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Das Geschäft mit
dem Tod

Als Michael Rice, 48, Assistance Manager einer Filiale von Wal-Mart, einer Kundin half, ein Fernsehgerät zu ihrem Wagen zu tragen, erlitt er einen Herzanfall und brach zusammen. Er starb eine Woche später. Eine Lebensversicherung zahlte ungefähr 300 000 Dollar. Das Geld erhielt jedoch nicht seine Frau mit den beiden Kindern. Es ging an Wal-Mart – das Unternehmen hatte die Police auf ihn abgeschlossen und sich selbst als Begünstigten eingesetzt.1

Als die Witwe davon erfuhr, war sie außer sich. Warum sollte das Unternehmen vom Tod ihres Mannes profitieren? Er hatte lange Stunden für die Firma gearbeitet, manchmal bis zu 80 pro Woche. »Sie haben Mike schrecklich ausgenutzt«, erklärte sie, »und dann gehen sie hin und kassieren 300 000 Dollar für seinen Tod. Ist das nicht unmoralisch?«2

Laut Mrs Rice hatten weder sie noch ihr Mann die geringste Ahnung davon gehabt, dass Wal-Mart eine Lebensversicherung auf ihn abgeschlossen hatte. Als sie von der Police erfuhr, verklagte sie Wal-Mart vor einem Bundesgericht und forderte, das Geld solle der Familie und nicht dem Unternehmen zukommen. Ihr Anwalt argumentierte, Unternehmen dürfe nicht erlaubt werden, vom Tod ihrer Mitarbeiter zu profitieren: »Für einen Giganten wie Wal-Mart ist es absolut verwerflich, auf das Leben seiner Angestellten zu wetten.«3

Ein Sprecher von Wal-Mart räumte ein, dass die Firma Lebensversicherungen für Hunderttausende ihrer Angestellten abgeschlossen habe – nicht nur für Assistenten der Geschäftsleitung, sondern sogar für Wartungspersonal. Er bestritt jedoch, dass das Unternehmen mit dem Tod Gewinne mache. »Wir bestehen darauf, dass wir vom Tod unserer Beschäftigten nicht profitieren. Wir investieren beträchtliche Summen in diese Angestellten«, erklärte er triumphierend, »solange sie am Leben sind.« Im Fall von Michael Rice, meinte der Sprecher, sei die Versicherungssumme kein willkommener Geldsegen gewesen, sondern ein Ausgleich für die Kosten seiner Ausbildung und die Beschaffung eines Ersatzmannes. »Seine Ausbildung und Erfahrungen lassen sich schließlich nicht kostenlos wieder herstellen.«4

Tote Bauern

Bei großen Unternehmen ist es seit Langem üblich, Versicherungen auf das Leben ihrer CEOs und Spitzenkräfte abzuschließen, um im Todesfall die erheblichen Kosten für einen Ersatz aufzufangen. Im Jargon der Versicherungsbranche haben Unternehmen ein »versicherbares Interesse« an ihren CEOs, das gesetzlich anerkannt ist. Relativ neu ist jedoch, dass auch Lebensversicherungen für das Fußvolk abgeschlossen werden. Diese Versicherungen heißen in der Branche »janitor’s insurance« (Putzfrauenversicherung) oder auch »dead peasants insurance« (Tote-Bauern-Versicherung). Bis vor Kurzem waren sie in den meisten Staaten illegal; man ging davon aus, dass Unternehmen kein versicherbares Interesse am Leben ihrer gewöhnlichen Arbeitskräfte hätten. Während der 80er Jahre leistete die Versicherungsbranche jedoch erfolgreiche Lobbyarbeit – die meisten Bundesstaaten lockerten die Versicherungsgesetze und erlaubten es Unternehmen, Lebensversicherungen für all ihre Angestellten abzuschließen, vom CEO bis zum Hausboten.5

Im Verlauf der 90er Jahre investierten große Unternehmen Unsummen in Policen für firmeneigene Lebensversicherungen (COLIs – Corporate-owned life insurances); es entstand eine Multimillionendollarbranche für »Death-Futures«. Unter anderem kauften AT&T, Dow Chemical, Nestlé USA, Pitney Bowes, Procter & Gamble, Wal-Mart, Walt Disney und die Supermarktkette Winn-Dixie solche Policen. Vor allem die damit verbundenen steuerlichen Vergünstigungen verlockten die Firmen zu dieser morbiden Form der Geldanlage. Wie bei herkömmlichen Lebensversicherungen waren die Leistungen im Todesfall steuerfrei und ebenso die jährlichen Überschussbeteiligungen, die sich aus der Investition ergaben.6

Nur wenigen Arbeitern war bewusst, dass ihre Firmen einen Preis auf ihren Kopf ausgesetzt hatten. Die meisten Staaten verlangten von den Firmen nicht, die Angestellten darüber zu informieren, wenn sie Versicherungen auf deren Leben abschlossen, oder dafür gar ihre Zustimmung einzuholen. Und die meisten dieser Policen blieben tatsächlich auch dann bestehen, wenn ein Arbeiter kündigte, in Rente ging oder gefeuert wurde. Dadurch waren Firmen in der Lage, Profit aus dem Tod von Angestellten zu ziehen, die erst Jahre nach ihrem Ausscheiden aus der Firma starben. Mithilfe der Sozialversicherungsbehörde verfolgten die Unternehmen die Sterblichkeit ihrer ehemaligen Angestellten. In manchen Bundesstaaten konnten die Firmen sogar Lebensversicherungen auf die Kinder und Ehegatten ihrer Angestellten abschließen.7

Bei großen Banken war die Putzfrauenversicherung besonders beliebt – auch bei der Bank of America und JPMorgan Chase. Ende der 90er erkundeten einige Banken sogar die Möglichkeit, Lebensversicherungen auf ihre Depot-Inhaber und Kreditkartenkunden abzuschließen.8

Eine Artikelserie im Wall Street Journal machte die Öffentlichkeit 2002 auf das boomende Geschäft mit der »dead peasants insurance« aufmerksam. Die Zeitschrift berichtete von einem 29-jährigen Mann, der 1992 an Aids gestorben war, was der Eigentümerfirma des Musikladens, in dem er kurzzeitig gearbeitet hatte, eine Summe von 339 000 Dollar einbrachte. Seine Familie ging leer aus. Ein anderer Artikel berichtete von einem 20-jährigen Ladenangestellten in Texas, der bei einem Raubüberfall auf das Geschäft angeschossen worden war und starb. Die Firma, der der Laden gehörte, bot der Witwe und dem Kind des jungen Mannes 60 000 Dollar, um alle potenziellen gerichtlichen Klagen auszuschließen, verschwieg aber, dass sie von der Lebensversicherung 250 000 Dollar erhalten hatte. Außerdem berichtete die Serie von der finsteren, aber wenig beachteten Tatsache, dass »nach den Terroranschlägen des 11. September einige der ersten Auszahlungen von Lebensversicherungen nicht an die Familien der Opfer gingen, sondern an ihre Arbeitgeber«.9

Von 2000 an sicherten COLIs das Leben von Millionen Arbeitnehmern ab – sie machten 25 bis 30 Prozent aller verkauften Lebensversicherungen aus. 2006 versuchte der Kongress, die »dead peasants insurance« mit einem Gesetz einzudämmen, das die Zustimmung der Angestellten erforderlich machte und Lebensversicherungen im Besitz der Unternehmen auf das am höchsten bezahlte Drittel ihrer Beschäftigten beschränkte. Doch die Praxis hörte nicht auf. 2008 hielten allein Banken in den USA Lebensversicherungen auf ihre Angestellten im Nennwert von 122 Milliarden Dollar. Die Ausbreitung der COLIs auf die gesamte Unternehmenslandschaft der USA hatte angefangen, Bedeutung und Zweck der Lebensversicherung zu verwandeln. Das Wall Street Journal kam zu dem Schluss: »All das summiert sich zu einer wenig bekannten Story darüber, wie die Lebensversicherung von einem Sicherheitsnetz für Hinterbliebene zu einer Finanzstrategie der Unternehmen umgeformt wurde.«10

Sollte es Unternehmen erlaubt sein, vom Tod ihrer Angestellten zu profitieren? Selbst einige Insider der Versicherungsbranche finden diese Vorgehensweise anrüchig. John H. Biggs, ehemaliger Vorstandsvorsitzender und CEO einer führenden Firma für Pensions- und Finanzdienstleistungen, bezeichnet sie als »eine Form der Versicherung, die mir immer ekelhaft vorkam«.11 Aber was genau ist daran überhaupt falsch?

Ein praktischer Einwand liegt auf der Hand: Gestattet man Firmen, finanziell auf das Ableben ihrer Beschäftigten zu setzen, ist das gewiss nicht förderlich für die Sicherheit am Arbeitsplatz. Im Gegenteil, ein finanziell angeschlagenes Unternehmen, dem beim Tod seiner Arbeiter Millionen Dollar zustehen, hat einen perversen Anreiz, bei Maßnahmen zugunsten der Gesundheit und Sicherheit zu knausern. Natürlich würde keine verantwortungsbewusste Firma offen diesem Anreiz nachgeben, denn es ist ein Verbrechen, vorsätzlich dafür zu sorgen, dass die Beschäftigten schneller zu Tode kommen. Ermöglicht man Firmen, Lebensversicherungen für ihre Angestellten zu kaufen, gibt man ihnen noch lange keine Lizenz, sie zu töten.

Vermutlich aber wollen diejenigen, die Putzfrauenversicherungen »ekelhaft« finden, auf einen moralischen Einwand hinaus, der weiter reicht als die Gefahr, dass skrupellose Firmen ihre Augen vor den Risiken am Arbeitsplatz verschließen. Wie lautet dieser Einwand? Und ist er überzeugend?

Er könnte mit der fehlenden Zustimmung zusammenhängen. Wie würden Sie sich fühlen, wenn Sie erführen, dass Ihr Arbeitgeber ohne Ihr Wissen oder Ihre Einwilligung eine Lebensversicherung auf Sie abgeschlossen hat? Sie dürften sich ausgenutzt vorkommen. Aber hätten Sie einen Grund, sich zu beschweren? Warum sollte Ihr Arbeitgeber moralisch verpflichtet sein, Sie zu informieren oder Ihre Einwilligung einzuholen, wenn Ihnen diese Police nicht schadet?

Schließlich ist eine Versicherung eine freiwillige Transaktion zwischen zwei Parteien: der Firma, die die Police kauft (und zum Begünstigten wird), und der Versicherungsgesellschaft, die sie verkauft. Der Arbeiter ist an diesem Deal nicht als Partei beteiligt. Ein Sprecher von KeyCorp, einer Firma für Finanzdienstleistungen, drückte es ganz unverblümt aus: »Die Beschäftigten bezahlen nicht die Prämien, deshalb gibt es keinen Grund, ihnen die Details der Police mitzuteilen.«12

Einige Bundesstaaten sehen das anders und verlangen von Unternehmen, die Zustimmung ihrer Angestellten einzuholen, ehe sie eine Versicherung auf sie abschließen. Wenn Unternehmen um die Erlaubnis bitten, bieten sie den Beschäftigten als Anreiz üblicherweise einen bescheidenen Anteil aus dem Ertrag der Lebensversicherung an. Wal-Mart, das in den 90er Jahren Versicherungen auf etwa 350 000 seiner Arbeitnehmer abgeschlossen hatte, bot allen, die sich versichern ließen, eine kostenlose Gewinnbeteiligung von 5000 Dollar an. Die meisten nahmen das Angebot an – sie waren sich der gewaltigen Diskrepanz zwischen den 5000 Dollar Gewinnanteil für ihre Familien und den Hunderttausenden von Dollar nicht bewusst, die das Unternehmen nach ihrem Tod einsacken würde.13

Fehlende Zustimmung ist jedoch nicht der einzige moralische Einwand, den man gegen COLIs erheben kann. Selbst wenn die Mitarbeiter solchen Plänen zustimmen, bleibt ein schaler Beigeschmack. Zum Teil wegen der in solchen Policen manifestierten Einstellung der Firmen gegenüber ihren Beschäftigten: Wenn man Bedingungen schafft, unter denen tote Arbeiter wertvoller sind als lebendige, macht man sie zu Objekten; man behandelt sie eher als Warenterminkontrakte denn als Angestellte, deren Wert für die Firma in der von ihnen geleisteten Arbeit liegt. Außerdem lässt sich einwenden, dass solche Policen den Zweck von Lebensversicherungen pervertieren. Was einst als Absicherung für Familien gedacht war, wird nun zu einem Steuersparmodell für Unternehmen.14 Es ist kaum einzusehen, warum das Steuersystem Firmen dazu ermuntern sollte, Milliarden auf die Sterblichkeit ihrer Arbeiter zu wetten, anstatt in die Produktion von Gütern und Dienstleistungen zu investieren.

Der Zweitmarkt für
Lebensversicherungen

Diese Einwände können wir untersuchen, wenn wir uns eine andere, moralisch komplexe Verwendung von Lebensversicherungen ansehen, die in den 80ern und 90ern infolge der Aidspidemie aufkam. Es entwickelte sich ein Markt für Lebensversicherungspolicen von Menschen mit Aids und anderen unheilbaren Kranken. Das funktionierte folgendermaßen: Sagen wir, jemand hat eine Lebensversicherung über 100 000 Dollar abgeschlossen und erfährt von seinem Arzt, dass er nur noch ein Jahr zu leben hat. Und nehmen wir weiter an, er benötigt Geld für die medizinische Betreuung oder möchte in der verbleibenden Zeit einfach nur gut leben. Ein Investor bietet an, dem Kranken die Police mit einem Abschlag von 50 000 Dollar abzukaufen und außerdem die Bezahlung der Prämien zu übernehmen. Wenn der ursprüngliche Inhaber der Police stirbt, kassiert der Investor die gesamten 100 000 Dollar.15

Das scheint ein rundum gelungenes Geschäft zu sein. Der Inhaber der Sterbepolice bekommt das benötigte Geld, der Investor streicht einen hübschen Profit ein – vorausgesetzt, der Betreffende stirbt planmäßig. Die Investition ist also nicht ganz risikofrei: Auch wenn die Investition im Todesfall eine bestimmte Auszahlung garantiert (in unserem Fall 100 000 Dollar), hängt die Profitrate für den Investor davon ab, wie lange der Versicherte lebt. Stirbt er, wie vorausgesagt, innerhalb eines Jahres, landet der Investor sozusagen einen Volltreffer: Er hat 50 000 Dollar eingesetzt und erhält 100 000 Dollar – das sind 100 Prozent Rendite in nur einem Jahr (abzüglich der bezahlten Prämien und der Gebühren für den Makler, der den Handel eingefädelt hat). Lebt der Versicherte noch zwei Jahre, muss der Anleger doppelt so lange auf sein Geld warten – die jährliche Rendite sinkt auf die Hälfte (dabei sind die zusätzlichen Prämien nicht eingerechnet, die den Ertrag weiter reduzieren). Wenn dem Patienten eine wundersame Heilung widerfährt, kann es sein, dass der Investor sein Geld vorerst abschreiben muss.

Selbstverständlich sind alle Geldanlagen mit Risiken verbunden. Doch bei den hier angesprochenen Versicherungen erwächst aus dem finanziellen Risiko eine moralische Komplikation, die es bei anderen Anlageformen nicht gibt: Der Investor muss hoffen, dass die Person, deren Lebensversicherung er kauft, besser früher als später stirbt. Je länger der Versicherte durchhält, desto niedriger die Rendite.

Es versteht sich von selbst, dass die Versicherungsbranche bemüht war, diesen grässlichen Aspekt ihres Geschäfts herunterzuspielen. Makler einschlägiger Angebote erklärten, sie würden unheilbar kranken Menschen die Mittel verschaffen, ihre letzten Tage in Würde und relativem Komfort zu verbringen. Dennoch lässt sich nicht leugnen, dass der Anleger ein finanzielles Interesse am schnellen Tod des Versicherten hat. »Es gab einige phänomenale Renditen, und wir kennen manche Horrorgeschichten von Leuten, die einfach nicht gestorben sind«, erzählt William Scott Page, der Vorsitzende einer auf solche Policen spezialisierten Versicherungsgesellschaft. »Das macht den Zweitmarkt für Lebensversicherungen so spannend. Es gibt kein wissenschaftlich exaktes Verfahren, den Tod eines Menschen vorherzusagen.«16 Einige dieser »Horrorgeschichten« führten zu Gerichtsverfahren: Verärgerte Investoren verklagten Makler, weil sie ihnen Lebensversicherungspolicen verkauft hatten, die nicht so schnell wie erwartet »fällig« geworden waren. Nachdem man in den 90er Jahren Medikamente entwickelt hatte, die das Leben von Aidskranken verlängerten, gerieten die Kalkulationen der einschlägigen Versicherer durcheinander. Der Sprecher eines Versicherungsunternehmens drückte es so aus: »Wenn aus einer kalkulierten Laufzeit von 12 Monaten plötzlich 24 Monate werden, geht die Rendite den Bach runter.« Der Durchbruch bei Aidsmedikamenten im Jahr 1996 führte dazu, dass der Börsenkurs des in San Francisco ansässigen Versicherers Dignity Partners Inc. von 14,50 Dollar auf 1,38 abstürzte. Kurz darauf verschwand die Firma vom Markt.17

1998 veröffentlichte die New York Times eine Geschichte über einen wütenden Investor aus Michigan, der fünf Jahre zuvor die Lebensversicherungspolice des New Yorker Bürgers Kendall Morrison gekauft hatte. Morrison litt an Aids und war hoffnungslos krank gewesen. Dank der neuen Medikamente hatte er jedoch einen stabilen Gesundheitszustand erreicht, was den Investor sehr irritierte. »Ich hatte zum ersten Mal das Gefühl, dass jemand meinen Tod wünschte«, berichtete Morrison. »Dauernd bekam ich diese Einschreiben und Anrufe. So in der Art ›Leben Sie immer noch?‹.«18

Als die Diagnose Aids kein Todesurteil mehr war, bemühten sich die Versicherer darum, ihr Geschäft zu diversifizieren und auf Krebs und andere tödlich verlaufende Krankheiten auszuweiten. Unbeeindruckt vom Niedergang des Marktes mit Aidskranken lieferte William Kelley, Leiter des Verbandes amerikanischer Versicherer auf diesem Sektor, eine optimistische Einschätzung der Geschäftslage: »Verglichen mit der Zahl der Aidskranken ist die Zahl der Menschen mit Krebs, schweren Erkrankungen des Herz-Kreislauf-Systems und anderen tödlich verlaufenden Leiden ungeheuer groß.«19

Im Gegensatz zur Putzfrauenversicherung hat das Geschäft mit den Lebensversicherungen für Kranke eindeutig einen Vorteil: Es finanziert die letzten Tage von Menschen mit tödlichen Erkrankungen. Zudem ist die Einwilligung des Versicherten garantiert (auch wenn hoffnungslos kranke Menschen nicht immer über die Verhandlungsmacht verfügen, einen fairen Preis für ihre Versicherungspolice auszuhandeln). Das moralische Problem liegt hier nicht darin, dass das Einverständnis fehlt. Vielmehr geht es darum, dass es sich um eine Wette auf den Todesfall handelt, aus der sich für Investoren ein grundlegendes Interesse am raschen Hinscheiden der Versicherten ergibt.

Darauf ließe sich erwidern, solche Versicherungen seien nicht die einzige Geldanlage, die auf eine Wette auf den Tod hinausliefe. Schon ganz normale Lebensversicherungen verwandeln unsere Sterblichkeit in eine Handelsware. Doch es gibt einen kleinen Unterschied: Bei einer normalen Risiko-Lebensversicherung wettet der Versicherer auf mich, nicht gegen mich. Je länger ich lebe, desto mehr Geld verdient er. Auf dem Zweitmarkt für Lebensversicherungen kehrt sich das finanzielle Interesse um: Je früher ich sterbe, desto besser ist das aus Sicht des Investors.20

Doch warum sollte es mir etwas ausmachen, wenn irgendwo ein Geldanleger hofft, dass ich sterbe? Möglicherweise sollte mich das nicht stören, vorausgesetzt, er verzichtet darauf, mein Ableben aktiv herbeizuführen, oder ruft nicht zu häufig an, um sich nach meinem Befinden zu erkundigen. Vielleicht ist das ja nur gruselig, jedoch nicht moralisch verwerflich. Oder das moralische Problem hat nichts mit irgendwelchen greifbaren Schäden für mich zu tun, sondern mit der zersetzenden Wirkung auf den Charakter des Geldanlegers. Würden Sie Ihren Lebensunterhalt damit verdienen wollen, auf den möglichst schnellen Tod anderer Menschen zu wetten?

Ich vermute, selbst bedingungslose Anhänger des freien Marktes dürften darin nicht einfach ein ganz normales Geschäftsmodell erblicken. Wenn das Geschäft mit Lebensversicherungen für Todkranke moralisch mit normalen Risiko-Lebensversicherungen vergleichbar ist – sollte die Branche dann nicht auch das Recht haben, sich politisch für die eigenen Interessen einzusetzen? Wenn die Lobbyarbeit der Versicherungsbranche ihrem Interesse an lebensverlängernden Maßnahmen Ausdruck verleiht (durch gesetzlichen Gurtzwang oder Nichtraucherschutzgesetze) – sollten dann nicht die Lebensversicherer für Todkranke das Recht erhalten, sich politisch für ihr Interesse an schnellerem Sterben einzusetzen (etwa indem die öffentlichen Mittel für Aidsforschung oder Krebsbekämpfung gestrichen werden)? Soweit ich weiß, hat diese Branche nichts in dieser Richtung unternommen. Doch wenn es moralisch zulässig ist, in die Wahrscheinlichkeit zu investieren, warum ist es dann moralisch unzulässig, eine Politik zu fördern, die diesem Ziel dient?

Einer der Anleger in Lebensversicherungen für Todkranke war Warren Chisum, ein konservativer Politiker in Texas und »notorischer Kreuzritter gegen die Homosexualität«. Er bemühte sich erfolgreich darum, den Geschlechtsverkehr zwischen Männern wieder unter Strafe zu stellen, widersetzte sich einem aufgeklärten Sexualkundeunterricht und stimmte gegen Hilfsprogramme für Aidsopfer. 1994 verkündete Chisum voller Stolz, er habe 200 000 Dollar investiert, um Lebensversicherungspolicen von sechs Aidsopfern zu kaufen. »Ich wette darauf, dass ich nicht weniger als 17 Prozent und in manchen Fälle beträchtlich mehr machen werde«, erzählte er der Houston Post. »Wenn sie innerhalb eines Monats sterben, ist das eine richtig gute Geldanlage.«21

Manche warfen dem Gesetzgeber aus Texas vor, für eine Politik zu stimmen, von der er persönlich profitiere. Dieser Vorwurf ging jedoch in die falsche Richtung: Sein Geld folgte seinen Überzeugungen, nicht umgekehrt. Es war kein klassischer Interessenkonflikt. Eigentlich war es noch schlimmer: die moralisch auf den Kopf gestellte Version einer sozial verantwortlichen Geldanlage.

Chisums unverfrorene Freude an der gruseligen Seite der Lebensversicherungen für Todkranke war die Ausnahme. Wenige Menschen, die hier investierten, waren von Feindseligkeit motiviert. Die meisten wünschten Aidskranken gute Gesundheit und ein langes Leben – abgesehen von denen, deren Policen sie in ihrem Portfolio hielten.

Investoren dieser Art sind nicht die Einzigen, deren Lebensunterhalt vom Tod anderer abhängt. Auch Gerichtsmediziner, Bestatter und Totengräber verdienen mit dem Tod ihrer Mitmenschen ihren Lebensunterhalt, und doch fällt es niemandem ein, sie moralisch zu verurteilen. Vor einigen Jahren stellte die New York Times Mike Thomas vor, einen 34-jährigen Mann aus Detroit, der im Leichenschauhaus des Bezirks mit der »Leichenbergung« beauftragt ist. Er sammelt die Leichen Verstorbener ein und transportiert sie ins Leichenschauhaus. Bezahlt wird er pro Kopf – 14 Dollar für jeden abgeholten Leichnam. Dank der hohen Mordrate in Detroit kann er mit seiner makabren Arbeit etwa 14 000 Dollar jährlich verdienen. Wenn aber die Gewalt nachlässt, erlebt Thomas harte Zeiten. »Ich weiß, das hört sich irgendwie seltsam an«, erklärte er. »Ich meine, herumzusitzen und darauf zu warten, dass jemand stirbt. Sogar zu wünschen, dass jemand stirbt. Aber genau so ist es. So ernähre ich meine Kinder.«22

Es mag ja ökonomisch sein, den Leichensammler pro Kopf zu bezahlen, aber es ist moralisch nicht einwandfrei. Wenn man jemandem eine finanzielle Beteiligung am Tod seiner Mitmenschen bietet, geht das zu Lasten seiner ethischen Empfindsamkeit. Er stumpft ab – und wir mit ihm. In dieser Hinsicht ähnelt es dem Geschäft mit Lebensversicherungen für Todkranke, wenn auch mit einem moralisch relevanten Unterschied: Der Lebensunterhalt des Leichensammlers hängt zwar vom Tod anderer ab, aber er muss nicht darauf hoffen, dass ein bestimmter Mensch möglichst früh stirbt. Jeder Tote zählt gleich viel.

Wetten auf den Tod

Eine zutreffendere Analogie zum Geschäft mit Lebensversicherungen für Todkranke sind Wetten auf Todesfälle. Dieses makabre Gewinnspiel wurde in den 90er Jahren im Internet populär – etwa zu der Zeit, als auch die einschlägige Versicherungsbranche in Schwung kam. Es ist die Cyberspace-Version herkömmlicher Wetten auf den Ausgang aller möglichen Spiele, nur dass die Mitspieler nicht auf Sportergebnisse setzen, sondern vorhersagen, welcher Prominente innerhalb eines Jahres sterben wird.23

Viele Webseiten bieten Varianten dieses morbiden Spiels an. Sie heißen etwa Ghoul Pool, Dead Pool oder Celebrity Death Pool. Zu den beliebtesten gehört Stiffs.com, eine Seite, die bereits 1996 online ging. Für eine Startgebühr von 15 Dollar stellt jeder Teilnehmer eine Liste mit Prominenten ein, von denen er glaubt, dass sie bis zum Jahresende sterben werden. Derjenige mit den meisten korrekten Nennungen gewinnt den Jackpot mit 3000 Dollar, der zweite Platz bringt 500 Dollar. Stiffs.com lockt jährlich mehr als 1000 Teilnehmer an.24

Ernsthafte Spieler treffen ihre Wahl nicht unüberlegt; sie durchkämmen die Regenbogenpresse nach Neuigkeiten über kranke Stars. Die in letzter Zeit laufenden Wetten favorisieren Zsa Zsa Gabor (91), Billy Graham (93) und Fidel Castro (85). Andere beliebte Namen sind Kirk Douglas, Margaret Thatcher, Nancy Reagan, Muhammad Ali, Ruth Bader Ginsburg, Stephen Hawking, Aretha Franklin und Ariel Sharon. Da die Listen von betagten und kränkelnden Gestalten dominiert werden, werden in manchen Spielen Extrapunkte für erfolgreiche gewagte Prognosen vergeben, etwa für Prinzessin Diana, John Denver oder andere, deren Tod unerwartet eintrat.25

Wetten auf Todesfälle gab es schon vor dem Internet. Man erzählt sich, das Spiel sei unter Händlern der Wall Street über Jahrzehnte hinweg sehr beliebt gewesen. Auch Clint Eastwoods letzter Dirty-Harry-Film, Das Todesspiel (1988), handelt von einer Wette auf Todesfälle, die mysteriöse Morde an Prominenten nach sich zieht. Doch zusammen mit der Marktmanie der 90er war es das Internet, das dem gruseligen Spiel zu neuer Bekanntheit verhalf.26

Wetten auf den Todeszeitpunkt von Prominenten ist eine Freizeitbeschäftigung. Niemand bestreitet damit seinen Lebensunterhalt. Dennoch werfen solche Wetten einige der gleichen moralischen Fragen auf, die sich bei Lebensversicherungen für Todkranke und Putzfrauenversicherungen stellen. Lassen wir die Dirty-Harry-Variante beiseite, wo Teilnehmer betrügen und versuchen, die von ihnen genannten Promis zu töten – was ist eigentlich falsch daran, auf das Leben eines Menschen zu wetten und von dessen Tod zu profitieren? Etwas daran ist beunruhigend. Aber wenn wir davon ausgehen, dass der Spieler den Tod eines Menschen nicht herbeiführt, wer sollte sich darüber beschweren? Geht es Zsa Zsa Gabor und Muhammad Ali schlechter, wenn Menschen, die sie nie getroffen haben, darauf wetten, wann sie sterben werden? Es mag ja in gewisser Weise demütigend sein, an die Spitze der Todescharts aufzusteigen. Aber die moralische Geschmacklosigkeit liegt meiner Ansicht nach vor allem in der Einstellung gegenüber dem Tod, die hier vorgeführt und gefördert wird.

Diese Einstellung ist durch eine ungesunde Mischung aus Frivolität und Zwanghaftigkeit gekennzeichnet: Man kaspert mit dem Tod herum, während man gleichzeitig auf ihn fixiert ist. Teilnehmer an Todeswetten platzieren nicht einfach nur ihre Einsätze; nein, sie partizipieren an einer Kultur. Sie verwenden Zeit und Energie darauf, die Lebenserwartung der Leute auszuforschen, auf die sie wetten. Sie sorgen sich in ungebührlicher Weise um den Tod Prominenter. Webseiten für Todeswetten – voller Nachrichten und Informationen über die Krankheiten bekannter Persönlichkeiten – fördern diese gruselige Faszination. Man kann sogar einen Dienst namens Celebrity Death Beeper abonnieren, der per E-Mail oder SMS Alarm schlägt, wenn ein Prominenter stirbt. Mit der Teilnahme an solchen Wetten »ändert sich die Art und Weise, mit der man fernsieht und die Nachrichten verfolgt«, sagt Kelly Bakst, die Stiffs.com leitet.27

Wie Lebensversicherungen für Todkranke erscheinen Todeswetten als moralisch beunruhigend, weil sie aus unserer Sterblichkeit ein Geschäft machen. Doch im Gegensatz zu den Versicherungen dienen sie keinem gesellschaftlich nützlichen Zweck. Sie sind nichts als eine Form des Glücksspiels, eine Quelle für Profite und Unterhaltung. Doch so geschmacklos Todeswetten auch sein mögen, sie stellen kaum das schmerzlichste moralische Problem unserer Zeit dar. In der Hierarchie der Sünden sind es lässliche Luxuslaster. Interessant sind sie, weil sie als Grenzfall zeigen, was aus Versicherungen in einem vom Markt getriebenen Zeitalter in moralischer Hinsicht werden kann.

Lebensversicherungen haben immer zwei Aspekte in sich vereinigt: die Vergesellschaftung von Risiken zur wechselseitigen Absicherung und eine makabre Wette auf den Tod. Beide Aspekte sind in einer unbehaglichen Kombination vereint. Wo moralische Normen und gesetzliche Beschränkungen fehlen, droht der Wettcharakter den sozialen Zweck auszulöschen, der Lebensversicherungen überhaupt erst rechtfertigt. Wenn der soziale Zweck verloren geht oder in den Hintergrund tritt, verwandelt sich die Lebensversicherung von einer Einrichtung, die den überlebenden Angehörigen Sicherheit bietet, einfach zu einem weiteren Finanzprodukt und schließlich zu einer Wette auf den Tod, die lediglich dem Spaß und Profit der Teilnehmer dient. So frivol und nebensächlich die Todeswette auch erscheinen mag: Im Grunde ist sie der finstere Zwilling der Lebensversicherung – die reine Wette ohne das ausgleichende soziale Gut.

Das Aufkommen von COLIs, Lebensversicherungen für Todkranke und Todeswetten in den 80er und 90er Jahren markiert einen weiteren Schritt in dem Prozess, der gegen Ende des 20. Jahrhunderts aus Leben und Tod eine Handelsware machte. Im ersten Jahrzehnt des neuen Jahrhunderts hat sich diese Tendenz fortgesetzt. Doch bevor wir die Geschichte in der Gegenwart weiterführen, lohnt sich ein Blick zurück; er soll uns an das moralische Unbehagen erinnern, das die Lebensversicherung von Anfang an ausgelöst hat.

Eine kurze
Moralgeschichte der
Lebensversicherung

Üblicherweise betrachten wir Versicherungen und Wetten als unterschiedliche Umgangsweise mit Risiken. Versicherungen sind eine Möglichkeit, Risiken zu mindern, während Wetten eine Möglichkeit darstellen, ihnen zu huldigen. Versicherungen haben mit Vorsicht zu tun, Wetten mit Spekulation. Doch die Trennlinie zwischen diesen Aktivitäten ist schon immer unscharf gewesen.28

Die enge Verbindung zwischen der Versicherung von Menschenleben und Wetten auf den Tod sorgte dafür, dass viele Menschen Lebensversicherungen als moralisch abstoßend empfanden. Denn Lebensversicherungen stellten nicht nur einen Anreiz zum Mord dar, sie legten auch einen Marktpreis für ein Menschenleben fest. Jahrhundertelang war die Lebensversicherung in den meisten Ländern Europas verboten. »Ein Menschenleben kann kein Geschäftsobjekt sein«, schrieb ein französischer Jurist im 18. Jahrhundert. »Und es ist schändlich, dass der Tod eine Quelle geschäftlicher Spekulation werden sollte.« Vor Mitte des 19. Jahrhunderts gab es in vielen europäischen Ländern keine Lebensversicherungsunternehmen. In Japan wurde die erste Firma erst 1881 gegründet. Da es ihr an moralischer Legitimität fehlte, »entwickelte sich die Lebensversicherung in den meisten Ländern erst gegen Mitte oder Ende des 19. Jahrhunderts«.29

England bildete eine Ausnahme. Bereits gegen Ende des 17. Jahrhunderts begannen Schiffseigner, Broker und Versicherer, sich in Lloyd’s Kaffeehaus in London zu treffen – dort befand sich das Zentrum für Seeversicherungen. Einige kamen, um ihre eigenen Schiffe und Ladungen zu versichern. Andere wollten bloß auf Ereignisse wetten, bei denen es für sie – abgesehen vom Wetteinsatz – um nichts ging. Viele Leute schlossen Versicherungen ab auf Schiffe, die ihnen nicht gehörten; sie hofften auf einen Profit, wenn das Schiff auf See verloren ging. Das Versicherungsgeschäft wurde zum Glücksspiel, wobei die Versicherer als Buchmacher auftraten.30

Das englische Recht erlegte Versicherungen oder Wetten – die mehr oder weniger ununterscheidbar waren – keine Beschränkungen auf. Im 18. Jahrhundert wetteten Inhaber von »Versicherungspolicen« auf Wahlergebnisse, Parlamentsauflösungen, den Tod von Adligen, den Tod oder die Gefangennahme Napoleons und das Leben der Queen in den Monaten vor dem Thronjubiläum.31 Andere beliebte Themen spekulativer Wetten waren Ausgänge von Belagerungen und Feldzügen (der sogenannte sportliche Aspekt des Versicherungsgeschäfts), das »vielversicherte Leben« von Robert Walpole und die Frage, ob König George II. lebend aus der Schlacht zurückkehren würde. Als der französische König Ludwig XIV. im August 1715 krank wurde, wettete der englische Botschafter in Frankreich, dass der Sonnenkönig den September nicht überleben werde (und gewann). »Häufig waren Männer und Frauen des öffentlichen Lebens Gegenstand dieser Wettpolicen«, einer frühen Version der heutigen Todeswetten im Internet.32

Eine besonders grausige Wette betraf 800 deutsche Flüchtlinge, die 1765 nach England gebracht und dann ohne Nahrung und Unterkunft in einem Außenbezirk Londons zurückgelassen wurden. Spekulanten und Versicherer bei Lloyd’s setzten darauf, wie viele der Flüchtlinge innerhalb einer Woche sterben würden.33

Die meisten Menschen würden eine solche Wette als moralisch widerwärtig betrachten. Aus Sicht der Marktlogik aber ist nicht klar, was daran verwerflich sein soll. Vorausgesetzt, die Zocker waren für die Notlage nicht verantwortlich – was ist dann falsch daran, Wetten darauf abzuschließen, wie schnell die Flüchtlinge sterben werden? Beide Parteien versprechen sich von der Wette einen Vorteil, denn sonst, so versichert uns die ökonomische Vernunft, hätten sie die Wette nicht abgeschlossen. Die Flüchtlinge, die vermutlich nichts von der Wette wussten, sind im Ergebnis nicht schlechter gestellt. So sieht es zumindest die ökonomische Logik.

Falls Todeswetten unzulässig sind, so aus Gründen, die außerhalb der Marktlogik liegen – etwa in den menschenverachtenden Einstellungen, die sich in solchen Wetten ausdrücken. Was die Zocker selbst angeht, so ist eine leichtfertige Gleichgültigkeit gegenüber Tod und Leiden ein Zeichen schlechten Charakters. Für die Gesellschaft im Ganzen wirken solche Einstellungen und die sie fördernden Institutionen verrohend und korrumpierend. Das ist freilich auch in anderen Fällen der Kommodifizierung der Fall und kein hinreichender Grund, Märkte an sich zu verwerfen. Da aber Wetten auf den Tod Unbekannter keinem anderen gesellschaftlichen Zweck dienen als dem Profit und der Belustigung, ist hier der Wunsch nach einem regulierenden Eingriff tatsächlich nachvollziehbar.

Die in England um sich greifenden Wetten auf den Tod lösten jedenfalls eine wachsende öffentliche Abscheu gegenüber dieser abstoßenden Praxis aus. Und es gab noch einen weiteren Grund, sie einzuschränken. Lebensversicherungen wurden nämlich zunehmend als umsichtige und respektable Möglichkeit betrachtet, mit der Familienväter die Ihrigen vor Armut bewahren konnten. Damit die Lebensversicherung zu einem moralisch legitimen Wirtschaftszweig werden konnte, musste sie von der reinen Finanzspekulationen abgelöst werden.

Mit der Inkraftsetzung des Assurance Act von 1774 (auch »Gambling Act« genannt) wurde dies umfassend erreicht. Das Gesetz verbot Wetten auf das Leben Unbekannter und beschränkte Lebensversicherungen auf diejenigen, die ein »versicherbares Interesse« an der Person hatten, deren Leben sie versicherten. Da ein ungeregelter Versicherungsmarkt zu einer »verderblichen Art des Wettens« geführt hatte, verbot das Parlament nun alle Versicherungen auf Leben und Tod »mit Ausnahme der Fälle, in denen die versichernden Personen ein Interesse an Leben oder Tod der versicherten Person haben«. »Einfach ausgedrückt«, schreibt der Historiker Geoffrey Clark, »begrenzte das Wettgesetz das Ausmaß, in dem Menschenleben in eine Ware verwandelt werden konnten.«34

In den USA ließ die moralische Legitimität der Lebensversicherung länger auf sich warten; sie etablierte sich erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts. Im 18. Jahrhundert wurden zwar einige Versicherungsunternehmen gegründet, doch sie verkauften vorwiegend Feuer- und Seeversicherungen. Die Lebensversicherung sah sich einem »mächtigen kulturellen Widerstand« gegenüber. Viviana Zelizer schreibt dazu: »Die Vermarktung des Todes war ein Angriff auf ein Wertesystem, das von der Heiligkeit des Lebens und seiner Unvergleichlichkeit überzeugt war.«35

Um 1850 begann die Branche für Lebensversicherungen zu wachsen, allerdings nur, indem sie den kommerziellen Aspekt zugunsten des Vorsorgegedankens herunterspielte: »Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts scheute die Lebensversicherung die ökonomische Terminologie – sie umgab sich mit religiösem Symbolismus und warb eher mit ihrem moralischen Wert als mit ihren finanziellen Vorteilen. Lebensversicherungen wurden als altruistisches, selbstloses Geschenk und nicht als profitable Geldanlage vermarktet.«36

Mit der Zeit begannen die Lebensversicherer aber, ihr Angebot auch als Anlagemöglichkeit anzupreisen. Als die Branche wuchs, veränderten sich Bedeutung und Zweck der Versicherung. Einst zurückhaltend als wohltätige Einrichtung zum Schutz von Witwen und Waisen vermarktet, wurde die Lebensversicherung nun zu einer Möglichkeit, Geld zu sparen und anzulegen – also zu einem routinemäßigen Geschäft. Die Definition des »versicherbaren Interesses« weitete sich von Familienmitgliedern auf Geschäftspartner und wichtige Angestellte aus. Firmen konnten ihre Führungskräfte (nicht aber Putzfrauen und andere Beschäftigte aus dem Fußvolk) versichern. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts begünstigte die kommerzielle Sicht der Dinge »die Versicherung von Leben aus rein ökonomischen Erwägungen« und dehnte das versicherbare Interesse auf »Unbekannte aus, zu denen lediglich eine geschäftliche Beziehung bestand«.37

Die moralischen Widerstände gegen die Verwandlung des Todes in eine Handelsware waren damit aber nicht aus der Welt geschafft. Ein vielsagender Indikator für das latente Widerstreben war laut Zelizer die Tatsache, dass Versicherungsagenten benötigt wurden. Versicherer fanden früh heraus, dass die Leute Lebensversicherungen nicht aus eigenem Antrieb kauften. Selbst als die Lebensversicherung an Akzeptanz gewann, »konnte der Tod nicht in eine routinemäßige geschäftliche Transaktion umgewandelt werden«. Jemand musste die Klienten aufspüren, ihre instinktive Zurückhaltung überwinden und sie von den Vorteilen des Produkts überzeugen.38

Dass der Gedanke an das Geschäft mit dem Tod vielen eher unangenehm war, erklärt auch die geringe Wertschätzung, mit denen man Versicherungsverkäufern traditionell begegnet. Es liegt nicht einfach nur daran, dass sie in enger Nachbarschaft mit dem Tod arbeiten – das machen Ärzte und Geistliche ebenfalls. Der Lebensversicherungsagent ist vielmehr deswegen stigmatisiert, weil er »ein ›Händler‹ des Todes ist, der sich mit der schlimmsten Tragödie, die Menschen widerfährt, seinen Lebensunterhalt sichert«. Dieses Stigma blieb im 20. Jahrhundert erhalten. Obwohl man sich bemühte, die Tätigkeit zu professionalisieren, galt es weiterhin als widerwärtig, den »Tod als Geschäft« zu behandeln.39

Weil ein versicherbares Interesse erforderlich war, blieb die Lebensversicherung auf diejenigen beschränkt, für die von dem zu versichernden Leben viel abhing (ob nun in familiärer oder finanzieller Hinsicht). Das trug dazu bei, die Lebensversicherung vom Wetten abzugrenzen – es fanden keine Wetten mehr auf das Leben Fremder statt, nur um Geld zu machen. Doch diese Unterscheidung war weniger klar, als es schien. Denn die Gerichte entschieden: Wenn jemand erst einmal eine (durch ein versicherbares Interesse gestützte) Versicherungspolice besitze, könne er damit nach Belieben verfahren; er durfte sie also auch an Dritte verkaufen. Diese Option der »Abtretung« lief darauf hinaus, dass eine Lebensversicherung als ganz normales Eigentum galt.40

1911 bestätigte der U. S. Supreme Court das Recht, eine Lebensversicherungspolice zu verkaufen oder »abzutreten«. Richter Oliver Wendell Holmes jr. räumte allerdings als Schriftführer folgendes Problem ein: Gab man den Menschen das Recht, ihre Lebensversicherungspolice an Dritte zu verkaufen, unterhöhlte man das Erfordernis eines versicherbaren Interesses. Das hieß, dass Spekulanten wieder in den Markt einsteigen konnten: »Ein Versicherungsvertrag auf ein Leben, an dem der Inhaber der Police kein Interesse hat, ist eine reine Wette, die beim Investor ein makabres Interesse am Ableben dieser Person erzeugt.«41

Dies war genau die Art von Problem, die sich ergab, als Jahrzehnte später die Lebensversicherungen für Todkranke aufkamen. Erinnern wir uns an die Versicherungspolice, die der aidskranke New Yorker Kendall Morrison an einen Dritten verkaufte. Für den Investor, der sie erwarb, war die Police eine reine Wette darauf, wie lange Morrison noch leben würde. Als Morrison sich weigerte, auf der Stelle zu sterben, entwickelte sich beim Investor das »makabere Interesse am Ableben dieser Person«. – dem er mit seinen Anrufen und Einschreiben Ausdruck gab. Holmes räumte ein, bei der Forderung nach einem versicherbaren Interesse sei es gerade darauf angekommen, zu verhindern, dass die Lebensversicherung zu einer Todeswette, zu »einer bösartigen Form des Glücksspiels« wurde. Doch sei dies kein ausreichender Grund, einen Zweitmarkt für Lebensversicherungen zu verhindern, denn: »Lebensversicherungen sind heutzutage zu einer der anerkanntesten Formen der Geldanlage und des selbst gewählten Sparens geworden. Soweit vernünftige Sicherheitserwägungen das zulassen, ist es daher wünschenswert, Lebensversicherungspolicen mit allen Eigenschaften von Eigentum auszustatten.«42

Ein Jahrhundert später hat sich das Dilemma, mit dem Holmes konfrontiert war, zugespitzt. Die Trennlinien zwischen Versicherung, Investment und Glücksspiel sind kollabiert. COLIs, Lebensversicherungen auf Todkranke und die Todeswetten der 90er Jahre waren nur der Anfang. Inzwischen haben Märkte für Leben und Tod die sozialen Zwecke und moralischen Normen transzendiert, von denen sie einst eingeschränkt wurden.

Terminkontrakte auf
Terrorakte

Nehmen wir an, es gäbe eine Todeswette, die nicht nur zur Unterhaltung da ist. Stellen wir uns eine Webseite vor, die uns in die Lage versetzen würde, nicht auf den Tod von Filmstars zu wetten, sondern darauf, welche ausländischen Politiker ermordet oder gestürzt werden, oder darauf, wo der nächste terroristische Anschlag verübt wird. Und nehmen wir weiter an, die Ergebnisse dieser Wetten würden der Regierung wertvolle Informationen zum Schutz der nationalen Sicherheit liefern. 2003 schlug eine Behörde des US-Verteidigungsministeriums eine solche Webseite vor. Im Pentagon nannte man sie »Markt für politische Analysen«; die Medien sprachen von einem Markt für »Terminkontrakte auf Terrorakte«.43

Diese Webseite war auf dem Mist der DARPA (Defense Advanced Research Projects Agency) gewachsen, einer Behörde mit dem Auftrag, innovative Technologien der Kriegsführung und des Sammelns von Geheimdienstinformationen zu entwickeln. Hinter dem Projekt stand die Idee, Investoren mit Terminkontrakten handeln zu lassen, die sich ursprünglich auf Szenarien im Nahen Osten bezogen. Musterszenarien spielten mit folgenden Möglichkeiten: Wird der Palästinenserführer Jassir Arafat ermordet? Wird König Abdullah II. von Jordanien gestürzt? Wird Israel zum Ziel eines Anschlags von Bioterroristen? Eine andere Musterfrage hatte mit dem Nahen Osten nichts zu tun: Wird Nordkorea einen nuklearen Angriff wagen?44

Weil die Händler ihre Vorhersagen mit eigenem Geld hätten absichern müssen, war anzunehmen, dass diejenigen, die bereitwillig eine Menge Geld wetteten, auch über die besten Informationen verfügten. Wenn Märkte für Terminkontrakte geeignet waren, den zukünftigen Preis von Öl, Aktien und Sojabohnen zu bestimmen – warum sollte man dann nicht ihre prognostische Kraft dazu nutzen, die nächste Terrorattacke vorherzusagen?

Als der Plan dem Kongress vorgestellt wurde, löste er Empörung aus. Sowohl Demokraten als auch Republikaner verurteilten diesen Markt für Futures, und das Verteidigungsministerium stoppte die Sache umgehend. Der oppositionelle Feuersturm nährte sich zum Teil von Zweifeln, ob der Plan funktionieren würde, vorwiegend aber von moralischer Abscheu angesichts der Möglichkeit eines vom Staat finanzierten Wettpools auf unheilvolle Ereignisse. Wie konnte die US-Regierung Menschen dazu einladen, auf Terrorismus und Tod zu wetten und damit Geld zu machen?45

»Können Sie sich vorstellen, dass ein anderes Land ein Wettbüro einrichten würde, in dem die Leute … auf die Ermordung eines amerikanischen Politikers wetten könnten?«, fragte der demokratische Senator Byron Dorgan aus North Dakota. Der demokratische Senator Ron Wyden aus Oregon schloss sich Dorgan an und verlangte, dass man den »abstoßenden« Plan beerdige. »Die Vorstellung von einem staatlichen Wettbüro für Gräueltaten und Terrorismus ist lächerlich und grotesk«, erklärte Wyden. Der demokratische Mehrheitsführer im Senat, Tom Daschle aus South Dakota, nannte das Programm »unverantwortlich und empörend« und fügte hinzu: »Ich kann es nicht glauben, dass irgendjemand ernsthaft vorschlagen sollte, dass wir mit dem Tod Handel treiben.« Die demokratische Senatorin Barabara Boxer aus Kalifornien meinte: »Das hat etwas wahrhaft Krankes an sich.«46

Auf das moralische Argument ging man im Pentagon nicht ein. Stattdessen gab man eine Erklärung ab, die das hinter dem Projekt stehende Prinzip erläuterte. Man brachte vor, der Handel mit Futures habe nicht nur die Preise von Handelsgütern, sondern sogar Wahlen und Einspielergebnisse von Hollywood-Filmen effizient vorhersagen können: »Forschungsergebnisse weisen darauf hin, dass Märkte verstreute und sogar verborgene Informationen extrem effizient, effektiv und frühzeitig zusammentragen können. Märkte für Futures haben bewiesen, dass sie beispielsweise Wahlergebnisse gut vorhersagen können; sie sind oft besser als Expertenmeinungen.«47

Zahlreiche Wissenschaftler, vor allem Ökonomen, stimmten dem zu. Einer schrieb, es sei »traurig, zu sehen, wie mit einer armseligen PR ein für geheimdienstliche Analysen potenziell wichtiges Werkzeug demontiert wird«. Der Proteststurm habe verhindert, dass das Programm angemessen eingeschätzt wurde. »Finanzmärkte sind unglaublich gut darin, Informationen zusammenzutragen«, schrieben zwei Stanford-Ökonomen in der Washington Post, »und liefern oft bessere Vorhersagen als herkömmliche Verfahren.« Sie führten den Iowa Electronic Market an, einen online arbeitenden Markt für Futures, der die Ergebnisse mancher Präsidentschaftswahlen besser vorausgesagt habe als alle Umfragen. Und noch ein Beispiel: Terminkontrakte auf Orangensaft. »Der Markt für Futures auf Orangensaftkonzentrat sagt das Wetter in Florida zuverlässiger voraus als der staatliche Wetterdienst.«48

Märkte für Futures haben gegenüber dem herkömmlichen Sammeln von Geheimdienstinformationen den Vorzug, dass sie nicht den Verzerrungen von Informationen unterworfen sind, die durch bürokratischen und politischen Druck verursacht werden. Experten aus der zweiten Reihe können direkt auf den Markt gehen und ihr Wissen zu Geld machen. Das könnte Informationen liefern, die von höheren Rängen vielleicht unterdrückt würden und sonst nie ans Licht kämen. Erinnern wir uns an den Druck, der auf die CIA im Vorfeld des Irak-Krieges 2003 ausgeübt wurde: Der Dienst sollte zu dem Schluss kommen, dass Saddam Hussein Massenvernichtungswaffen besitze. Eine unabhängige Wettseite im Netz hätte in dieser Frage mehr Skepsis walten lassen als George Tenet, Direktor der CIA, der die Existenz solcher Waffen als »todsichere Sache« bezeichnete.49

Doch die Plausibilität einer solchen Webseite für Terminkontrakte auf Terrorattacken beruht auf einem umfassenderen Anspruch. Die Verfechter des Projekts artikulierten ein Credo, das im Zeitalter des unbedingten Glaubens an die Märkte entstanden war: Märkte stellen demnach nicht nur die effizientesten Verfahren für die Produktion und Zuteilung von Gütern bereit, sondern eignen sich auch bestens dazu, Informationen zu sammeln und die Zukunft vorherzusagen. Der Future-Markt von DARPA hatte den Vorzug, dass er die »träge Gemeinschaft der Nachrichtendienste mit der Nase auf die prognostische Kraft der freien Märkte stoßen würde«. Er würde unsere Augen für eine Erkenntnis öffnen, »die Entscheidungstheoretikern schon seit Jahrzehnten bekannt ist: Die Wahrscheinlichkeit von Ereignissen kann mithilfe von Wetten gemessen werden, die Menschen darauf abschließen.«50

Die Behauptung, dass freie Märkte nicht nur effizient seien, sondern auch hellsehen könnten, ist bemerkenswert. Nicht alle Ökonomen teilen diese Ansicht. Manche meinen, Märkte für Futures seien zwar dazu geeignet, den Weizenpreis vorherzusagen, würden aber Schwierigkeiten haben, seltene Ereignisse wie Terrorakte vorauszusagen. Andere behaupten, beim Sammeln von Geheimdienstinformationen würden Expertenmärkte besser funktionieren als Märkte, die allen offenstehen. Der Plan von DARPA wurde auch noch aus spezielleren Gründen in Frage gestellt: Könnte der Markt von Terroristen manipuliert werden, die ihn vielleicht für »Insiderhandel« missbrauchen, um von einem Anschlag zu profitieren oder um ihre Pläne durch Leerverkäufe von Terminkontrakten auf Terrorakte zu verschleiern? Und würden die Leute wirklich darauf wetten, dass etwa der König von Jordanien ermordet wird, wenn sie wüssten, dass die US-Regierung die Information nutzen würde, um diese Ermordung zu verhindern (was wiederum ihre Wette durchkreuzen würde)?51

Abgesehen von den praktischen Aspekten: Wie steht es mit dem moralischen Einwand, dass ein von der Regierung geförderter Wettpool auf Tod und Verderben widerwärtig ist? Nehmen wir an, die praktischen Probleme könnten überwunden werden und es wäre möglich, einen Markt für Terrorismus-Futures einzurichten, der Mordanschläge und terroristische Anschläge besser vorhersagen könnte als herkömmliche Geheimdienste. Wäre die moralische Widerwärtigkeit von Wetten auf den Tod anderer denn ein hinreichender Grund, ihn zu verwerfen?

Würde die Regierung eine Webseite fördern, auf der auf den Tod von Prominenten gewettet würde, wäre die Antwort klar: Da der gesellschaftliche Nutzen fraglich und die kaltschnäuzige Gleichgültigkeit – oder noch schlimmer: eine makabre Faszination für den Tod und das Unglück anderer – nur allzu offensichtlich ist, würde sie davon Abstand nehmen. Wettveranstaltungen dieser Art sind schon schlimm genug, wenn sie privat betrieben werden. Mutwillige Wetten auf den Tod zersetzen menschliches Mitgefühl und Anstand und sollten vom Staat nicht gefördert, sondern entmutigt werden.

Komplizierter wird der Markt für Terrorismus-Futures dadurch, dass er anders als die Todeswetten vorgibt, Gutes zu tun. Falls er funktioniert, liefert er wertvolle Geheimdienstinformationen. Daraus ergibt sich eine Analogie zu den Lebensversicherungen für Todkranke. In beiden Fällen ist das moralische Dilemma ähnlich: Sollten wir ein lohnendes Ziel – die Finanzierung medizinischer Bedürfnisse für einen Sterbenden, die Vereitelung eines Terroranschlags – fördern und dafür den moralischen Preis zahlen, dass wir Investoren vom Tod und Unglück anderer profitieren lassen?

So mancher wäre dem gar nicht abgeneigt. Ein Ökonom, der an der Planung des DARPA-Projekts beteiligt war, äußerte etwa: »Im Namen geheimdienstlicher Aufklärung lügen, betrügen, stehlen und töten die Leute. Im Vergleich dazu war unser Vorschlag geradezu harmlos. Wir hatten einfach nur vor, einigen Leuten Geld abzunehmen und es anderen zukommen zu lassen – je nachdem, wer Recht hat.«52

Doch diese Antwort ist zu einfach. Sie übersieht die Art und Weise, in der Märkte Normen verdrängen. Als Senatoren und Leitartikler den Markt für Terrorismus-Futures als »empörend«, »widerwärtig« und »grotesk« verurteilten, verwiesen sie darauf, wie moralisch abstoßend es ist, einen finanziellen Anspruch auf den Tod eines anderen zu gründen und zu hoffen, dass derjenige bald stirbt, damit man seinen Gewinn einstreichen kann. Obwohl es in unserer Gesellschaft Bereiche gibt, in denen das bereits geschieht, wirkt es moralisch korrumpierend, wenn der Staat eine Institution fördert, die das zur Routine werden lässt.

Unter besonderen Umständen wäre es möglicherweise den Preis wert. Dass etwas korrumpiert wird, ist nicht immer das entscheidende Argument. Aber es richtet unser Augenmerk auf eine moralische Überlegung, die den Marktenthusiasten oft entgeht: Wenn wir davon überzeugt wären, dass ein Markt für Terrorismus-Futures der einzige oder beste Weg wäre, das Land vor einem Terroranschlag zu bewahren, könnten wir beschließen, mit der verminderten moralischen Empfindsamkeit zu leben, für die ein solcher Markt sorgen würde. Doch dies wäre ein Pakt mit dem Teufel, und es wäre wichtig, sich dessen bewusst zu bleiben.

Wenn das Geschäft mit dem Tod zur Routine wird, lässt sich eine moralische Kritik daran nur schwer aufrechterhalten. Das muss man im Kopf behalten in einer Zeit, in der Lebensversicherungen – wie im 18. Jahrhundert in England – zu einem Werkzeug der Spekulation werden. Heutzutage sind Wetten auf das Leben Fremder kein Zeitvertreib mehr, sondern ein wichtiger Wirtschaftszweig.

Das Leben der Anderen

Lebensverlängernde Aidsmedikamente waren ein Segen für die Menschheit, aber ein Fluch für die Firmen, die Todkranke versichern. Anleger blieben auf der Verpflichtung sitzen, Prämien für Lebensversicherungspolicen zu bezahlen, die einfach nicht so schnell »reif« wurden wie erwartet. Wollte die Branche überleben, musste sie verlässlichere Sterbefälle finden. Nachdem sie Krebspatienten und andere mit tödlich verlaufenden Krankheiten ins Visier genommen hatte, kam sie auf eine kühne Idee: Warum sollte sich das Geschäft auf Leute mit Krankheiten beschränken? Könnte man nicht alten Menschen ihre Lebensversicherungen abkaufen, die bereit waren, sie zu Bargeld zu machen?

Alan Buerger war ein Pionier dieses neuen Wirtschaftszweigs. Anfang der 90er hatte er COLIs an Unternehmen verkauft. Als der Kongress die Steuervorteile für diese Versicherungen kürzte, erwog Buerger, auf Lebensversicherungen für Todkranke umzusatteln. Dann aber hatte er die Eingebung, dass gesunde, wohlhabende Senioren einen größeren, verheißungsvolleren Markt boten. »Ich fühlte mich wie vom Blitz getroffen«, erklärte Buerger gegenüber dem Wall Street Journal.53

Im Jahr 2000 begann er, Lebensversicherungspolicen von Senioren von 65 Jahren an aufwärts zu kaufen und an Anleger weiterzuverkaufen. Das Geschäft funktioniert wie das mit den Lebensversicherungen für Todkranke, nur dass die Lebenserwartung höher ist und die Policen im Regelfall wertvoller sind – gewöhnlich eine Million Dollar oder mehr. Investoren kaufen die Policen von Leuten, die sie nicht behalten wollen, bezahlen anschließend die Prämien und kassieren die Versicherungssumme, wenn die Versicherten sterben. Um dem Makel zu entgehen, der aus der Nähe zur Lebensversicherung für Todkranke kam, nannte sich der neue Geschäftszweig »life settlements«. Buergers Firma Coventry First gehört zu den erfolgreichsten Unternehmen der Branche.54

Das Geschäftsfeld präsentiert sich als »freier Markt für Lebensversicherungen«. Zuvor war denjenigen, die ihre Lebensversicherungspolice nicht mehr behalten wollten, nichts anderes übrig geblieben, als sie verfallen oder vom Versicherer für einen kleinen Betrag auszahlen zu lassen. Jetzt können sie für ihre nicht mehr gewünschten Policen mehr Geld erzielen, indem sie sie an Anleger abtreten.55

Das hört sich nach einem guten Geschäft für alle Beteiligten an. Senioren erhalten für ihre Policen einen anständigen Preis, und Investoren ernten den Profit, wenn die Policen fällig werden. Doch der Zweitmarkt für Lebensversicherungen hat für einige Kontroversen und eine Welle von Gerichtsverfahren gesorgt.

Ein strittiger Punkt ergibt sich aus den Kalkulationen der Versicherungsbranche. Die Versicherer mögen die Abtretung von Lebensversicherungen nicht. Bei der Festsetzung ihrer Prämien waren sie davon ausgegangen, dass eine gewisse Zahl von Versicherten ihre Verträge verfallen lassen, ehe sie sterben. Sobald die Kinder erwachsen sind und für die Gattin gesorgt ist, stellen die Inhaber der Police oft die Prämienzahlung ein und lassen ihre Policen verfallen. Tatsächlich kommt es bei fast 40 Prozent aller Verträge nicht zur Auszahlung. Doch wenn immer mehr Versicherte ihre Policen an Investoren verkaufen, verfallen immer weniger Verträge, und die Versicherer müssen häufiger die fälligen Versicherungssummen auszahlen (nämlich an die Anleger, die weiterhin die Prämien bezahlen).56

Eine weitere Kontroverse bezieht sich auf die moralische Problematik, gegen ein Leben zu wetten. Wie bei Versicherungen für Todkranke hängt die Rendite der Geldanlage davon ab, wann der Versicherte stirbt. 2010 berichtete das Wall Street Journal, dass Life Partners Holdings (die Firma handelt mit abgetretenen Versicherungen) die Lebenserwartung der Leute, deren Verträge sie an Investoren verkaufte, dramatisch unterschätzt hatte. So hatte die Firma Anlegern eine Police über zwei Millionen Dollar verkauft, die das Leben eines 79 Jahre alten Ranchers in Idaho versicherte. Die Firma behauptete, der Mann habe nur noch zwei bis vier Jahre zu leben. Mehr als fünf Jahre später ging es dem mittlerweile 84 Jahre alten Mann immer noch blendend; er lief auf dem Laufband, stemmte Gewichte und hackte Holz. »Ich bin gesund wie ein Pferd«, ließ er wissen. »Es wird eine Menge enttäuschte Investoren geben.«57

Das Wall Street Journal fand heraus, dass der fitte Rancher nicht die einzige enttäuschende Geldanlage war. Bei 95 Prozent der von Life Partners vermittelten Policen lebte der Versicherte länger als vorausgesagt. Die übertrieben optimistischen Vorhersagen wurden von einem Arzt in Reno, Nevada, erstellt, einem Angestellten der Firma. Kurz nach Erscheinen des Artikels leiteten Behörden des Staates Texas wegen der dubiosen Schätzungen Ermittlungen gegen das Unternehmen ein.58

Eine weitere Firma für »life settlement« wurde 2010 vom Staat geschlossen, weil sie Investoren hinsichtlich der Lebenserwartung getäuscht hatte. Sharon Brady, einer ehemaligen Gesetzeshüterin in Fort Worth, hatte man erzählt, sie könne mit einer Geldanlage auf die Lebenserwartung älterer Unbekannter eine jährliche Rendite von 16 Prozent erzielen. »Sie nahmen ein Buch und zeigten mir Fotos von Leuten, während ein Arzt erklärte, was ihnen fehlte und wie lange sie noch zu leben hätten«, erzählte Brady. »Man soll nicht den Tod von jemandem wünschen, aber Fakt ist, dass du Geld machst, wenn er stirbt. Du wettest wirklich darauf, wann sie sterben.«

Brady sagte, sie habe das »als ein wenig seltsam empfunden, aber man kriegt so viel Zinsen für das Geld, das man anlegt«. Der Vorschlag war beunruhigend, aber finanziell attraktiv. Sie und ihr Mann legten also 50 000 Dollar an – nur um später zu erfahren, dass die Schätzungen zur Sterblichkeit zu schön gewesen waren, um wahr zu sein. »Wie es aussah, würden die Leute doppelt so lange leben, wie der Arzt uns weisgemacht hatte.«59

Umstritten waren auch die erfinderischen Wege der Branche, an verkäufliche Policen zu kommen. Mitte der Nullerjahre war der Zweitmarkt für Lebensversicherungen zum Big Business geworden. Hedgefonds und Finanzinstitute wie die Credit Suisse und die Deutsche Bank gaben Milliarden aus, um die Lebensversicherungspolicen reicher Senioren aufzukaufen. Als die Nachfrage nach solchen Policen zunahm, fingen einige Makler an, ältere Menschen ohne jeden Versicherungsvertrag dazu zu überreden, hohe Policen auf ihr Leben abzuschließen und sie dann Spekulanten zum Weiterverkauf zu überlassen.60

2006 schätzte die New York Times, dass der Markt für solche von Spekulanten initiierten Policen fast 13 Milliarden Dollar jährlich ausmachte. Sie schilderte den frenetischen Wettlauf, neue Geschäfte an Land zu ziehen: »Die Abschlüsse sind so lukrativ, dass ältere Menschen in jeder erdenklichen Weise umworben werden. In Florida haben Investoren kostenlose Kreuzfahrten für Senioren finanziert, die bereit sind, sich ärztlichen Untersuchungen zu unterziehen und an Bord Anträge für eine Lebensversicherung zu stellen.«61

In Minnesota kaufte ein 82-Jähriger bei sieben verschiedenen Unternehmen Lebensversicherungen im Wert von 120 Millionen Dollar und verkaufte die Policen dann mit einem hübschen Gewinn an Spekulanten. Die Versicherer beklagten lautstark, ein rein spekulativer Einsatz von Lebensversicherungen laufe ihrem eigentlichen Zweck zuwider, Familien vor dem finanziellen Ruin zu bewahren; spekulative Policen würden die Kosten von Lebensversicherungen für legitime Kunden in die Höhe treiben.62

Einige der Fälle landeten schließlich vor Gericht. Gelegentlich verweigerten die Versicherer die Auszahlung der Versicherungssumme; sie behaupteten, den Spekulanten fehle ein versicherbares Interesse. Die auf Abtretung von Policen spezialisierten Firmen wiederum brachten vor, viele Versicherer, darunter auch der Branchenriese AIG (American International Group), hätten die spekulativen Versicherungsmodelle und deren hohe Prämien begrüßt und sich erst beschwert, als es an die Auszahlung ging. Außerdem verklagten ältere Klienten die Spekulanten, weil diese sie dazu gedrängt hätten, Lebensversicherungen für den Wiederverkauf zu erwerben.63

Einer der unzufriedenen Kunden im Geschäft mit spekulativen Policen war der Talkshow-Moderator Larry King, der zwei Policen mit einem Nennwert von insgesamt 15 Millionen Dollar auf sein Leben abgeschlossen und sofort weiterverkauft hatte. Für seinen Aufwand hatte King 1,4 Millionen erhalten, klagte aber vor Gericht, der Makler habe ihn bezüglich Provisionen, Gebühren und steuerlichen Folgen getäuscht. King beschwerte sich auch darüber, dass er nicht herausfinden könne, wer inzwischen ein finanzielles Interesse an seinem Tod habe. »Wir wissen nicht, ob der Eigentümer ein Hedgefonds von der Wall Street oder ein Pate der Mafia ist«, erklärte sein Anwalt.64

Die Schlacht zwischen Versicherern und Spekulanten wurde überall im Land ausgefochten. 2007 gründeten Goldman Sachs, Credit Suisse, UBS, Bear Stearns und andere Banken die Institutional Life Markets Association; sie sollte die Abtretungsbranche fördern und sie politisch gegen alle Anfechtungen verteidigen. Die Hauptaufgabe des Verbandes war die Schaffung »innovativer Kapitalmarktlösungen« für den »auf Lebenserwartung und Sterblichkeit bezogenen Markt«.65 Das war ein Euphemismus für Todeswetten.

2009 hatten die meisten Bundesstaaten Gesetze verabschiedet, die von Spekulanten initiierte Lebensversicherungen verboten. Allerdings war es den Maklern weiterhin erlaubt, mit Lebensversicherungspolicen kranker oder alter Menschen zu handeln, die diese aus eigenem Antrieb erworben hatten. Um weitere Regulierungen abzuwehren, versuchte die Abtretungsbranche, einen prinzipiellen Unterschied zwischen »Lebensversicherungen im Besitz Außenstehender« (was sie befürwortete) und »durch Außenstehende initiierte Lebensversicherungen« (was sie nun ablehnte) herbeizureden.66

Moralisch gesehen gibt es da keinen großen Unterschied. Es wirkt zwar besonders schäbig, wenn Spekulanten ältere Bürger dazu bringen, Lebensversicherungen um eines schnellen Profits willen zu kaufen und weiterzureichen. Dies widerspricht ganz sicher dem ursprünglichen Zweck der Lebensversicherungen, nämlich Familien und Betriebe davor zu bewahren, durch den Tod eines Ernährers oder einer Führungskraft finanziell abzustürzen. Doch schäbig sind die Abtretungen von Lebensversicherungen eigentlich immer. Es ist moralisch fragwürdig, auf den Tod Dritter zu spekulieren, egal, wer die Police abschließt.

Bei seiner Aussage anlässlich einer Anhörung in Florida brachte Doug Head als Sprecher der Abtretungsbranche vor, dass es »Eigentumsrechte sichert und für den Sieg von Wettbewerb und freier Marktwirtschaft steht«, wenn man es den Menschen erlaube, ihre Lebensversicherungen an Spekulanten zu verkaufen. Sobald jemand mit einem legitimen versicherbaren Interesse eine Police erwerbe, sollte es ihm oder ihr freistehen, sie an den Meistbietenden zu verkaufen. »Eine ›Lebensversicherung im Besitz Dritter‹ ist die natürliche Folge des grundlegenden Eigentumsrechts eines Policenbesitzers, die Police auf dem Markt zu veräußern.« Head bestand darauf, dass Policen, die von Dritten abgeschlossen oder angestoßen würden, etwas anderes seien. Sie seien nicht legitim, weil der Spekulant, der die Police initiiere, kein versicherbares Interesse habe.67

Dieses Argument kann nicht überzeugen. In beiden Fällen hat der Spekulant, der die Police am Ende besitzt, kein versicherbares Interesse an dem älteren Menschen, dessen Tod die Auszahlung auslöst. In beiden Fällen ergibt sich eine finanzielle Beteiligung am frühen Tod eines Fremden. Denn wenn ich, wie Head behauptete, grundsätzlich das Recht habe, Versicherungen auf mein eigenes Leben zu kaufen und zu verkaufen – warum sollte es dann eine Rolle spielen, ob ich dieses Recht aus eigenem Antrieb ausübe oder auf Anregung eines anderen? Wenn Abtretungen den Vorzug haben, dass sie »den Geldwert einer Versicherungspolice freisetzen«, die mir bereits gehört, so haben von Spekulanten initiierte Lebensversicherungspolicen den Vorzug, dass sie den Geldwert meiner schwindenden Jahre freisetzen. In beiden Fällen erwirbt ein Dritter ein Interesse an meinem Tod, und ich erhalte Geld dafür, dass ich mich in diese Lage begebe.

Todesanleihen

Damit der aufstrebende Markt für Todeswetten erwachsen wurde, fehlte nur noch ein Schritt: dass die Wall Street daraus Wertpapiere machte. Wie die New York Times 2009 berichtete, planten die Investmentbanken, abgetretene Lebensversicherungen zu kaufen, in Anleihen zu packen und diese Papiere an Pensionsfonds und andere Großanleger zu verkaufen. Die Bonds würden ein laufendes Einkommen durch Auszahlungen erzielen, die beim Tod der ursprünglichen Inhaber fällig würden. Wall Street würde mit den Lebensversicherungen ähnlich verfahren wie während der letzten Jahrzehnte mit den Hypotheken.68

Laut der New York Times entwickelte »Goldman Sachs einen handelbaren Index für abgetretene Lebensversicherungen, mit dem Investoren darauf wetten können, ob Menschen länger als erwartet leben oder früher als geplant sterben«. Und Credit Suisse schuf »eine finanzielle Montagelinie, mit der Lebensversicherungspolicen in großer Zahl gekauft, gebündelt und wieder verkauft werden – in gleicher Weise, wie die Wall Street es mit den Subprime-Papieren gehalten hat«. Mit einem Volumen von 26 Billionen Dollar allein in den USA und einem wachsenden Handel mit abgetretenen Lebensversicherungspolicen erhoffen sich die Banken eine Möglichkeit, die nach dem Zusammenbruch des Hypothekenmarkts verlorenen Einnahmen ausgleichen zu können.69

Obwohl noch einige Rating-Agenturen zu überzeugen sind, erscheint es möglich, eine halbwegs sichere Anleihe auf Basis abgetretener Lebensversicherungen zu schaffen. So, wie Hypotheken-Wertpapiere Kredite aus verschiedenen Teilen des Landes bündeln, könnte auch eine durch abgetretene Lebensversicherungen gesicherte Anleihe Policen von Menschen mit »einer breiten Spanne von Krankheiten bündeln – etwa Leukämie, Lungenkrebs, Herzleiden, Brustkrebs, Diabetes oder Alzheimer«. Ein solcherart diversifiziertes Portfolio würde Investoren ruhig schlafen lassen, weil die Entdeckung eines Heilmittels für eine der Krankheiten nicht dazu führen würde, dass der Preis des Papiers abstürzt.70

Der Versicherungsriese AIG, dessen komplexe Finanzgeschäfte ihren Teil zur Finanzkrise von 2008 beitrugen, hat bereits Interesse bekundet. Als Versicherungsgesellschaft hat sich AIG zwar gegen die Branche für Versicherungsabtretungen gestellt und sie vor Gericht bekämpft. Doch insgeheim hat die Firma von den aktuell umlaufenden abgetretenen Policen im Wert von 45 Milliarden Dollar Papiere im Wert von 18 Milliarden aufgekauft und hofft nun, sie in Wertpapiere verpacken und als Obligationen verkaufen zu können.71

Aber welchen moralischen Status haben die Todesanleihen eigentlich? In mancher Hinsicht sind sie mit den Todeswetten vergleichbar, die ihnen zugrunde liegen. Wenn es moralisch verwerflich ist, auf das Leben von Menschen zu wetten und von ihrem Tod zu profitieren, dann teilen Todesanleihen diesen Makel mit den verschiedenen anderen Praktiken, die wir uns angesehen haben – COLIs, Lebensversicherungen für Todkranke, Todeswetten und den rein spekulativen Handel mit Lebensversicherungen. Man könnte argumentieren, dass die Anonymität und die Abstraktheit von Todesanleihen die abstumpfende Wirkung auf unser moralisches Empfinden in gewissem Maß verringern. Sobald Lebensversicherungspolicen erst in riesigen Paketen gebündelt sind und dann scheibchenweise an Pensionsfonds und Hochschulstiftungen verkauft werden, ist niemand mehr am Tod eines speziellen Menschen interessiert. Andererseits: Wenn Gesundheitspolitik, Umweltnormen, verbesserte Ernährungsgewohnheiten oder sportliche Aktivitäten für mehr Gesundheit und höhere Lebenserwartung sorgten, würden die Kurse der Anleihen fallen. Doch irgendwie scheint es weniger verstörend zu sein, wenn jemand gegen die Volksgesundheit wettet, als wenn er die Tage zählt, die einem New Yorker mit Aids oder dem Rancher aus Idaho noch bleiben, bis er stirbt.

Oder vielleicht doch nicht?

Manchmal entscheiden wir uns dafür, mit einem moralisch zersetzenden Marktverhalten zu leben – wegen des damit verbundenen gesellschaftlichen Nutzens. Die Lebensversicherungen begannen als ein solcher Kompromiss. Um Familien und Betriebe gegen die Risiken eines unerwarteten Todesfalls abzusichern, kam unsere Gesellschaft im Lauf der letzten zwei Jahrhunderte widerstrebend zu dem Schluss, dass es Leuten mit einem versicherbaren Interesse erlaubt sein sollte, eine Wette auf den Tod abzuschließen. Doch wie sich zeigte, war die spekulative Versuchung zu groß.

Wie der aktuelle Massenmarkt für Leben und Tod belegt, sind alle Bemühungen, Versicherungen und Wetten voneinander zu trennen, gescheitert. Während die Wall Street beim Handel mit Todesanleihen voll aufdreht, finden wir uns in der amoralischen Welt von Lloyd’s Kaffeehaus in London wieder – nur dass die spekulativen Geschäfte mittlerweile eine Größenordnung erreicht haben, die die damaligen Wetten auf den Tod und das Unglück Fremder vergleichsweise idyllisch erscheinen lässt.