierarten zu erlegen, die von Jagdvereinen aufgelistet werden – etwa die »Großen Fünf« Afrikas (Leopard, Löwe, Elefant, Nashorn und Kapbüffel) oder den »Grand Slam« der Arktis (Karibu, Moschusochse, Eisbär und Walross).

Dieses Ziel ist nicht gerade bewundernswert; manche finden es sogar ausgesprochen widerwärtig. Aber wir dürfen nicht vergessen: Märkte geben kein Urteil über die von ihnen befriedigten Bedürfnisse ab. Aus Sicht der Marktlogik spricht tatsächlich einiges dafür, dass man den Inuit erlaubt, ihr Recht auf Abschuss einer bestimmten Zahl von Walrossen zu verkaufen. Sie selbst erschließen eine neue Einkommensquelle, die »Listenjäger« erhalten die Möglichkeit, ihre Bilanz der getöteten Tiere zu vervollständigen, und die Quoten werden nicht überschritten. In dieser Hinsicht entspricht der Verkauf des Abschussrechts für ein Walross dem Verkauf des Rechts auf Fortpflanzung oder Verschmutzung. Sobald eine Quote vorhanden ist, schreibt die Marktlogik vor, dass ein Handel mit den Konzessionen das Gemeinwohl mehrt. Er sorgt dafür, dass einige besser dastehen, ohne dass andere schlechter dran sind.

Und doch ist der Markt für Walross-Abschüsse moralisch äußerst fragwürdig. Selbst wenn es vernünftig ist, den Inuit weiterhin zu erlauben, für ihren Lebensunterhalt Walrosse zu jagen, wie sie das seit Jahrhunderten tun, ist das Recht, die Walross-Abschüsse zu verkaufen, aus zwei Gründen immer noch moralisch verwerflich.

Erstens hilft dieser bizarre Markt, einen perversen Wunsch zu erfüllen, dem in jeder denkbaren Berechnung eines gesellschaftlichen Nutzens kein Gewicht zukommen sollte. Was immer man von der Großwildjagd halten mag: Das hier ist etwas anderes. Der Wunsch, ohne jegliche Herausforderung oder Jagd ein hilfloses Säugetier aus kurzer Entfernung zu töten, nur um es auf einer Liste abhaken zu können, ist es nicht wert, erfüllt zu werden, selbst wenn sich daraus für die Inuit ein zusätzliches Einkommen ergibt. Zweitens: Wenn die Inuit das Recht, die ihnen zugeteilten Walrosse zu töten, an Außenstehende verkaufen, beschädigen sie die Bedeutung und den Zweck der Ausnahmeregelung, die man ihrer Gemeinschaft zunächst zugestanden hat. Die Lebensweise der Inuit zu würdigen und ihre von alters her bestehende Abhängigkeit von der Jagd auf Walrosse zu respektieren ist eine Sache. Etwas anderes ist es aber, dieses Privileg in eine bezahlte Konzession zum beiläufigen Töten umzuwandeln.

Ökonomische und
moralische Vernunft

In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts war Paul Samuelsons Volkswirtschaftslehre das führende Lehrbuch im Land. Kürzlich warf ich einen Blick in eine frühe Ausgabe seines Werks, um zu sehen, wie er das Wesen der Volkswirtschaftslehre bestimmt. Er definierte sie über ihren traditionellen Gegenstandsbereich: Die Volkswirtschaftslehre befasst sich mit der »Welt der Preise, Löhne, Zinssätze, Aktien und Schuldscheine, Banken und Kredite, Steuern und Ausgaben«. Die Ökonomie hatte eine konkrete und genau umrissene Aufgabe: Sie sollte erklären, wie Rezessionen, Arbeitslosigkeit und Inflation zu vermeiden sind, wie eine hohe Produktivität aufrechtzuerhalten ist und »wie der Lebensstandard der Menschen gerechter gestaltet werden kann«.59

Heute ist die Volkswirtschaftslehre ziemlich weit von ihrem ursprünglichen Gegenstand abgekommen. Nehmen wir folgende Definition für eine Wirtschaftslehre, die Gregory Mankiw in einer neuen Auflage seines eigenen einflussreichen Lehrbuchs gibt: »Was ›Ökonomie‹ bedeutet, ist kein Geheimnis. Eine Ökonomie oder Volkswirtschaft ist einfach eine Gruppe von Menschen, die miteinander interagieren, während sie ihr Leben leben.«

Nach dieser Erklärung befasst die Ökonomie sich nicht nur mit Produktion, Verteilung und Verbrauch materieller Güter, sondern auch mit der Interaktion der Menschen ganz allgemein und den Prinzipien, nach denen Menschen ihre Entscheidungen treffen. Eines der wichtigsten Prinzipien ist dabei, wie Mankiw anmerkt, dass »Menschen auf Anreize reagieren«.60

In der modernen Wirtschaftswissenschaft hat die Diskussion über Anreize dermaßen um sich gegriffen, dass sie mittlerweile einen guten Teil der Disziplin beherrscht. Auf den ersten Seiten von Freakonomics verkünden Steven D. Levitt, Ökonom an der University of Chicago, und Stephen J. Dubner, dass »Anreize der Eckpfeiler des modernen Lebens« seien und dass »Ökonomie im Kern eine Untersuchung über die Wirkung von Anreizen ist«.61

Wie neu diese Definition ist, kann einem leicht entgehen. Die Sprache der Anreize ist eine jüngere Entwicklung des ökonomischen Denkens. In den Schriften von Adam Smith oder anderen klassischen Ökonomen taucht das Wort »Incentive« im Sinne von Anreiz nicht auf.62 Tatsächlich ist der Begriff erst im 20. Jahrhundert in den ökonomischen Diskurs eingegangen; eine herausragende Stellung erreichte er in den 80ern und 90ern. Das Oxford English Dictionary findet seine erste Verwendung im Zusammenhang mit der Ökonomie im Readers Digest von 1943: »Charles E. Wilson … fordert die Kriegsindustrie dringend auf, bei der Bezahlung ›Anreize zu setzen‹ – das heißt, den Arbeitern mehr zu bezahlen, wenn sie mehr produzieren

In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, als Märkte und marktkonformes Denken sich stärker verankerten, nahm die Verwendung des Wortes »Incentive« drastisch zu. Wie eine Google-Suche zeigte, stieg das Vorkommen des Begriffs in eigenständigen Buchpublikationen von den 40ern bis in die 90er um mehr als 400 Prozent an.63

Konzipiert man Wirtschaftswissenschaft als Untersuchung von Anreizen, folgt daraus mehr als nur die Ausweitung des ökonomischen Denkens auf das Alltagsleben – der Ökonom wird dadurch auch in eine aktive Rolle versetzt. Die von Gary Becker in den 70ern angeführten »Schattenpreise«, mit denen er das Verhalten der Menschen erklärte, waren noch implizit und nicht offen ausgewiesen. Es handelte sich um metaphorische Preise, die der Ökonom sich vorstellt, voraussetzt oder ableitet. Anreize dagegen werden von Ökonomen (oder Politikern) entworfen, bearbeitet und in die Welt getragen. Mit ihnen sollen Menschen zum Beispiel dazu gebracht werden, abzuspecken, härter zu arbeiten oder weniger Schadstoffe freizusetzen. »Ökonomen lieben Anreize«, schreiben Levitt und Dubner. »Sie lieben es, sich Anreize auszudenken, sie einzusetzen, sie zu studieren und daran herumzubasteln. Der typische Ökonom glaubt, dass die Welt noch kein einziges Problem erfunden hat, das er nicht lösen könnte, wenn er freie Hand hätte, das passende Schema von Anreizen zu konstruieren. Seine Lösung ist vielleicht nicht immer schön – sie kann Zwang oder außerordentlich hohe Strafen oder die Verletzung von Bürgerrechten einschließen –, aber das ursprüngliche Problem, seien Sie versichert, wird dadurch gelöst. Ein Anreiz ist eine Kugel, ein Druckmittel, ein Schlüssel: Manchmal ist es eine Kleinigkeit mit der erstaunlichen Macht, eine Situation zu ändern.«64

Das ist ein fernes Echo der Metapher von Adam Smith, der die Selbstregulierung des Marktes als das Wirken einer unsichtbaren Hand beschreibt. Sobald Anreize erst einmal zum »Eckstein des modernen Lebens« geworden sind, erscheint der Markt als eine harte Hand, die zudem noch manipulativ ist. (Denken wir an die finanziellen Anreize für Sterilisation und gute Noten.) »Die meisten Anreize ergeben sich nicht von selbst«, stellen Levitt und Dubner fest. »Irgendjemand – ein Ökonom oder Politiker, ein Vater oder eine Mutter – muss ihn erfinden.«65

Die zunehmende Anwendung von »Incentives« im heutigen Leben und die Notwendigkeit, dass sie von jemandem ausgedacht werden müssen, spiegelt sich in einem unbeholfenen neuen Verb, das in jüngster Zeit zunehmend in Umlauf kam: »incentivize«. Laut dem Oxford English Dictionary bedeutet es, »jemanden (insbesondere Angestellte oder Kunden) zu motivieren oder zu ermuntern, indem man ihm einen (gewöhnlich finanziellen) Anreiz bietet«. Das Verb stammt aus dem Jahr 1968, ist aber erst im letzten Jahrzehnt populär geworden – besonders unter Ökonomen, Führungskräften großer Unternehmen, politischen Analytikern, Politikern und Journalisten. In Büchern war das Wort bis etwa 1990 selten zu finden. Mittlerweile ist seine Verwendung um mehr als 1400 Prozent in die Höhe geschossen.66 Eine Suche mittels LexisNexis bei großen Zeitungen zeigt einen ähnlichen Trend:

Häufigkeit von »incentivize« oder »incentivise«
in großen Tageszeitungen:67

       1980er    48
       1990er    449
       2000er    6159
2010–2011    5885

Neuerdings ist »incentivize« in das Vokabular der US-Präsidenten eingegangen. George Bush war der Erste, der den Ausdruck in der Öffentlichkeit (zweimal) benutzte. Bill Clinton gebrauchte ihn in acht Jahren nur einmal, ebenso wie George W. Bush. Barack Obama hat das Verb »incentivize« in den ersten drei Jahren 29 Mal verwendet. Er hofft, Ärzte, Kliniken und Dienstleister auf dem Gesundheitssektor »zu incentivieren«, stärker auf Prävention zu achten, und möchte Banken dazu »incentivieren«, verantwortungsvollen Hausbesitzern und Kleingewerbetreibenden Kredite zu geben.68

Auch der britische Premierminister David Cameron ist ein Fan dieses Wortes. In einer Rede vor Bankern und Führungskräften rief er dazu auf, eine »risikofreudige Investment-Kultur« zu »incentivieren«. Als er sich nach den Londoner Krawallen von 2011 an die englische Bevölkerung wandte, beklagte er, dass »einige der übelsten Aspekte der menschlichen Natur toleriert, geduldet und manchmal sogar incentiviert« worden seien, und das vom Staat und seinen Behörden.69

Trotz ihrer neuen Neigung zur Incentivierung bestehen Ökonomen weiterhin auf der strikten Unterscheidung zwischen Wirtschaftswissenschaft und Ethik, zwischen ökonomischer und moralischer Vernunft. Die Ökonomie handele einfach nicht mit Moral, wie Levitt und Dubner erläutern: »Moral repräsentiert die Art und Weise, in der die Welt unserer Ansicht nach funktionieren sollte – während die Ökonomie uns zeigt, wie sie tatsächlich funktioniert.«70

Die Vorstellung, dass die Ökonomie eine von der Moralphilosophie und der politischen Philosophie unabhängige Wissenschaft sei, ist schon immer fragwürdig gewesen. Doch der stolz zur Schau gestellte Ehrgeiz der heutigen Wirtschaftswissenschaft macht es besonders schwer, diese Behauptung zu verteidigen. Je weiter die Märkte ihren Zugriff auf die nichtökonomischen Bereiche des Lebens ausdehnen, desto stärker verstricken sie sich in moralische Fragen.

Nehmen wir die wirtschaftliche Effizienz. Warum sollte man sich darum kümmern? Angeblich wegen der Mehrung des gesellschaftlichen Nutzens, verstanden als die möglichst umfassende Befriedigung aller menschlichen Bedürfnisse. Wie Mankiw erklärt, maximiert die effiziente Zuteilung von Ressourcen das ökonomische Wohlergehen aller Mitglieder der Gesellschaft.71 Doch warum sollte der gesellschaftliche Nutzen überhaupt maximiert werden? Die meisten Ökonomen nehmen diese Frage gar nicht erst zur Kenntnis, oder sie fallen zurück auf eine Position der utilitaristischen Moralphilosophie.

Doch der Utilitarismus ist mit guten Gründen kritisiert worden. Der für die Marktlogik relevanteste Einwand fragt, warum wir die Befriedigung von Vorlieben maximieren sollten, ohne auf ihren moralischen Wert zu achten. Wenn manche die Oper lieben und andere Hundekämpfe oder Schlammringkämpfe sehen wollen: Müssen wir dann wirklich unparteiisch sein und diesen Vorlieben – wie das utilitaristische Kalkül suggeriert – jeweils das gleiche Gewicht einräumen?72 Wenn das marktkonforme Denken sich mit materiellen Gütern befasst – mit Autos, Toastern und Flachbildschirmen –, spielt dieser Einwand keine große Rolle, denn es ist vernünftig, anzunehmen, dass der Wert der Güter einfach mit den Vorlieben der Verbraucher zu tun hat. Wendet man diese Marktlogik jedoch auf Fragen der Sexualität, Fortpflanzung, Kinderaufzucht, Bildung, Gesundheit, Einwanderungspolitik, des Strafrechts und Umweltschutzes an, ist es weniger plausibel, anzunehmen, dass die Vorlieben eines jeden gleichwertig sein sollen. Auf moralisch umkämpften Gebieten wie diesen können manche Arten der Bewertung von Gütern angemessener und wertvoller sein als andere. Und wenn dies zutrifft, ist nicht klar, warum wir Vorlieben unterschiedslos befriedigen sollten, ohne nach ihrem moralischen Wert zu fragen. (Sollte Ihr Wunsch, ein Kind das Lesen zu lehren, wirklich ebenso viel zählen wie der Wunsch Ihres Nachbarn, ein Walross aus kürzester Distanz abzuschießen?)

Wenn die Marktlogik das Reich der materiellen Güter verlässt, muss sie also wohl oder übel »mit der Moral handeln«, zumindest wenn sie nicht blindlings den gesellschaftlichen Nutzen maximieren will, ohne einen Blick für den moralischen Wert der von ihr befriedigten Vorlieben zu haben.

Es gibt noch einen weiteren Grund, weshalb die Ausweitung der Märkte die Unterscheidung zwischen moralischer und ökonomischer Vernunft oder zwischen einer Erklärung der Welt und ihrer Verbesserung erschwert. Einer der Grundpfeiler der Volkswirtschaft ist der Preiseffekt: Wenn die Preise steigen, kaufen die Menschen weniger von diesem Gut, und wenn sie sinken, kaufen sie mehr. Dieser Grundsatz ist in der Regel zuverlässig, wenn wir über den Markt für, sagen wir, Flachbildfernseher sprechen.

Doch wie wir gesehen haben, kann man ihm weniger vertrauen, wenn man ihn auf soziale Verhaltensweisen anwendet, wie etwa das rechtzeitige Abholen seines Kindes vom Kindergarten. Als der Preis für das Zuspätkommen anstieg, nahm auch das verspätete Abholen zu. Dieses Resultat widerspricht dem normalen Preiseffekt. Es wird erst verständlich, wenn man erkennt, dass ein Gut, das zu Markte getragen wird, eine andere Bedeutung erhalten kann. Als das verspätete Abholen einen Preis bekam, änderte sich eine Norm. Wo es zuvor als moralische Pflicht betrachtet wurde, rechtzeitig zu erscheinen – um den Erziehern eine Unannehmlichkeit zu ersparen –, sah man nun eine Marktbeziehung, in der zu spät kommende Eltern die Erzieher einfach für den Service bezahlten, länger im Kindergarten zu bleiben. Ergebnis: Der Anreiz bewirkte also das Gegenteil.

Wenn Märkte auf Lebensbereiche übergreifen, die bis dahin von marktfremden Normen geregelt wurden, kann es sein, dass der Standard-Preiseffekt – wie die Geschichte vom Kindergarten zeigt – nicht funktioniert. Als die (ökonomischen) Kosten für das Zuspätkommen angehoben wurden, führte das nicht zu weniger, sondern zu mehr Verspätungen. Um die Welt erklären zu können, müssen Ökonomen also herausfinden, ob mit der Auspreisung einer Aktivität nicht ältere Normen verdrängt werden. Zu diesem Zweck müssen sie die Abmachungen und Werte untersuchen, die einer vorhandenen Praxis zugrunde liegen, und feststellen, ob sie durch eine Ökonomisierung dieser Praxis (mittels finanzieller Anreize oder Gebühren) ersetzt werden.

An dieser Stelle dürfte der Wirtschaftswissenschaftler einräumen, dass er auf moralpsychologische oder anthropologische Erkenntnisse zurückgreifen muss, um herauszufinden, welche Normen vorherrschen und wie sie durch Märkte beeinflusst würden. Aber wieso soll deswegen die Moralphilosophie ins Spiel kommen? Aus folgendem Grund:

Wo Märkte Normen aushöhlen, die zuvor nicht vom Markt beherrscht waren, muss der Ökonom (oder wer auch immer) entscheiden, ob das auf einen Verlust hinausläuft, um den man sich Sorgen machen sollte. Sollte es uns etwas ausmachen, dass Eltern keine Schuldgefühle mehr haben, wenn sie ihre Kinder zu spät abholen und ihr Verhältnis zu den Lehrern zunehmend ein instrumentelles wird? Sollten wir besorgt sein, wenn Kinder, denen man für das Lesen von Büchern Geld gibt, im Lesen eher einen bezahlten Job sehen, während die Freude am Lesen um des Lesens willen nachlässt? Die Antwort wird je nach Fall anders ausfallen. Doch die Frage führt uns über die Vorhersage hinaus, ob ein finanzieller Anreiz funktionieren wird. Sie erfordert, dass wir eine moralische Bewertung anstellen: Worin liegt die moralische Bedeutung der Einstellungen und Normen, die durch Geld ausgehöhlt oder verdrängt werden? Würde der Verlust von Normen und Erwartungen außerhalb der Marktlogik den Charakter einer Aktivität auf eine Weise ändern, die wir bedauern würden (oder zumindest bedauern sollten)? Falls das so ist: Sollten wir davon absehen, diese Aktivität mit finanziellen Anreizen auszustatten, selbst wenn das einiges an Gutem bewirken könnte?

Die Antwort wird vom Zweck und von der Art der betreffenden Aktivität sowie von den sie definierenden Normen abhängen. In dieser Hinsicht gibt es sogar bei der Kleinkindbetreuung Unterschiede. In einem Kinderladen, in dem Eltern freiwillig einige Stunden pro Woche mithelfen, kann ein Bruch im System wechselseitiger Verpflichtungen mehr Schaden anrichten als in einem konventionellen Kindergarten, wo Eltern die Erzieher dafür bezahlen, sich um die Kinder zu kümmern, und ansonsten ihren täglichen Pflichten nachgehen. Auf alle Fälle ist aber klar, dass wir uns hier auf dem Gebiet der Moral befinden. Um entscheiden zu können, ob wir uns auf finanzielle Anreize verlassen wollen, müssen wir fragen, ob diese Anreize Einstellungen und Normen korrumpieren, die wir für schützenswert halten. Damit diese Frage beantwortet werden kann, muss das ökonomische Denken moralisch werden. Letztlich muss der Ökonom »mit Moral handeln«.