KAPITEL 1

Das Gegenteil einer großen Tugend ist auch eine große Tugend

A N KEINEM ORT DER WELT WÜRDE MAN MEHR DURCH haltegeschichten erwarten – jedenfalls pro Höhenmeter – als in den Gipfelregionen des Mount Everest. Eine derart erbarmungslose Umgebung erfordert Hartnäckigkeit, nur allein um zu überleben, ganz zu schweigen davon, den Gipfel zu erreichen. Sie haben sicher schon viele solcher Geschichten gehört, auf alle Fälle die berühmtesten.

Und so ist der Everest auch ein geeigneter Ort, um ein Buch über die Tugend des Aufgebens zu beginnen.

Diese Everest-Geschichte handelt von drei Bergsteigern, die Sie wahrscheinlich nicht kennen: Dr. Stuart Hutchison, Dr. John Taske und Lou Kasischke. Sie gehörten zu einer kommerziellen geführten Mount-Everest-Expedition, angeboten von Adventure Consultants, in den 1990er-Jahren eine der erfolgreichsten, angesehensten Agenturen, die Bergsteiger auf die Gipfel brachte. Ihre diesjährige Expedition bestand aus drei Bergführern, acht Sherpas und acht Kunden.

Es dauert mehrere Wochen, in denen abwechselnd geklettert und akklimatisiert und die Ausrüstung den Berg hochgetragen wird, ehe die Expeditionsteilnehmer von Lager 4 aus, sofern das Wetter es zulässt, den Gipfel zu erklimmen versuchen können. Hutchison, Taske und Kasischke hatten sich miteinander angefreundet und kletterten in diesem Jahr gemeinsam auf den zahlreichen Trecks zwischen dem Basislager (5300 Meter) und Lager 4 (7900 Meter).

Agenturen wie Adventure Consultants hatten es relativ unerfahrenen Kletterern möglich gemacht, den Gipfel des höchsten Berges der Welt zu besteigen. Man brauchte bloß 70.000 Dollar, um die Kosten abzudecken, genügend freie Zeit, um mehrere Monate in Nepal zu verbringen, und eine gute Kondition. Diese letzte Anforderung ist natürlich keine Garantie für Erfolg oder Sicherheit. Die Luft oberhalb von 7600 Metern ist zu dünn, um menschliches Leben für einen längeren Zeitraum zu ermöglichen. Darüber hinaus liegt die Durchschnittstemperatur während der Klettersaison bei minus 26 Grad.

Jeder, der den Gipfel erreicht (oder einigermaßen hoch den Berg hinaufgelangt), muss unter Bedingungen ausharren können, mit denen die meisten Menschen nicht klarkommen würden.

Im Basislager hatte der Expeditionsleiter den Kunden eingeschärft, wie wichtig es ist, sich streng an die Umkehrzeiten der täglichen Klettertouren den Berg hinauf zu halten, während sie vom Fuß des Mount Everest zu jedem Zwischenlager und schließlich zum Gipfel emporstiegen.

Dort im Basislager hatte der Expeditionsführer die Umkehrzeit für den Gipfeltag auf 13 Uhr festgesetzt.

Die Umkehrzeit ist, einfach ausgedrückt, die Zeit, zu der die Kletterer ihren Aufstieg stoppen müssen, selbst wenn sie ihr Ziel noch nicht erreicht haben, und zum Lager zurückkehren müssen. Umkehrzeiten sollen die Bergsteiger davor schützen, sich beim Abstieg in Gefahr zu bringen, der höhere Anforderungen stellt als der Aufstieg.

Beim Abstieg drohen Erschöpfung, Sauerstoffmangel (Hypoxie), Erfrierungen, Wetterumschlag, Verirren oder Desorientiertheit, der Sturz in Gletscherspalten und Dunkelheit, wenn man zu lange dem Gipfel entgegenstrebt. Dunkelheit und Müdigkeit erhöhen die Wahrscheinlichkeit, einen Fehler zu machen und auf dem schmalen Südostgrat abzurutschen, wo ein falscher Schritt Sie 2400 Meter tief nach Tibet oder 3600 Meter tief nach Nepal in den Tod stürzen lassen kann.

Tatsächlich verunglücken am Mount Everest achtmal so viele Menschen tödlich beim Abstieg wie beim Aufstieg.

Kein Kunde bringt all die notwendigen Opfer, um den Everest zu besteigen, in der Absicht, kurz vor dem Gipfel aufzugeben. Und der Sog des Gipfels beschränkt sich nicht auf die Amateurbergsteiger. Auch die Hilfsführer der Expeditionen beweisen ihre Qualifikation, indem sie den Everest besteigen, vielleicht mehrfach. Die Expeditionsleiter konkurrieren miteinander und vermarkten ihre Erfolge dadurch, dass sie ihre Kunden auf die Spitze des Berges bringen. Nicht mal die Sherpas sind gegen den Sog immun. Ihre Marktfähigkeit und ihr Ruf steigen mit jeder Gipfelbezwingung.

Die Umkehrzeiten sollen die Menschen davor schützen, schlechte Entscheidungen zu treffen und weiterzuklettern, wenn sie sich im Schatten des Gipfels befinden, und legen dem Kletterplan drei entscheidende Konzepte zugrunde. Das erste ist, dass Beharrlichkeit nicht immer eine Tugend ist. Ob es klug ist, weiter den Berg hinaufzusteigen, hängt sowohl von den Kletterbedingungen als auch vom Zustand der Kletternden ab. Wenn diese Bedingungen einen Abbruch erfordern, ist es eine gute Entscheidung, dem Signal Folge zu leisten.

Das zweite ist, dass ein Plan für den Zeitpunkt des Abbruchs lange festgelegt werden sollte, bevor Sie vor der Abbruchentscheidung stehen. Es trägt dem von Daniel Kahneman hervorgehobenen Umstand Rechnung, dass der schlechteste Zeitpunkt für eine Entscheidung dann ist, wenn man »mittendrin« steckt. Auf dem Mount Everest, wenn der Gipfel in Reichweite ist und Sie so viel geopfert haben, um es bis hierhin zu schaffen, sind Sie wahrlich mittendrin. An diesem Punkt sind Sie am wenigsten in der Lage, eine Entscheidung über Weitermachen oder Aufhören zu treffen. Deshalb werden die Umkehrzeiten lange vor Ihrer Konfrontation mit dieser Entscheidung festgelegt.

Das dritte und vielleicht wichtigste: Die Umkehrzeit dient der Erinnerung daran, dass das wahre Ziel beim Besteigen des Mount Everest nicht das Erreichen des Gipfels ist. Es ist verständlicherweise der Fokus enormer Aufmerksamkeit, aber das ultimative Ziel im weitesten, realistischsten Sinne ist es, sicher zum Fuß des Berges zurückzukehren.

Die unsichtbaren Männer auf dem Dach der Welt

Hutchison, Taske und Kasischke gehörten zu einer von drei Expeditionen, die den Gipfel am selben Tag zu erreichen versuchten. Die Bergspitze war überfüllt. Überfüllter, als sie sein sollte.

Am Vorabend hatte der Expeditionsführer mit der geringsten Erfahrung angekündigt, dass seine Gruppe nicht am nächsten Tag auf den Gipfel steigen würde. Doch gegen Mitternacht (um diese Zeit beginnt der Gipfeltag) kamen sie doch im Lager 4 an. Infolgedessen brach eine ungewöhnlich große Gruppe von vierunddreißig Personen von Lager 4 auf.

Hutchison, Taske und Kasischke steckten ganz am Ende des Trupps fest, hinter ein paar Bergsteigern aus jener Gruppe. Diese waren langsam und schwer zu überholen, weil sie dicht beisammen blieben. Das war ein Problem, denn man muss einen Großteil des Weges an einem einzelnen befestigten Seil entlangsteigen (erfahrene Kletterer wissen, dass man sich verteilen muss, damit schnellere Bergsteiger vorbeikönnen). Mit ihnen steckte auch der Expeditionsleiter von Adventure Consultant fest, den Hutchison irgendwann fragte, wie lange es dauern würde, bis sie den Gipfel erreichten.

Die Antwort lautete, ungefähr drei Stunden. An diesem Punkt begann der Expeditionsführer, schneller zu klettern im Versuch, die ungeübten Kletterer vor ihnen zu überholen.

Hutchison nahm Taske und Kasischke beiseite. Ein Blick auf ihre Uhren zeigte, dass es fast 11.30 Uhr war. Sie stiegen schon seit fast zwölf Stunden aufwärts. Alle drei erinnerten sich, dass ihr Expeditionsführer im Basislager gesagt hatte, 13 Uhr sei die Umkehrzeit am Gipfeltag.

Hutchison teilte seine Meinung mit: Ihr Gipfelanstieg war beendet. Es wäre lange nach 13 Uhr, bis sie den Gipfel erreichten, selbst wenn man etwas Spielraum einkalkulierte. Sie alle wussten, dass die Umkehrzeit sie vor den Gefahren während des Abstiegs schützen sollte. Aufgrund der rauen Umgebung in 7900 Metern und mehr Höhe war ein überaus wahrscheinliches Ergebnis all dieser Gefahren natürlich der Tod.

Taske stimmte einer Umkehr zu, doch Kasischke wollte nicht aufgeben. Er brauchte den Gipfel des Everest, um den letzten von »Sieben Gipfeln« zu bezwingen, die höchsten Berge auf jedem Kontinent. Die Sieben Gipfel erfordern einen beträchtlichen Einsatz von Zeit und Geld. Etliche dieser Gipfel befinden sich in abgelegenen, schwer erreichbaren Gegenden. (Wenn Sie glauben, es wäre schwer, auf den Everest zu gelangen, versuchen Sie mal, eine Reise zum Vinson-Massiv zu planen, dem höchsten Punkt der Antarktis.) Ein Abbruch hätte bedeutet, dieses Ziel für mindestens ein Jahr aufzugeben.

Hutchison und Taske schafften es, Kasischke zu überreden, und um 11.30 Uhr stellten sie den Versuch der Gipfelbesteigung ein. Sie kehrten um und schafften sicher und ohne Zwischenfälle den Weg zurück zum Lager 4 und später vom Berg hinunter.

Es liegt wohl auf der Hand, warum das keine berühmte Geschichte ist. Schließlich ist sie ziemlich ereignislos. Die Helden unserer Geschichte standen drei Stunden vor dem Gipfel des Mount Everest, befolgten die Regeln und brachen ihren Aufstieg zur Bergspitze ab. Sie sahen niemals dem Tod ins Auge. Stattdessen drehten sie um und lebten.

Das ist höhepunktlos. Nicht gerade der Stoff, aus dem Filme gemacht werden.

Das Lustige ist aber: Falls Sie schon Bücher über den Everest gelesen oder Filme darüber gesehen haben, möchte ich darauf wetten, dass Sie die Story von Hutchison, Taske und Kasischke schon mal gehört haben.

Sie erinnern sich bloß nicht daran.

Unsere drei Bergsteiger waren Teil der Klettersaison von 1996, die in Jon Krakauers bekanntem Buch In Eisige Höhen nachgezeichnet wird, ebenso wie in der viel beachteten Dokumentation Everest von 1998 und dem Spielfilm von 2015 mit demselben Titel. Ihr Expeditionsleiter war Rob Hall, einer der angesehensten Alpinisten der Welt. Hall und vier andere Personen, die an diesem Tag den Gipfel erreichten, starben an unterschiedlichen Stellen ihres Abstiegs auf dem Rückweg zum Lager 4.

Hall war auch jener Bergführer, der mit ihnen hinter der Gruppe feststeckte, ihnen sagte, dass sie noch drei Stunden vom Gipfel entfernt seien, und dann versuchte, die langsamen Kletterer vor ihnen zu überholen.

Und das, obwohl es Hall gewesen war, der ihnen die Wichtigkeit der Rückkehr um 13 Uhr eingeschärft hatte, als sie mit den anderen Kunden im Basislager zusammengesessen hatten. Er hatte auch die Rückkehrzeiten zahlreicher Zwischenaufsteige festgelegt und auf ihrer Einhaltung bestanden. Im Jahr zuvor war er sogar nur 100 Meter vor dem Gipfel mit einem Kunden namens Doug Hansen umgekehrt.

Halls Besonnenheit und Fachkenntnis bei der Festlegung und Durchsetzung dieser Umkehrzeit im Jahr 1995 hatte zweifellos Hansens Leben gerettet. Einer der anderen Bergführer jenes Jahres sagte, Hansen verhalte sich »prima während des Aufstiegs, aber sobald es abwärts ging, stieg er geistig und körperlich aus; er verwandelte sich in einen Zombie, als hätte er beim Aufstieg alles aufgezehrt«.

Rob Hall rief Hansen während des folgenden Jahres mehrfach an, gewährte ihm eine Ermäßigung und ermunterte ihn erfolgreich, es 1996 noch einmal zu versuchen.

Hall erreichte den Gipfel in diesem nächsten Jahr gegen 14 Uhr mit einer kleinen Gruppe von Mitkletterern. Die anderen – die jetzt erkannten, dass es allmählich spät wurde – machten sich rasch wieder auf den Weg nach unten, doch Hall wartete auf Hansen, den er dicht hinter sich glaubte.

Hansen traf erst um 16 Uhr auf dem Gipfel ein und war inzwischen so erschöpft, dass er es nicht schaffte, die nahezu vertikalen Hillary-Stufen hinabzusteigen. Hall konnte Hansen nicht hinunterschaffen und wollte ihn auch nicht allein zurücklassen.

Sie starben beide.

Weiter unten in diesem Buch werden wir viele der Kräfte näher untersuchen, die wahrscheinlich in Halls Entscheidung mit hineinspielten. Fürs Erste zeigt dieses Scheitern, dass Umkehrzeiten zwar die Chancen für eine rationale Entscheidung über den Abbruch erhöhen, sie aber nicht garantieren.

Bei all dem Chaos, das an diesem Tag auf dem Berg stattfand, erinnert sich fast niemand an Hutchison, Taske und Kasischke, drei Bergsteiger, die sich an die Regeln hielten und umkehrten. Es ist nicht nur so, dass sie nicht gefeiert werden. Vielmehr haben sie überhaupt keinen Eindruck hinterlassen.

Sie sind unsichtbar.

Warum erinnern sich so wenige an diese drei Kletterer, die weise umkehrten? Es liegt nicht daran, dass Krakauer ihre Geschichte in seinem Buch nicht erzählte. Er schrieb sogar, dass sie »angesichts einer schweren Entscheidung zu den wenigen gehörten, die an diesem Tag das Richtige taten«.

Wir neigen dazu, nur eine Seite der menschlichen Reaktion auf Schwierigkeiten zu betrachten: diejenigen, die ihnen die Stirn bieten. Die Leute, die den Weg bergauf fortsetzten, werden zu den Helden der Geschichte, ob tragisch oder anderweitig. Sie sind es, die unsere Aufmerksamkeit erregen, die Beharrlichen, obwohl sie sich nicht an die Umkehrzeit gehalten haben.

Die Geschichte der Bergsteiger, die am Gipfeltag umkehrten, wurde erzählt, aber offensichtlich nicht im Gedächtnis behalten.

Es besteht kein Zweifel, dass Aufgeben eine wichtige Entscheidungsfähigkeit ist. Die richtige Entscheidung ist manchmal eine Frage von Leben oder Tod. Das war auf dem Everest der Fall. Doch selbst in dieser lebensentscheidenden Situation scheinen wir uns an die Umkehrer gar nicht zu erinnern.

Das Problem dabei ist natürlich, dass wir aus Erfahrungen lernen, besser zu werden, entweder aus unseren eigenen oder aus der Beobachtung anderer. Und unsere Fähigkeit, aus Erfahrungen zu lernen, kann nur so gut sein wie unser Gedächtnis für diese Erfahrungen.

Das gilt nicht weniger für Abbruchentscheidungen.

Wie können wir lernen, wenn wir die Abbrecher gar nicht sehen? Schlimmer noch, wie sollen wir lernen, wenn wir sie – falls wir sie doch sehen – als etwas Negatives betrachten, als Menschen, die unsere Bewunderung nicht verdienen, als Feiglinge oder Memmen?

Zugegeben, »Memme« ist mittlerweile ein unüblicher Begriff, aber es ist ein Synonym für Abbrecher, das recht beliebt war und immerhin bösartig genug, dass man jemanden zum Duell fordern konnte, wenn man von ihm als Memme bezeichnet wurde. Als Andrew Jackson im Jahr 1806 von Charles Dickinson in einer Lokalzeitung als Memme bezeichnet wurde, forderte er ihn zum Duell auf und tötete ihn, was ihn nicht daran hinderte, 1829 Präsident zu werden. 

Wenn der Vorwurf des Aufgebens als Begründung ausreicht, jemanden zu erschießen, wie sollen die Leute dann die Wichtigkeit zu schätzen lernen, ihre Rückzugsfähigkeiten zu stärken?

Aufgeben ist ein Entscheidungsinstrument

Obwohl Durchhalten und Aufgeben gegeneinandergestellt werden, handelt es sich eigentlich um zwei Seiten genau derselben Entscheidung. Jedes Mal, wenn Sie sich entscheiden, ob Sie aufgeben, entscheiden Sie natürlich gleichzeitig auch darüber, ob Sie weitermachen, und umgekehrt.

Mit anderen Worten, Sie können über das eine nicht entscheiden, ohne über das andere zu entscheiden.

Unsere unerschrockenen Bergsteiger sind ein guter Ansatzpunkt, um über die Durchhalten-/Aufgeben-Entscheidung nachzudenken: Durchhalten ist das, was Sie auf den Berg hinaufbringt, aber Aufgeben ist das, was Ihnen sagt, wann Sie wieder herunterkommen müssen. Genau genommen ist es die Option des Umkehrens, die es Ihnen überhaupt erst ermöglicht, sich für das Besteigen des Berges zu entscheiden.

Stellen Sie sich vor, jede Ihrer Entscheidungen wäre die letzte und endgültige. Was immer Sie beschließen, Sie müssen bis an Ihr Lebensende daran festhalten. Überlegen Sie mal, wie sicher Sie sein müssten, ehe Sie sich jemals dazu entschließen könnten, mit irgendetwas anzufangen. Stellen Sie sich vor, Sie müssten die erste Person heiraten, mit der Sie jemals ein Date hatten.

Keine Option zur Kursänderung oder Meinungsänderung zu haben, wäre katastrophal in einer Landschaft, die selbst in Veränderung begriffen ist, in der Berge zu Maulwurfshügeln und Maulwurfshügel zu Bergen werden können. Wenn sich der Berg, den Sie erklommen haben, als Gletscher entpuppt, der unter Ihnen wegzuschmelzen beginnt, werden Sie heruntersteigen wollen, ehe Sie weggespült werden.

Wenn ich jemandem dazu verhelfen sollte, bessere Entscheidungen zu treffen, wäre Aufgeben deshalb die erste Fähigkeit, die ich auswählen würde; denn die Option zum Abbruch ist es, die es Ihnen ermöglicht, auf diese sich verändernde Landschaft zu reagieren.

Jede Entscheidung wird natürlich unter einem gewissen Maß an Ungewissheit getroffen, das aus zwei verschiedenen Quellen stammt, wobei die meisten unserer Entscheidungen beiden unterliegen.

Erstens ist die Welt stochastisch. Das ist nur eine vornehme Formulierung dafür, dass es schwer vorherzusagen ist, wie die Dinge sich genau entwickeln, zumindest kurzfristig. Wir arbeiten nicht mit Gewissheiten, sondern mit Wahrscheinlichkeiten, und wir haben keine Kristallkugel, die uns sagt, welche von all den möglichen Zukünften tatsächlich eintreten wird. Selbst wenn Sie sicher sind, dass eine Entscheidung für Sie zu 80 Prozent die richtige ist, bedeutet das per definitionem, dass die Welt Ihnen 20 Prozent der Zeit ein schlechtes Ergebnis liefert. Das Problem für uns als Entscheider ist, dass wir nicht wissen, wann genau wir die Ergebnisse erleben werden, welche diese 20 Prozent ausmachen.

Zweitens: Wenn wir Entscheidungen treffen, verfügen wir meistens nicht über alle Fakten. Da wir nicht allwissend sind, müssen wir Entscheidungen mit nur einem Teil an Informationen treffen, jedenfalls mit viel weniger, als wir bräuchten, um eine perfekte Entscheidung zu treffen.

Ungeachtet dessen eröffnen sich Ihnen neue Informationen, sobald Sie eine bestimmte Richtung eingeschlagen haben. Und diese Informationen sind wichtige Rückmeldungen.

Manchmal handelt es sich dabei um neue Fakten. Manchmal sind es andere Denkweisen über ein Modell oder ein Problem oder ein Datensatz oder die bereits vorhandenen Fakten. Manchmal ist es eine Entdeckung Ihrer eigenen Präferenzen. Und einige dieser Informationen beziehen sich natürlich darauf, welche Zukunft Sie zufällig beobachten, eine gute oder eine schlechte.

Wenn Sie all diese Aspekte der Ungewissheit zusammenfassen, macht es die Entscheidungsfindung schwer. Das Gute ist, dass Aufgeben die Sache erleichtert.

Jeder hatte schon mal den Gedanken: »Wenn ich damals gewusst hätte, was ich jetzt weiß, hätte ich mich anders entschieden.« Aufgeben ist das Instrument, das es Ihnen ermöglicht, diese andere Entscheidung zu treffen, wenn Sie diese neue Information erhalten. Es lässt Sie darauf reagieren, wie die Welt sich verändert hat, wie Ihr Wissensstand sich verändert hat oder wie Sie sich verändert haben.

Darum ist es so wichtig, das Aufgeben besser zu beherrschen, denn die Option des Aufgebens verhindert, dass Sie von Ungewissheit gelähmt werden oder für immer in jeder einmal getroffenen Entscheidung festsitzen.

Das Silicon Valley ist bekannt für Mantras wie »Move fast and break things« und setzt sie durch Strategien wie »Minimum viable product (MVP )« um. Diese Arten von agilen Strategien können nur funktionieren, wenn Sie die Möglichkeit des Abbruchs haben. Sie können ein MVP nur rausbringen, wenn Sie die Fähigkeit haben, es zurückzuziehen. Es geht bloß darum, rasch an Informationen zu kommen, damit Sie das aufgeben können, was nicht funktioniert, und an dem festhalten können, was sich lohnt, oder neue Dinge entwickeln können, die vielleicht sogar noch besser laufen.

Aufgeben ermöglicht es Firmen, die Geschwindigkeit zu maximieren, zu experimentieren und in hochgradig unsicheren Umgebungen effektiv zu agieren. Wenn Sie schnell sind, begegnen Sie nun mal größeren Ungewissheiten. Sie nehmen sich weniger Zeit, um Informationen zusammenzutragen und zu analysieren, ehe Sie handeln. Ein MVP soll Sie aussteigen oder etwas verändern lassen, ehe Sie zu viel Zeit oder Mühe in einen Handlungsweg investieren, und gleichzeitig den Informationsprozess beschleunigen, der für gute Entscheidungen so wichtig ist.

Richard Pryor, unbestritten der weltbeste Stand-up-Comedian von Mitte der 1970er- bis in die frühen 1980er-Jahre, war für die Hingabe bekannt, mit der er diese Strategie bei der Entwicklung von neuem Material verwendete. Auch wenn Pryor der heutigen Generation etwas weniger bekannt sein mag, zählt er immer noch zu den wichtigsten Comedians aller Zeiten im Hinblick auf seinen Erfolg, seine Anwendung von Comedy zum Überwinden von Grenzen und seinen Einfluss auf andere Comedians. Zwanzig Jahre nach seinem letzten Stand-up-Auftritt wurde er von Comedy Central zur Nummer eins aller Zeiten gekürt. Auch der Rolling Stone setzte ihn 2017, über zehn Jahre nach seinem Tod, an die erste Stelle. Fast jeder legendäre Comedian seither hat ihn als den Besten bezeichnet, darunter Jerry Seinfeld, Dave Chappelle, Eddie Murphy, David Letterman, Jim Carrey, Chris Rock und der verstorbene Robin Williams.

Auf dem Höhepunkt seiner Berühmtheit (nicht nur als Comedian, sondern auch als Filmstar und Kultur-Ikone) hatte er eine Reihe von Auftritten im Comedy Store am Sunset Strip, um neue Comedy-Nummern auszuprobieren. Der Comedy Store war ein kleiner Club, aber so einflussreich, dass es als unmöglich galt, in The Tonight Show aufzutreten, ohne sich zuerst dort bewiesen zu haben. Ein Bühnenauftritt dort war heiß begehrt.

Pryor war so groß, dass er Auftritte haben konnte, wann immer er wollte. Wenn nur schon sein Name auf der Anzeigetafel erschien, schossen die Erwartungen durch die Decke. Rasch verbreitete sich die Nachricht in ganz Los Angeles und der Unterhaltungsbranche. Die Schlange für die wenigen Eintrittskarten zog sich um den gesamten Häuserblock. Als er auf die Bühne trat, war die Atmosphäre in etwa so wie vor einem Schwergewichts-Weltmeisterschaftsboxkampf.

Und Pryor schlug ein wie eine Bombe.

Am ersten Abend erschien er ohne jede Vorbereitung außer »ein paar Ideen«, »höchstens ein, zwei Witze«. Das Publikum bat ihn, die beliebtesten Figuren seines letzten Albums hervorzuholen und Pointen rauszuhauen. Nachdem klar war, dass er dem Publikum nicht geben würde, was es wollte (oder irgendetwas Neues, das wirklich witzig war), verebbten die Rufe. Er strampelte sich mindestens eine halbe Stunde lang zu peinlichem, betretenem Schweigen durch fürchterliches Material.

Am nächsten Abend ließ er alles weg, das nicht funktioniert hatte – was praktisch dem gesamten Auftritt entsprach –, und baute das aus, was für ein Kichern gesorgt hatte. Nach Abschluss der dreißig Tage hatte er vierzig Minuten unglaubliches Material, und aus diesem schöpfte er für neun aufeinanderfolgende Grammy-nominierte Comedy-Alben, von denen fünf den Preis gewannen.

Das ist die Comedian-Version eines MVP , in kleinen Clubs auftreten und Witze erzählen, ehe die Details ausgearbeitet sind, oder manchmal einfach über ein Thema improvisieren und schauen, wohin es sich entwickelt. Jerry Seinfeld macht es so, ebenso wie Chris Rock und die meisten anderen erfolgreichen Stand-ups. Sie bekommen Feedback vom Publikum, werfen das raus, was nicht funktioniert, und entwickeln den Rest weiter.

Das ist nicht nur eine Sache für Silicon-Valley-Leute und Kultkomiker. Etwas auszuprobieren und die Fähigkeit zu haben, es zu verwerfen, ist maßgeblich dafür, wie wir alle unser Leben führen.

Ein einfaches Beispiel, das wir alle verwenden, ist das Dating, ebenfalls eine Version des MVP . Über jemanden, mit dem Sie sich für ein Date treffen, müssen Sie wesentlich weniger wissen als über jemanden, den Sie heiraten wollen, denn Sie können sich einfach entschließen, Ihr Date nie wiederzusehen. Darüber hinaus helfen Ihnen all diese Dates, Ihre Vorlieben zu entdecken und zu verfeinern, und lassen Sie bessere Entscheidungen über langfristige Beziehungen treffen.

Die Abbruchoption ermöglicht Ihnen auszusteigen, wenn Sie herausfinden, dass es nichts bringt, was Sie tun. Wenn Sie dem Gipfel des Mount Everest nahe sind und das Wetter umschlägt, sollten Sie umkehren. Wenn Ihr Sportarzt Ihnen sagt, dass Ihre Nieren Schaden genommen haben, können Sie sich aus dem Sport zurückziehen.

Dasselbe gilt für Ihr Studienfach oder Ihren Job oder die Richtung Ihrer Berufslaufbahn, für eine Beziehung, für Klavierstunden oder auch für etwas so Geringfügiges wie einen Film, den Sie sich anschauen.

Der Sirenengesang der Gewissheit

Es stimmt zwar, dass Aufgeben eines Ihrer wichtigsten Instrumente für das Treffen guter Entscheidungen bei Ungewissheit ist. Es stimmt aber auch, dass Ungewissheit ein Hindernis für das Treffen guter Entscheidungen über das Aufgeben ist. Denn das Aufgeben selbst ist eine Entscheidung, die unter Ungewissheit getroffen wird.

Sie wissen nicht zu 100 Prozent, wie sich eine Entscheidung auswirkt, wenn Sie einen bestimmten Weg einschlagen, und ebenso wenig wissen Sie zu 100 Prozent, was passiert, wenn Sie diesen Weg wieder verlassen.

Denken Sie an Hutchison, Taske und Kasischke. Als sie beschlossen, den Mount Everest zu besteigen, wussten sie nicht, wie sich alles entwickeln würde. Sie wussten nicht, was im Basislager passieren würde oder am Gipfeltag, als sie um Mitternacht das Lager 4 verließen. Dasselbe galt natürlich, als sie um 11.30 Uhr darüber entschieden, ob sie mit den anderen Kletterern weiter zum Gipfel emporsteigen oder umkehren sollten.

Wenn Sie sich entschließen zu heiraten, können Sie nicht sicher sein, was bei dieser Entscheidung herauskommt. Wenn Sie sich entschließen, sich scheiden zu lassen, wissen Sie auch nicht, was dabei herauskommt. Das trifft auch zu, wenn Sie ein Studienfach wählen oder ändern oder eine Arbeit aufnehmen oder kündigen oder ein Projekt beginnen oder aufgeben.

Wenn Sie abwägen, ob Sie etwas aufgeben oder daran festhalten sollen, können Sie nicht mit Sicherheit wissen, ob Sie damit erfolgreich sein werden, denn das ist probabilistisch. Aber es gibt einen maßgeblichen Unterschied zwischen den beiden Entscheidungen.

Nur eine Entscheidung – die Entscheidung zum Weitermachen – lässt Sie letztlich die Antwort finden.

Der Wunsch nach Gewissheit ist der Sirenengesang, der uns zum Durchhalten verführt, denn Durchhalten ist die einzige Methode, um mit Sicherheit zu erfahren, wie die Dinge sich entwickeln, wenn Sie den Kurs beibehalten. Wenn Sie sich zum Aufgeben entscheiden, werden Sie sich immer fragen: »Was wäre gewesen, wenn …?« So wie die Seeleute in der Mythologie von den Sirenen angelockt wurden, werden wir vom Durchhalten angelockt, denn wir wollen es wissen . Nur so lässt sich dieses »Was wäre gewesen, wenn« vermeiden.

Das Problem ist natürlich, dass der Sirenengesang Sie manchmal in felsige Untiefen lockt, die Ihr Schiff auf Grund laufen lassen. Oder in Ihren Tod an der Spitze des Mount Everest.

Genau genommen können Sie nur dann sicher sein, dass Sie aufhören sollten, wenn es keine Entscheidung mehr ist, wenn Sie am Rande des Abgrunds stehen oder bereits hineingestolpert sind. Dann haben Sie keine andere Wahl, als den Kurs zu verlassen.

Versetzen Sie sich in die Lage der Bergsteiger nahe dem Gipfel. Stellen Sie sich den Aufwand an Zeit, Mühe und Geld vor. Stellen Sie sich die Opfer vor, die Sie und Ihre Familie gebracht haben, damit Sie auf den Mount Everest steigen können. Sie sind ein paar Hundert Meter – nur wenige Stunden – vom Gipfel entfernt.

Könnten Sie umkehren, ohne sicher zu wissen, ob Sie es hätten schaffen können, nach allem, was Sie sich selbst und anderen abverlangt haben? Wie schwer wäre die Last, bis an Ihr Ende mit der Frage »Was wäre gewesen, wenn ich nicht aufgegeben hätte« zu leben?

Die meisten Menschen in dieser Situation könnten es nicht. Hutchison, Taske und Kasischke haben es getan, aber eine viel größere Zahl – alle, die an jenem Tag ums Leben kamen, und viele andere, die nur knapp dem Tod entrannen – waren unfähig, dem Lockruf des Durchhaltens zu widerstehen.

Der Superbowl ist ein Friedhof der Konzerne

So wie Sie Ihre Fähigkeiten trainieren müssen, indem Sie sich entscheiden, welche Berge Sie besteigen, brauchen Sie auch Können, um zu entscheiden, wann Sie sich an den Abstieg machen.

In einer sich verändernden Welt sollten wir Dinge aufgeben, die nicht funktionieren, nach denen die Leute nicht mehr verlangen oder die wir nicht mehr wollen. Wir sollten die Landschaft erforschen, einmal um herauszufinden, wann das der Fall sein könnte, zum anderen, um etwas Besseres zu suchen, auf das wir unsere Aufmerksamkeit richten können.

Wie sich zeigt, befinden Sie sich nicht unbedingt auf festem Boden, wenn Sie auf einem großen Berg stehen, nicht einmal in Gipfelnähe. Als Tom Brady 2021 seinen siebten Superbowl gewann, war das ein weiterer Hinweis nicht nur auf seine überragenden Fähigkeiten, sondern auch auf die erstaunliche Dauer seiner Karriere. Wenn man sich die Liste der Werbetreibenden seit Bradys erstem Superbowl 2002 ansieht, also vor neunzehn Jahren, stellt man fest, dass er viele einst erfolgreiche und sehr bekannte Unternehmen überlebt hat. Die Liste ist jetzt ein virtueller Konzernfriedhof: AOL , Blockbuster, Circuit City, CompUSA , Gateway, RadioShack und Sears.

Falls Sie sich fragen, warum es so wichtig sein sollte, gut loslassen zu können, um angemessen durch eine sich verändernde Welt zu navigieren, müssen Sie sich bloß diese Liste ansehen. Wenn Sie sich im Jahr 2002 den Betrag von 2 Millionen Dollar für 30 Sekunden Sendezeit leisten konnten (heute kosten sie mehr als 5 Millionen Dollar), zuzüglich Produktions- und Agenturkosten für die Entwicklung eines Werbespots, mit dem man heraussticht, dann waren Sie ein großes, erfolgreiches Unternehmen. Und wahrscheinlich haben Sie schwer gearbeitet im Bemühen, weiterhin ein großes Unternehmen zu bleiben und hoffentlich noch größer zu werden.

All diese Firmen waren klug genug, etwas sehr Erfolgreiches zu schaffen. Sie hatten das Geld und die Ressourcen, um die Landschaft sehr genau zu erforschen. Doch in allen Fällen holten die Veränderungen der Welt sie ein, und sie schafften es nicht, rechtzeitig den Absprung zu machen, sondern harrten aus, bis sie in Vergessenheit gerieten.

Nehmen wir zum Beispiel Blockbuster. Neue Mitbewerber tauchten auf, darunter Netflix. Neue und disruptive Technologien (Streaming) wurden entwickelt. Als Blockbuster die Chance bekam, Netflix zu kaufen, lehnten sie ab. Sie hielten an dem Geschäftsmodell fest, physische Kopien von Unterhaltungsinhalten an Menschen auszuleihen, die persönlich in ihre Läden kamen.

Wir alle wissen, was mit Blockbuster und Netflix geschah.

Wenn man Blockbuster und den Rest der Liste betrachtet, wird einem klar, dass die Waage zuungunsten des Aufgebens manipuliert sein muss, nicht nur für den Einzelnen, sondern auch für das Business. Das sollte nicht allzu überraschend sein, denn Unternehmen sind ja eine Ansammlung von Einzelpersonen.

Der Weg zu nachhaltiger Profitabilität für ein Geschäft führt nicht nur über das Festhalten an einer Strategie oder einem Geschäftsmodell (selbst an einem, das in der Vergangenheit gewinnbringend war). Er umfasst auch das Beobachten und Reagieren auf die sich verändernde Landschaft. Ähnlich besteht auch für jeden von uns auf individueller Ebene der Weg zum Glück nicht darin, blindlings an dem festzuhalten, was wir tun, wie es uns so viele Aphorismen suggerieren. Wir müssen erkennen, was rings um uns passiert, damit wir unser Glück und unsere Zeit und unser Wohlergehen maximieren können.

Und das heißt für gewöhnlich, öfter loszulassen.

»Know When to Hold ’Em, Know When to Fold ’Em« – aber meistens Fold ’Em

In The Gambler sang Kenny Rogers: »You gotta know when to hold ’em, know when to fold ’em, know when to walk away, and know when to run.«

Beachten Sie, dass es hier in drei von vier Fällen um das Loslassen geht. Was die Schadensbegrenzung beim Pokern angeht, so hatte Kenny Rogers den Durchblick.

Ein Pokertisch ist, wie sich zeigt, ein sehr guter Ort, um etwas über die Vorzüge des Aufgebens zu lernen. Das optimale Aufgeben ist womöglich die wichtigste Fähigkeit, die großartige Spieler von Amateuren unterscheidet. Ohne die Option des Aufgebens wäre Poker ziemlich ähnlich wie Baccara, ein Spiel, das keinerlei Können erfordert, weil es keine Entscheidungen zu treffen gibt, wenn die Karten erst mal ausgeteilt sind.

Spitzen-Pokerspieler können in vielerlei Hinsicht besser loslassen als Amateure. Am offensichtlichsten wird das darin, dass sie wissen, wann sie passen müssen.

Welche Hand sich zu spielen lohnt und welche nicht, ist die erste und folgenreichste Entscheidung, die ein Spieler trifft. Und Profis sind einfach besser darin, sie spielen nur 15 bis 25 Prozent der aus zwei Karten bestehenden Startkombinationen aus, die beim Texas Hold’em ausgegeben werden. Im Vergleich dazu halten Amateure in über der Hälfte aller Fälle an ihren Startkarten fest.

Im Zwiespalt zwischen Weiterspielen und Passen machen die Amateure für gewöhnlich weiter. Profis passen für gewöhnlich. Das mag teilweise daran liegen, dass Ihnen bei dieser Entscheidung nur das Weiterspielen Gewissheit darüber verschafft, in einen Pot einzuzahlen, den Sie hätten gewinnen können, wenn Sie Ihre Hand bloß bis zur letzten Karte behalten hätten.

Eine alte Pokerweisheit besagt: »Zwei beliebige Karten können gewinnen«, das heißt, wenn Sie bei Ihrem Blatt bleiben, besteht immer die Möglichkeit, egal wie gering, dass sogar eine miserable Hand gewinnt.

Leider geht die Weisheit nicht so weiter: »… aber nicht oft genug, als dass es profitabel wäre.«

Ich erinnere mich an viele, viele Nächte am Pokertisch, in denen der Spieler neben mir mich nach einer Hand anstieß, um mich wissen zu lassen, dass die von ihm niedergelegten Karten den Pot gewonnen hätten. Manchmal war das geradezu lächerlich, zum Beispiel wenn er zu Beginn einer Hand mit einer Sieben-Zwei gepasst hatte (mathematisch gesehen die schlechteste Startkombination aus zwei Karten, die ausgeteilt werden kann, deshalb gehört nicht viel Grips dazu, hier zu passen) und die fünf nachfolgenden Karten dann Sieben-Zwei-Zwei einschlossen. Dann ließen sie sich unweigerlich stöhnend in den Stuhl zurücksinken: »Ich hab mit Sieben-Zwei gepasst. Ich hätte ein Full House machen können!«

Ich sagte: »Es gibt eine Möglichkeit, das zu vermeiden.«

»Wie denn?«

»Einfach jede Hand ausspielen bis zur letzten Karte.«

Der Rat mag absurd gewesen sein, aber ich wies darauf hin, dass es beim Pokern erfolgsnotwendig ist, gelegentlich bei einer Hand zu passen, die hätte gewinnen können. Um in diesem Spiel gut zu sein, muss man einfach lernen, damit zu leben. Jede Hand auszuspielen, die ausgeteilt wird, ist eine einfache und schnelle Methode, um pleitezugehen, denn auf lange Sicht würde man zu viele nicht profitable Spiele machen. Auch das würde Poker mehr zu Baccara machen und das wesentliche Element des Könnens, die Option zum Passen, wegnehmen.

Selbst in 50 Prozent der Fälle Ihre Hand auszuspielen, hat seinen Preis. Dafür haben Sie aber Ihren Seelenfrieden. Wenn Sie weiterspielen, statt zu passen, erleben Sie den Schmerz zu wissen, dass Sie vielleicht ein Gewinnerblatt niederlegen, wesentlich seltener. Sie müssen sich nicht mit der Version von »Was, wenn …?« auf Steroiden herumschlagen: zu sehen, wie die Spieler Chips in einen gigantischen Pot werfen und wie ein anderer ihn einkassiert und zu wissen, dass Sie das hätten sein können, wenn Sie nicht gepasst hätten.

Für die meisten Spieler ist dieser Seelenfrieden eine mächtige Kraft, ein Sirenengesang. Er ist einer der Hauptgründe dafür, dass Amateure so viele Blätter ausspielen.

Wenn das Passen für Amateure schon zu Beginn der Hand schwierig ist, so wird es noch schwieriger, sobald sie erst einmal Geld in den Pot eingezahlt haben. Das bereits eingesetzte Geld zu beschützen, ist ein kaum zu überwindender Drang, ungeachtet der Wahrscheinlichkeit, dass der nächste Einsatz eine gute Wahl ist.

Aufgrund der Ungewissheit während des Spiels – dass man die Karten der anderen Mitspieler nicht sieht und nicht weiß, welche Karten noch kommen – kann man nie wissen, wie diese bestimmte Hand abschneidet. Das treibt die meisten Spieler zum Weitermachen, statt ihre Verluste zu begrenzen, denn wenn sie dabeibleiben, bewahren sie sich immer noch eine gewisse Hoffnung auf den Gewinn. Wenn sie stattdessen passen, ist das die Garantie dafür, dass sie einen Pot verlieren und damit jede Chance, das gerade eingesetzte Geld zurückzuerhalten.

Wenn Sie üblicherweise an Ihren Ausgangskarten festhalten und bis zum Ende Ihre Hand spielen, können Sie mit höherer Wahrscheinlichkeit das Bedauern darüber vermeiden, bei einem Spiel zu passen, das Sie hätten gewinnen können.

Sie werden außerdem schnell pleitegehen. Die besten Pokerspieler meiden diese Falle.

Zudem wissen sehr gute Pokerspieler, wann sie gehen müssen. Wenn Experten spielen, erkennen sie mit größerer Wahrscheinlichkeit als andere Spieler, wann die Spielbedingungen ungünstig sind oder wann sie nicht gut spielen. Und da sie diese Dinge erkennen, werden sie das Spiel deshalb eher abbrechen.

Ein Spiel abzubrechen, ist eine Entscheidung voller Ungewissheit, denn es ist ja nie ganz sicher, warum man verliert. Vielleicht spielen Sie schlecht, vielleicht spielen Sie aber auch wirklich gut und verlieren aufgrund schlechter Karten. Mit anderen Worten, wenn Sie Ihre Verluste auf das Schicksal schieben und weiterspielen wollen, finden Sie immer eine Möglichkeit dazu. Ein Spiel zu beenden, ist das Eingeständnis, dass Sie im Vergleich zu den anderen Spielern womöglich nicht gut genug sind, dass Sie vielleicht kein Talent für das Spiel haben. Das ist ein Tiefschlag für das Selbstbewusstsein, den nur wenige einzustecken bereit sind.

So wie das Passen die einzige Garantie ist, die Runde zu verlieren, ist das Abbrechen des Spiels, wenn Sie verlieren, die einzige Garantie dafür, dass Sie Ihre Chips nicht zurückbekommen. Das alles macht einen Abbruch bei Verlust schwierig.

Sind Pokerprofis perfekt in diesen Entscheidungen? Nein. Genau genommen sind sie manchmal alles andere als perfekt. Aber sie können Abbruchentscheidungen besser treffen als ihre Gegner, und mehr braucht man nicht für den Sieg.

Wenn man mal darüber nachdenkt, liegt praktisch all unseren Entscheidungen dieselbe Art von Ungewissheit zugrunde. Sollen wir den Job kündigen? Sollen wir die Strategie ändern? Sollen wir das Projekt fallen lassen? Sollen wir am Berg umkehren? Sollen wir das Geschäft schließen?

Das sind schwierige Probleme. Wir sind nicht allwissend. Wir haben keine Kristallkugeln und keine Zeitmaschinen. Nur unsere bestmögliche Einschätzung einer ungewissen und veränderlichen Landschaft und die Hoffnung, dass wir unsere Abbruchfähigkeit genügend geschult haben, um einen Schlussstrich zu ziehen, wenn die Umstände sich gegen uns wenden.

Das ist die grundlegende Wahrheit über Weitermachen und Aufhören: Das Gegenteil einer großen Tugend ist ebenfalls eine große Tugend.

Zusammenfassung Kapitel 1

  • Wir bejubeln gern Menschen, die mit grimmiger Entschlossenheit in widrigen Umständen ausharren. Die Aufgeber sind im Gegensatz dazu unsichtbar.
  • Wenn wir die Entscheidungsfindung von Abbrechern nicht erkennen, ist es schwer, von ihnen zu lernen.
  • Eine Handlung abzubrechen, ist manchmal die beste Methode, um auf lange Sicht zu gewinnen, ob man nun die Verluste am Pokertisch begrenzt oder an einem anderen Tag klettert.
  • Aufhören und durchhalten sind zwei Seiten derselben Entscheidung.
  • Entscheidungen in der realen Welt erfordern ein Handeln ohne vollständige Informationen. Aufgeben ist das Instrument, das uns ein Reagieren auf neue Informationen ermöglicht, die bekannt werden, nachdem wir eine Entscheidung getroffen haben.
  • Das Festhalten an einem Handlungsablauf ist die einzige Methode, um mit Sicherheit herauszufinden, wie die Sache ausgeht. Um aufzugeben, muss man ertragen können, dass man nicht weiß, was hätte sein können.
  • Die Option des Aufgebens lässt Sie mehr erforschen, mehr lernen und letztlich das Richtige finden, um daran festzuhalten.