Rechtzeitig aufgeben fühlt sich meist an wie zu früh aufgeben
S EIT SEINEN ERSTEN ERFAHRUNGEN MIT DEM INTERNET als Studienanfänger im Jahr 1992 war Stewart Butterfield fasziniert von dessen Potenzial, die menschliche Interaktion zu erleichtern, insbesondere über geografische Grenzen hinweg.
Zehn Jahre später, also 2002, gründete er ein Unternehmen mit, das ein gewaltiges Multiplayer-Online-Rollenspiel entwickelte. Das Konzept hieß Game Neverending . Die Spieler trugen darin Objekte zusammen, um gemeinschaftlich an der Errichtung einer ganzen Welt zu arbeiten. Tausende von Spielern liebten den Prototyp, doch das Unternehmen stieß so kurz nach dem Dotcom-Crash auf Finanzierungsschwierigkeiten. »Es waren nicht allzu viele Leute daran interessiert, in irgendetwas mit Internet zu investieren, besonders nicht in etwas so Belangloses wie ein Spiel«, sagte mir Butterfield.
2004 ging dem Unternehmen schließlich das Geld aus.
In einem letzten verzweifelten Bemühen schlachteten sie ein Feature des Spiels aus, einen Bestand der Objekte, welche die Spieler zusammentrugen, repräsentiert durch einen Schuhkarton voller Fotos. Daraus wurde Flickr, eine der ersten Fotosharing-Websites. Innerhalb eines Jahres verkauften es Butterfield und seine Mitgründer für 25 Millionen Dollar an Yahoo.
Stewart Butterfield verließ Yahoo 2008 und kehrte zu der Idee eines unbegrenzten, kooperativen, weltenschaffenden Online-Spiels zurück. Er trommelte ein paar Leute aus seiner Flickr-Zeit zusammen und gründete mit ihnen ein weiteres Spieleunternehmen, Tiny Speck, dessen erstes Produkt ein sogar noch anspruchsvolleres Spiel war: Glitch .
Die Rechenleistung hatte sich verhundertfacht. Das ganze Team aus Technikern und Designern war erfahrener und versierter. Flickr ermöglichte ihm eine Referenz sowie ein viel günstigeres Finanzierungsumfeld. Das alles verschaffte ihm besseren Zugang zu Venture-Capital. Das Unternehmen brachte 17,5 Millionen Dollar von Venture-Investoren zusammen, darunter Andreessen Horowitz und Accel.
Am 27. September 2011 wurde das Spiel herausgebracht. Glitch sah fantastisch aus und hatte eine gut ausgedachte Storyline, die von Fans und Rezensenten als »Mischung aus Monty Python und Dr. Seuss« beschrieben wurde.
Bis November 2012 hatte das Spiel eine treue Fangemeinde von rund fünftausend begeisterten Nutzern, die mindestens zwanzig Stunden pro Woche damit verbrachten. Das Problem war, dass diese Spieler, die eine Monatsgebühr bezahlten, weniger als 5 Prozent der über hunderttausend Nutzer ausmachten, die sich für ein kostenloses Probeabonnement entschieden hatten.
Über 95 Prozent der neuen User spielten Glitch weniger als sieben Minuten lang und kehrten nie zurück.
Butterfield, seine Mitgründer und die Investoren erkannten das Problem. Sie mussten 95 von 100 neuen Nutzern für sich gewinnen, um am Ende wenigstens einen bezahlenden Kunden zu haben. Also entschieden sie sich, bei der Kundenakquise aggressiver vorzugehen. Ihre Strategie war zurückhaltend gewesen, ein bisschen Werbung und ansonsten Mundpropaganda. Jetzt bauten sie das Marketing aus, schalteten bezahlte Anzeigen und bezogen Affiliate-Netzwerke mit ein, damit mehr Menschen das Spiel ausprobierten.
Sie setzten den neuen Marketingplan um, und er funktionierte. Am Wochenende vom 10. auf den 11. November, dem letzten Wochenende der Aktion, gewannen sie zehntausend neue Kunden. Die Zahl der täglich aktiven Nutzer war während der letzten fünfzehn Wochen um über 7 Prozent pro Woche gestiegen. Die der Hardcore-Nutzer, die mindestens fünf Tage in der Woche spielten, war um über 6 Prozent pro Woche gewachsen.
Doch am Sonntagabend nach diesem grandiosen Wochenende stellte Stewart Butterfield fest, dass er gestresst war und nicht einschlafen konnte. Mitten in der Nacht hatte er eine Erleuchtung, die er am folgenden Tag, Montag, dem 12. November, in die Tat umsetzte.
Er schickte seinen Investoren eine E-Mail, die mit den Worten begann: »Ich bin heute Morgen in der Gewissheit erwacht, dass es mit Glitch vorbei ist.«
Das überraschte die anderen Gründer und die Investoren über die Maßen. Allem Anschein nach lief es doch glänzend. Eigentlich sogar besser als glänzend. Glitch hatte soeben das größte jemals erzielte Wachstum verzeichnet. Sie waren finanziell immer noch gut aufgestellt und hatten 6 Millionen Dollar auf dem Konto. Doch Butterfield sagte ihnen, er werde Glitch aufgeben, und bot an, den Investoren das verbleibende Kapital zurückzugeben.
Was quälte Butterfield mitten in dieser Erfolgsphase so sehr, dass er nicht schlafen konnte? Was trieb ihn dazu, die Firma dichtzumachen?
Die Antwort lautet: Stewart Butterfield konnte in die Zukunft sehen und Dinge erkennen, die andere nicht erkannten (oder nicht erkennen wollten). Als er die möglichen Ergebnisse für Glitch betrachtete, war die Wahrscheinlichkeit nur allzu hoch, dass dieses Spiel letztlich zum Groschengrab werden würde.
Sie hatten gerade ihren höchsten Kundenzuwachs erzielt, doch er sah eine Zukunft vor sich, in der sie einen wöchentlichen Zuwachs von 7 Prozent 31 Wochen lang aufrechterhalten mussten, nur um den Break-even zu erreichen. Und das unter der Voraussetzung, dass sich die neu gewonnenen Kunden mit derselben historischen Zahl in zahlende Kunden verwandelten, eine ziemlich kühne Annahme, wenn man bedachte, dass die Qualität der Mitspieler sank, je mehr es wurden. Selbst die Akquise der jüngst hinzugekommenen zehntausend neuen Nutzer war teurer gewesen und ihre Qualität geringer als bei früheren Marketingaktivitäten.
Schlimmer noch war, dass die bezahlte Werbung im Laufe der Zeit immer häufiger jene Hunderttausende erreichen würde, die Glitch bereits ausprobiert und verworfen hatten. Wenn bei der Gaming-Kerngemeinde eine Werbesättigung eingetreten war, würde der Erfolg der Neukundengewinnung von Menschen mit nur wenig Vorkenntnissen in oder Interesse an Online-Spielen abhängen. Das würde die ohnehin bereits niedrigen Konversionsraten von Glitch weiter sinken lassen. Das Spiel konnte sein Wachstum nur fortsetzen, wenn es enorme Mengen von Neukunden erzielte.
All diese Wachstumsfaktoren hätten trotz der steigenden Herausforderungen aufrechterhalten werden müssen, während Tiny Speck acht Monate lang sein Kapital für die Werbung verbrannte, nur um den Break-even zu erreichen. Um zu einem finanziellen Erfolg zu werden, hätte Tiny Speck Hunderttausende bezahlende Kunden erreichen müssen, das bedeutete Dutzende Millionen von Menschen, die das Spiel ausprobierten. Um dorthin zu kommen, hätte es endlos Geld in die Akquise neuer User stecken müssen, deren Qualität geringer und geringer geworden wäre, also unzählige neue Mitspieler, um letztlich die knallharten Fans herauszufiltern, die das Spiel voranbrachten.
Diese Rechnung ging einfach nicht auf.
Stewart Butterfield hatte allen Grund, zu leugnen oder zu ignorieren, was sein Blick in die Zukunft ihm enthüllt hatte. Glitch war ein tolles Spiel. Es drückte auf kreative Weise die Vision der Gründer aus. Es wurde von einer Spielercommunity geliebt. Die Zahl neuer Nutzer wuchs.
Man sollte annehmen, dass alle Instinkte des Gründers eines solchen Unternehmens auf die Fortsetzung gerichtet wären. Butterfield hatte vier Lebensjahre in Glitch investiert. Und was noch wichtiger war, er hatte für das Projekt seinen Ruf eingesetzt. In einer Folge des Podcasts Masters of Scale erzählte er Reid Hoffman 2017: »Man muss Investoren überzeugen, man muss die Presse überzeugen, man muss potenzielle Mitarbeiter überzeugen, und man muss die Kunden überzeugen. Ich hatte eine Menge Überzeugungsarbeit geleistet bei Leuten, die an dem Projekt mitarbeiteten, dass sie alles, an dem sie zuvor gearbeitet hatten, stehen und liegen ließen, ihren Job kündigten und sich im Gegenzug schlecht bezahlen ließen …«
Trotz alledem wusste er, dass Aufgeben die richtige Entscheidung war. Er sagte seinen Investoren: »Ich glaube, ich habe das schon vor sechs Wochen gewusst, und ich habe Verdrängung mit Klugheit verwechselt (weil ich sicherstellen wollte, dass wir keinesfalls zu früh aufgeben). Aber es steht einfach zu viel auf der ›Kontra‹-Seite.«
Für alle anderen fühlte es sich so an, als würde er zu früh aufgeben. Aber wenn Stewart Butterfield in die Zukunft schaute, erkannte er, dass er den Schlussstrich vielleicht nicht früh genug gezogen hatte.
Es ist unklar, ob er die anderen nach Darlegung seiner Gründe überredete, dasselbe zu sehen wie er. Das spielte aber auch keine große Rolle. Wenn er nicht mehr an Bord war, hatte Weitermachen keinen Sinn.
Die meisten Menschen in dieser Position würden nicht dasselbe tun wie Butterfield. Trotz allem, was Weitermachen zur einfacheren Entscheidung macht – sein jahrelanges Engagement für das Projekt, die ermutigenden jüngsten Ergebnisse, seine Mitgründer und Investoren, die dranbleiben wollten, der Schmerz, der mit den Folgen seiner Entscheidung zu tun hatte und dem, was sie für seine Beschäftigten bedeutete –, schaffte er den Absprung.
Vielleicht kommt einem das wie ein trauriges Ende vor. Butterfield war so begeistert von seinem Konzept eines kollaborativen Multiplayer-Spiels, dass er zehn Jahre in den Versuch seiner Umsetzung investiert hatte. Nun war er zum zweiten Mal gescheitert.
Doch ein erfolgreicher Ausstieg, wenn der Kontext danach verlangt, sollte die Definition eines Happy Ends sein. Es fällt uns nur schwer, das so zu sehen, weil wir Aufgeben als Scheitern definieren.
Stewart Butterfield erkannte, dass er schlechte Karten hatte, und beschloss zu passen, ehe er das verbliebene Kapital von Tiny Speck verbrannte. Er bewahrte das Unternehmen davor, 6 Millionen Dollar in eine schlechte Investition zu stecken, und ermöglichte es, dass dieses Geld in andere Dinge investiert werden konnte, die eine größere Gewinnwahrscheinlichkeit aufwiesen. Er ersparte es auch den Mitarbeitern von Tiny Speck, in einem scheiternden Unternehmen festzusitzen, für wenig Geld und das Versprechen von Gerechtigkeit zu arbeiten, indem er umgehend handelte, als er feststellte, dass diese Gerechtigkeit ihre Mühen nicht wert wäre.
All das war gut für Butterfield, gut für seine Investoren und Mitgründer und gut für seine Angestellten. Sollten wir das nicht als eigenes Happy End betrachten?
Das ist eine weitere wertvolle Lektion in Bezug auf das Aufgeben. Wenn man aufhört, lebt man, um einen weiteren Tag zu kämpfen, manchmal im wahrsten Sinne des Wortes. Hutchison, Taske und Kasischke führten ihr Leben für den Rest ihrer Tage fort, indem sie umkehrten. Wenn Pokerspieler passen, begrenzen sie ihre Verluste, damit sie genügend Chips haben, um sie in andere, bessere Runden zu investieren. Wenn das Spiel nicht gut läuft und sie den Pokertisch verlassen, gehen sie nicht bankrott und bleiben nicht ohne einen müden Heller zurück, damit sie an einem anderen Spiel teilnehmen können, das ihnen bessere Gewinnchancen bietet.
Als Stewart Butterfield Glitch aufgab, machte er sich selbst frei dafür, ein anderes Produkt zu entwickeln. Was er augenblicklich tat, indem er das Potenzial des internen Kommunikationssystems des Glitch -Entwicklungsteams zu einem einzigartigen Produktivitäts-Tool ausschöpfte. Das Tool kombinierte im Grunde die besten Teile von E-Mails, Instant Messaging und SMS und ermöglichte es Teammitgliedern, in Echtzeit zu kommunizieren und Dokumente sowie andere Materialien miteinander zu teilen.
Jeder im Unternehmen liebte es. Jeder, der davon wusste, liebte es. Nur zwei Tage nach dem Ende von Glitch schwenkte das Team auf diese neue Sache um, darunter auch die Investoren, die beschlossen, ihr Kapital in dieses neue Produkt umzuschichten.
Solange sie es bei Tiny Speck verwendet hatten, hatte es nicht mal einen Namen gehabt. Am 14. November vergab Butterfield einen Codenamen für das Tool, beruhend auf dem Akronym für »Searchable Log of All Conversation and Knowledge«.
Slack. Das konnte man sich gut merken.
Im August 2013 kündigte Slack die Produkteinführung an. Im Juni 2019 ging Slack an die Börse. Am ersten Tag als Börsenunternehmen betrug seine Marktkapitalisierung 19,5 Milliarden Dollar. Im Dezember 2020 willigte Salesforce ein, Slack gegen Bargeld, Aktien und eine Schuldverschreibung für 27,7 Milliarden Dollar zu kaufen.
Man ist geneigt zu denken: »Also, das macht es jetzt zu einem Happy End, weil die Abbruchentscheidung letztlich dazu geführt hat, dass Slack dabei herauskam.« Aber irren Sie sich nicht, selbst wenn Butterfield niemals Slack vorangetrieben und das Kapital einfach an die Investoren zurückgezahlt hätte, wäre es ein Happy End gewesen. Die Tatsache, dass er das interne Kommunikationsinstrument von Tiny Speck zu einem Einhorn machte, lässt es nur noch erfreulicher werden.
Aufhören, solange man noch kann
Die Geschichte von Glitch enthüllt eins der fundamentalen Probleme des Aufhörens.
Ein rechtzeitiger Abbruch fühlt sich meistens an wie ein verfrühter Abbruch.
Wenn Sie rechtzeitig aufgeben, macht es nicht den Eindruck, als würde gerade in diesem Moment etwas besonders Schlimmes passieren. Denn Aufhören ist die Fähigkeit, die gesamte Bandbreite der Möglichkeiten dessen zu erkennen, wie die Zukunft sich entwickeln kann, und zu sehen, dass die Wahrscheinlichkeit eines negativen Ausgangs zu hoch ist, um einer Fortsetzung wert zu sein.
Der Moment, in dem das Aufgeben zur objektiv besten Entscheidung wird, wirkt in der Praxis für gewöhnlich gar nicht besonders düster, wenngleich die Gegenwart Hinweise darauf bietet, mit deren Hilfe man die zukünftige Entwicklung abschätzen kann. Das Problem ist: Aufgrund unserer Abneigung gegen das Aufgeben tendieren wir dazu, die in der Gegenwart enthaltenen Hinweise kleinzureden, die uns ermöglichen würden, zu erkennen, wie ernst die Lage tatsächlich ist.
Stewart Butterfield erkannte den Ernst der Lage ungeachtet des äußeren Anscheins. Er sah, was mit der Qualität der neuen Nutzer geschah und wie viele von ihnen blieben, um herauszufinden, was die Zukunft für Glitch im Gepäck hatte.
Die meisten von uns hätten sich an Butterfields Stelle auf eine rosige Version der Gegenwart fokussiert oder wenigstens auf eine, die nicht so schlecht wäre, dass sie ein Aufgeben rechtfertigen würde. Schließlich haben Sie ein tolles Online-Spiel geschaffen, das über eine Community von fünftausend begeisterten Fans verfügt. Es sieht super aus. Ihre Investoren sind ermutigt. Ihre Mitgründer sind glücklich. Sie erleben gerade den besten Monat aller Zeiten und haben eine Menge Neukunden gewonnen.
Sie haben 6 Millionen Dollar auf dem Konto. Sie müssen bloß an dem Problem arbeiten, mehr Leute zum Bleiben zu bewegen. Alle anderen sind motiviert und erwarten, dass es weitergeht.
Oder Sie sind ganz oben auf dem Mount Everest, nur drei Stunden vom Gipfel entfernt. Sie haben genügend Sauerstoff. Sie kommen ein bisschen langsam voran, aber die Kletterbedingungen sehen ganz gut aus, gut genug, dass die meisten weiter aufwärts steigen.
Der ideale Zeitpunkt für Muhammad Alis Ausstieg wäre vielleicht gewesen, nachdem er seinen Titel von George Foreman zurückerobert hatte. Das hätte natürlich übermenschliche Zeitreisefähigkeiten erfordert, vielleicht sogar Allwissenheit. Aber es war, nachdem er sein Lebensziel erreicht und ganz sicher, bevor er Nieren- und neurologische Schäden erlitten hatte.
Teddy Brenner und Ferdie Pacheco mussten nicht allwissend sein, um nach dem Kampf gegen Earnie Shavers im September 1977 die hohe Wahrscheinlichkeit und das Ausmaß negativer Folgen zu erkennen, wenn Ali noch jenseits von Mitte dreißig an seiner gefährlichen Karriere festhielt.
Das war noch vier Jahre, bevor er dann tatsächlich aufhörte.
Es ist wohl nicht überraschend, dass gute Entscheidungen in Bezug auf das Aufgeben eine mentale Zeitreise erfordern, denn die schlechteste Zeit für eine Entscheidung ist dann, wenn man mittendrin steckt. Dann sind Sie in der Gegenwart, stehen vor der Entscheidung, ob Sie Ihre Verluste begrenzen sollen oder nicht, und sind unfähig, über das hinauszublicken, was jetzt gerade passiert.
Wenn wir an die Zukunft denken, tun wir das oft im Hinblick auf unsere Hoffnungen, unsere Ziele, unsere Wünsche. Durch diesen Optimismus lassen wir viel zu häufig eine katastrophale Zukunft auf uns zukommen und erkennen sie erst dann, wenn sie schon auf der Türschwelle steht.
Es gibt eine bekannte Entscheidungsregel in der Managementberatung, wonach der richtige Zeitpunkt, um jemanden zu entlassen, der ist, wenn es Ihnen zum ersten Mal in den Sinn kommt. Dieses heuristische Prinzip soll Unternehmen dazu bringen, die Entscheidung früher zu treffen, denn die meisten Führungskräfte sträuben sich gegen Kündigungen und zögern diese zu lange hinaus.
Einen unrentablen Mitarbeiter zu entlassen, ist (aus der Arbeitgeberperspektive) natürlich eine Form des Aufgebens. Unternehmen stehen ständig vor dieser Situation. Um ihre Arbeitsleistung zu gewährleisten, müssen sie entscheiden, ob leistungsschwache Beschäftigte entlassen werden.
Die Einstellung von Personal ist eine wesentlich unsicherere Entscheidung, als die meisten Menschen glauben möchten. Sie haben den Lebenslauf eines Bewerbers, seine Zeugnisse und ein paar Bewerbungsgespräche. Das ist so, als würde man eine langfristige Beziehung mit jemandem eingehen, den man ein paar Mal getroffen und mit dem man zwei gemeinsame Freunde hat. Die Einstellungs-Erfolgsrate von Managern wurde lange Zeit auf nur 50 Prozent geschätzt, was sich völlig mit der damit zusammenhängenden Ungewissheit deckt. Was wissen Sie schon, ob ein neuer Mitarbeiter gut arbeitet, ehe er die Tätigkeit nicht bereits einige Zeit ausgeübt hat?
Das mit einer so ungewissen Entscheidung verbundene Risiko wird dadurch gemindert, dass Arbeitgeber die Option haben, Mitarbeiter zu entlassen, genauso wie Mitarbeiter die Option haben zu kündigen. Das heißt natürlich, dass Sie diese Option gut umsetzen können müssen. Aber die Entscheidung, jemandem zu kündigen, wird ebenfalls unter Ungewissheit getroffen, was, wie wir bereits unter verschiedenen Umständen ergründet haben, unsere Neigung verstärkt, zu lange auszuharren.
Deshalb ist die Heuristik bezüglich des Kündigungszeitpunkts zwar wohlbekannt, wird aber nicht oft in die Praxis umgesetzt.
Für den Fehler, Mitarbeiter zu lange zu behalten, nachdem Sie erkannt haben, dass es nicht funktioniert, zahlen Sie einen hohen Preis. Geoff Smart, Managementberater und Experte für das Anwerben talentierter Teams, stellte anhand von Studien mit seinen Unternehmenskunden fest, dass ein durchschnittlicher Personalmanagementfehler in puncto Kosten und Produktivitätseinbußen fünfzehn Mal so viel kostet wie das Gehalt der betroffenen Person. Und natürlich trägt es zu diesen Kosten bei, wenn man zu lange an einem Mitarbeiter festhält, nachdem dieser Einstellungsfehler gemacht wurde.
Das gilt für alle unsere Verzögerungen beim Kurswechsel. Wenn wir unsere Verluste nicht zu gegebener Zeit begrenzen, wachsen sie immer weiter an.
Das enthüllt ein häufiges Missverständnis über das Aufgeben. Wir sträuben uns dagegen, wenn wir es tun sollten, weil wir das Gefühl haben, dass es unseren Fortschritt verlangsamt oder gänzlich zum Erliegen bringt.
Aber eigentlich trifft genau das Gegenteil zu.
Sie bremsen sich dann aus, wenn Sie etwas fortführen, das die Sache nicht wert ist, sei es eine Beziehung, die nicht gut läuft, oder eine Aktie, in die Sie investiert haben und die Verluste einbringt, oder ein Mitarbeiter, den Sie eingestellt haben und der keine Leistung bringt.
Indem Sie keinen Schlussstrich ziehen, versäumen Sie die Chance, zu etwas überzuwechseln, das Sie besser an Ihre Ziele bringt. Wann immer Sie an einem verlustreichen Unternehmen festhalten, bremsen Sie Ihren Fortschritt. Wann immer Sie sich an etwas klammern, während bessere Chancen existieren, verlangsamen Sie Ihren Fortschritt.
Entgegen der allgemeinen Überzeugung bringt das Aufgeben Sie schneller dorthin, wo Sie sein möchten.
Um richtig über Weitermachen oder Aufhören zu entscheiden, müssen Sie eine kluge Annahme treffen über die Wahrscheinlichkeit, dass sich die Dinge zu Ihren Gunsten entwickeln, und die Wahrscheinlichkeit, dass sie das Gegenteil tun. Ziel ist, herauszufinden, ob das Gute häufig genug auftritt, um eine Fortsetzung Ihres Weges zu rechtfertigen.
Im Wesentlichen müssen Sie in Werterwartungen denken, so wie Stewart Butterfield es getan hat.
Werterwartungen helfen Ihnen bei der Beantwortung von zwei Fragen. Erstens sagen sie Ihnen, ob irgendeine der von Ihnen erwogenen Optionen langfristig und unterm Strich positiv oder negativ für Sie ist. Zweitens ermöglichen sie Ihnen, verschiedene Optionen miteinander zu vergleichen, um herauszufinden, welche die bessere Entscheidung ist, was einfach bedeutet, dass sie den höchsten erwarteten Wert aufweist.
Um den erwarteten Wert für jede Aktivität zu bestimmen, identifizieren Sie zunächst die Bandbreite der vernünftigerweise möglichen Ergebnisse. Manche dieser Ergebnisse werden gut sein und manche schlecht, in unterschiedlichem Maße, und jedes dieser Ergebnisse hat eine gewisse Wahrscheinlichkeit des Eintretens. Wenn Sie die Wahrscheinlichkeit jedes Ergebnisses damit multiplizieren, wie gut oder wie schlecht es sein könnte, und das alles zusammenzählen, erhalten Sie den erwarteten Wert.
Ein einfaches Beispiel. Nehmen wir an, Sie werfen eine Münze, die eine Chance von 50 Prozent hat, auf dem Kopf zu landen, und von 50 Prozent, auf der Zahl zu landen. Für unser Beispiel gewinnen Sie bei Kopf 100 Dollar, bei Zahl verlieren Sie 50 Dollar. Wenn Sie die zu gewinnenden 100 Dollar mit 50 Prozent multiplizieren (wie oft die Münze Kopf zeigt), erhalten Sie 50 Dollar als erwarteten langfristigen Ertrag. Die Multiplikation des Verlustes von 50 Dollar, wenn die Münze Zahl zeigt, mit 50 Prozent ergibt 25 Dollar, Ihren erwarteten langfristigen Verlust. Wenn Sie diese 25 Dollar von 50 Dollar abziehen, erhalten Sie einen Nettoertrag von 25 Dollar. Dieser Münzwurfplan hat also eine positive Werterwartung von 25 Dollar.
Beachten Sie: Obwohl die Wahrscheinlichkeit von Kopf dieselbe ist wie von Zahl (beides tritt in 50 Prozent der Fälle auf), ist Ihre Werterwartung positiv, weil Ihr Profit, wenn Sie gewinnen, größer ist als Ihr Verlust, wenn der Wurf zu Ihren Ungunsten ausfällt.
Sie können auch dann eine positive Werterwartung haben, wenn das, was Sie gewinnen können, viel weniger ist als das, was Sie verlieren können, solange Ihre Gewinnchance groß genug ist, um die Verluste auszugleichen. Wenn Sie beispielsweise 50 Dollar gewinnen können, sobald die Münze Kopf zeigt, oder 100 Dollar verlieren, sobald sie Zahl zeigt, aber in 90 Prozent der Fälle gewinnen und nur in 10 Prozent verlieren, beträgt Ihre Werterwartung 35 Dollar.
Das ist eine Wette, die Sie annehmen sollten.
So gibt es auch Situationen, in denen Ihre Werterwartung positiv sein kann, obwohl nur eine geringe Gewinnchance besteht. Stellen Sie sich vor, eine Münze zu werfen, die zu 99 Prozent Zahl aufweist und zu 1 Prozent Kopf. Wenn die Münze Zahl zeigt, verlieren Sie 100 Dollar, aber wenn sie Kopf zeigt, gewinnen Sie 100.000 Dollar. Selbst wenn Sie nur bei einem von hundert Würfen Geld bekommen, ist der Gewinn groß genug für eine positive Werterwartung in Höhe von 901 Dollar!
(Das ist natürlich eine viel riskantere Wette als die anderen beiden. Risikomanagement ist das Thema vieler anderer Bücher, dieses gehört nicht dazu.)
Beim Denken in Werterwartungen besteht der erste Schritt in der Frage: »Hat die von mir erwogene Aktivität (entweder ein neuer Kurs oder die Fortführung dessen, was ich bereits mache) eine positive Werterwartung?«
Im zweiten Schritt vergleicht man diesen erwarteten Wert mit dem erwarteten Wert anderer Optionen, die möglicherweise in Betracht gezogen werden. Da Zeit, Aufmerksamkeit und Geld begrenzte Ressourcen sind und wir im Leben nur eine begrenzte Anzahl an Dingen tun können, sollten wir uns bei der Überlegung, ob wir an etwas festhalten wollen, die Frage stellen: »Wenn ich wechsele und etwas anderes tue, hätte das eine höhere Werterwartung als das, was ich gegenwärtig mache?«
Wenn Sie sich vorstellen können, dass ein anderer Weg eine höhere Werterwartung hat, gelangen Sie schneller ans Ziel, wenn Sie Ihren gegenwärtigen Weg verlassen und zu dem neuen überwechseln.
Ob Sie nun über das Münzenwerfen oder den Aktienkauf nachdenken, bei denen Gewinn und Verlust in Geld gemessen werden, oder ob Sie darüber nachdenken, wen Sie heiraten oder wo Sie leben wollen, wobei Gewinn und Verlust in Glück und Lebensqualität gemessen werden – die Werterwartung ist ein hilfreiches Konzept, um herauszufinden, ob es sich lohnt, an Ihrem derzeitigen Weg festzuhalten.
Stewart Butterfield nutzte die Werterwartung, um zu entscheiden, ob Glitch weiterentwickelt werden sollte. Als Mitgründer eines Start-ups hatte er es mit einem Vorhaben zu tun, das eine geringe Erfolgsaussicht, aber eine enorme potenzielle Rendite aufwies.
Die große Mehrheit aller Start-ups wird natürlich nicht zu Slack oder Netflix oder Twitter oder Facebook. Die meisten Start-ups scheitern. Trotzdem kann die Erfolgswahrscheinlichkeit immer noch hoch genug sein, um ein Verfolgen dieser großen Idee zu rechtfertigen.
Das enthüllt, was Stewart Butterfield störte. Auf seiner Reise in die Zukunft während seiner schlaflosen Nacht am 11. November 2012 sah er, dass Tiny Speck keine ausreichend hohe Wahrscheinlichkeit aufwies, zu einem des Weitermachens würdigen Einhorn zu werden.
Es gab eine zukünftige Welt, in der er Glitch zu einem Einhorn machen konnte, doch die Wahrscheinlichkeit war zu gering, um diesen Milliarden-Dollar-plus-Ausgang zu nehmen. Er erkannte die Zeichen. Aber wenn man gut im Aussteigen ist, ist man oftmals der Einzige, der die Zeichen lesen kann. Als er am 12. November seine Mitgründer und Investoren davon unterrichtete, verstand er, dass Aufhören eine bessere Werterwartung hatte als Weitermachen.
Im Wesentlichen dachte Stewart Butterfield wie ein Pokerspieler. Siegreiche Pokerspieler denken nicht darüber nach, eine einzige Runde zu gewinnen, komme, was da wolle. Sie wissen, es können zwar nur zwei Karten gewinnen, aber nur wenige Runden können genügend oft gewinnen, um ihre Fortsetzung zu rechtfertigen. Die Entscheidungsgrundlage von Pokerspielern ist, ob Spielen oder Passen die höhere Werterwartung hat. Mit anderen Worten, wenn sie die Runden immer und immer wieder ausspielen, welche Entscheidung (weitermachen oder passen) wäre auf lange Sicht die profitablere?
Wir sind natürlich nicht allwissend, und die meisten von uns werden niemals so gut im mentalen Zeitreisen wie Stewart Butterfield, aber jeder von uns ist in der Lage, einen gewissen Einblick in die Zukunft zu erlangen, und das hilft, um besser bei Abbruchentscheidungen zu werden.
Abbruchentscheidungen sind Werterwartungsentscheidungen
Im Sommer 2021 bekam ich eine E-Mail von einer Leserin, die sich Hilfe bei der Entscheidung wünschte, ob sie ihre Stelle kündigen sollte.
Dr. Sarah Olstyn Martinez spürte, dass sie eine berufliche Wegkreuzung erreicht hatte. Sie war seit sechzehn Jahren als Notärztin tätig und hatte sich vom ersten Augenblick an in die Notfallmedizin verliebt, als sie 2005 während ihres praktischen Jahrs nach dem Studium in der Notaufnahme eines Krankenhauses gearbeitet hatte.
Das Mount Sinai Hospital, an dem Olstyn Martinez ihr Praktikum machte, war eine führende Unfallklinik in Chicago. Es liegt im Bezirk North Lawndale, der als einer der gefährlichsten der Stadt gilt. Laut einer Studie von 2019 zur Entwicklung von Schusswaffengewalt auf der Grundlage von notfallmedizinischen Daten »ist es angemessen zu sagen, dass in Mount Sinai ein großer Prozentsatz aller Schussverletzungen von Chicago behandelt wird«.
Es war eine gute Übung, und sie fand es großartig, in einer führenden Unfallklinik zu arbeiten. Das Praktikum lief so gut, dass sie ihre vierjährige Facharztausbildung in der Notfallmedizin machte.
Im Jahr 2009 zog sie nach Austin, Texas, und wurde Notärztin an dem Krankenhaus, in dem sie die nächsten zwölf Jahre arbeitete. Auch das war eine Arbeit, die sie liebte.
Die Leute denken, ein Notfallmediziner rennt hin und her, drückt den Patienten auf der Brust herum und macht die ganze Zeit verrückte Auf-Leben-und-Tod-Sachen.
Das gehört natürlich auch dazu, aber Olstyn Martinez sagt, im Kern geht es bei dieser Tätigkeit mehr um die tägliche Herausforderung, sich um Menschen in ihren einsamsten und herzzerreißendsten Momenten zu kümmern.
Bei einer Schicht 2021 zum Beispiel war ihre erste Patientin eine Neunzigjährige, die aus einem Pflegeheim hergebracht wurde. Sie war so krank, dass sie nicht mehr sprechen konnte, und Dr. Olstyn Martinez konnte keine Familienmitglieder ausfindig machen, um herauszubekommen, was los war.
Im Zimmer daneben klagte eine Frau von über sechzig, jemand wolle sie vergiften, denn bei jedem Zug aus ihrer Crackpfeife bekomme sie Herzrasen.
Die Möglichkeit, dass dies am Crack liegen könnte, bestritt sie vehement; das rauchte sie schließlich schon seit zwanzig Jahren.
Es war eine emotional ebenso anstrengende wie bereichernde Arbeit. Aber innerhalb der Notfallmedizin ist es gerade der Umgang mit den schwierigen Aspekten der Tätigkeit, der Notärzte so speziell macht. Olstyn Martinez formuliert es so: »Eine der Kernvorstellungen der Notfallmedizin ist: Wenn man nicht wie ein Hund leidet und bis über beide Ohren in der Arbeit steckt und sich vor Patienten nicht zu retten weiß, ist man [ein Versager].«
Anfangs überwogen die Vorteile ihres Berufs eindeutig die Kosten. Zu den Pluspunkten gehörte es, Leben zu retten, der Allgemeinheit zu dienen, ein hochqualifizierter und effektiver Problemlöser zu sein und zur Gemeinschaft der Notärzte zu gehören, die mit so vielen harten, herausfordernden Situationen klarkommen müssen.
Ein zusätzlicher Vorteil dieser Arbeit war, dass es Olstyn Martinez die notwendige Trennung von Arbeit und Privatleben ermöglichte.
Sie hatte feste Schichten, und wenn diese endeten, konnte sie am Rest ihres Lebens teilnehmen. Ob sie ins Fitnessstudio ging oder mit dem Hund zum Tierarzt, sie hatte berufsfreie Zeiten. Das wurde besonders wichtig, als 2014 und 2017 ihre beiden Töchter zur Welt kamen.
Doch dann änderten sich die Umstände.
Zusätzlich zu ihren Notfallschichten wurde Dr. Olstyn Martinez 2015 Krankenhausleiterin für Notfall- und Unfallmedizin sowie 2020 Leiterin Pflegequalität für zwölf Notfallabteilungen im Gesundheitssystem der Klinik. Im Laufe dieser Jahre erweiterten sich ihre Verwaltungsaufgaben, was zu einer negativen Entwicklung führte.
Zwar erbrachte Dr. Olstyn Martinez in ihrer zusätzlichen Direktorinnenstelle herausragende Leistungen, wie die Erweiterung ihrer Verantwortlichkeiten 2020 bewies, doch durch die steigende Zahl von Verwaltungsaufgaben konnte sie nur noch sechs Schichten pro Monat als Notfallmedizinerin arbeiten. Das bedeutete eine begrenzte Zeit für den Teil ihres Berufs, in den sie sich ursprünglich verliebt hatte.
Aufgrund ihrer erhöhten Arbeitsbelastung, vor allem in einer Phase wachsender finanzieller Einschnitte in der medizinischen Versorgung und Verwaltung sowie (natürlich) der Pandemie, nahm ihr beruflicher Stress zu und forderte seinen Tribut. Die Grenze zwischen ihrem Berufs- und ihrem Privatleben löste sich in Luft auf. Das war kein Job mehr, den sie nach Schichtende hinter sich lassen konnte. Sie konnte ihr Gehirn nicht abschalten. Pausenlos bekam sie Textnachrichten und Mails, jede davon ein Brand, den sie löschen musste. Es gab keine Freizeit mehr.
Zunehmend hatte sie den Eindruck, in ihrem eigenen Leben nicht mehr ganz anwesend zu sein. Am schlimmsten war das für sie bei ihren beiden kleinen Töchtern. Eines Abends um acht merkte sie, dass ihre Siebenjährige versuchte, ihre Aufmerksamkeit zu erlangen, und ständig wiederholte: »Mama. Mama? Mama! MAMA !!« Als sie schließlich aufsah, sagte ihre Tochter: »Du hörst mir gar nicht zu, weil du auf dein Handy guckst. Du guckst ständig auf dein Handy.«
Und sie hatte recht.
Olstyn Martinez war daran gewöhnt, eine fordernde Arbeit zu haben, aber sie wusste, dass es sich negativ auf sie und ihre Familie auswirkte. Sie nahm alles mit nach Hause. Das konnte sie körperlich spüren. Sie konnte nicht gut einschlafen. Sogar die Haare fielen ihr aus.
Das Gleichgewicht zwischen dem, was sie an ihrer Arbeit liebte, und den damit verbundenen Kosten war nicht mehr gewahrt.
Über ein Jahr lang dachte sie ans Kündigen, tat es aber nicht. Ein Freund bot ihr dann 2021 an, sie für eine Stelle bei einem Versicherungsunternehmen zu empfehlen. Olstyn Martinez absolvierte den Vorstellungsprozess mit Bravour, und bald wurde klar, dass sie eine Entscheidung treffen musste, und zwar rasch.
Aber sie konnte sich einfach nicht entschließen, ob sie nun die neue Stelle annehmen und ihre alte kündigen sollte oder nicht.
An diesem Punkt hörte ich von Sarah. Ich schrieb ihr zurück, und wir vereinbarten ein Telefonat.
Nachdem ich mir ihre Geschichte angehört hatte, stellte ich ihr eine einfache Frage: »Stellen Sie sich vor, es ist ein Jahr später, und Sie sind bei der Stelle geblieben, die Sie jetzt innehaben – wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass Sie am Ende dieses Jahres unglücklich sind?«
Sie sagte: »Ich weiß, dass ich unglücklich sein werde, hundert Prozent.«
Darauf fragte ich: »Wenn es ein Jahr später ist und Sie die neue Stelle angetreten haben, über die Sie nachdenken, wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass Sie unglücklich sein werden?«
»Na ja, ich weiß nicht«, sagte sie.
»Hundert Prozent?«
»Definitiv nicht«, erwiderte sie. Dann fiel der Groschen. »Oh, Moment mal. Ich bleibe auf jeden Fall unglücklich, wenn ich bleibe. Wenn ich wechsele, bin ich manchmal unzufrieden und manchmal nicht. Gelegentlich wird die Arbeit, zu der ich wechsele, mir echte Erfüllung geben, und das ist ja wohl besser.«
Ich hatte lediglich ihre Ausstiegsentscheidung als Frage der Werterwartung neu formuliert. Sie erwog zwei Optionen: bei ihrer Stelle zu bleiben oder aufzuhören, um die neue Position bei der Versicherung anzutreten. Welche der beiden hatte größere Aussichten darauf, ihre Zufriedenheit zu vergrößern und ihr ein besseres Gefühl in Bezug auf die Beziehung zu ihren Kindern zu geben?
Sie erkannte, dass mit der Annahme der neuen Stelle eine höhere Werterwartung verbunden war.
Die Geschichte von Dr. Olstyn Martinez erinnert uns daran, dass es bei Werterwartung nicht nur um Geld geht. Sie kann in Gesundheit, Wohlbefinden, Glück, Zeit, Erfüllung, Zufriedenheit in Beziehungen oder allem Möglichen anderen gemessen werden, das für Sie von Bedeutung ist.
Zeitreisende aus der Vergangenheit
Ich spreche häufig über das Denken in Werterwartungen als eine Art mentale Zeitreise, mit der Sie sich in die Zukunft versetzen, um einen Blick auf mögliche Ergebnisse zu werfen und einzuschätzen, wie wahrscheinlich ihr Eintreten ist.
Die Zeitreise als Hilfsmittel, um besser im Aufhören zu werden, funktioniert in beide Richtungen. Manchmal blickt man wie Stewart Butterfield oder Sarah Olstyn Martinez in die Zukunft, indem man die Hinweise nutzt, die einem die Gegenwart bietet. Sie können jedoch auch davon profitieren, Botschaften aus der Vergangenheit wahrzunehmen.
Vor dem Gipfeltag 1996 hatten schon Hunderte Menschen den Mount Everest bestiegen. Diese vorangegangenen Bergsteiger hatten die richtigen Umkehrzeiten herausgefunden, sei es Rob Hall im Jahr 1995, Tenzing Norgay und Sir Edmund Hillary 1953 oder alle Kletterer dazwischen. Als Hutchison, Taske und Kasischke um 11.30 Uhr eine schwierige Abbruchentscheidung trafen, tippten diese Menschen aus der Vergangenheit ihnen auf die Schulter und ließen sie wissen: »Jetzt ist der Zeitpunkt, um umzukehren.«
Der pensionierte Vier-Sterne-Admiral William McRaven, eine der angesehensten Persönlichkeiten der Militärstrategie, der US -Außenpolitik und der Anti-Terror-Einsätze, zu dessen Teilnahme an zehntausend Navy-SEAL -Missionen während seiner siebenunddreißigjährigen Berufslaufbahn auch die Organisation und Überwachung des erfolgreichen Angriffs auf Osama bin Laden gehörte, betonte wiederholt die Wichtigkeit dieses Aspekts des Zeitreisens beim erfolgreichen Treffen von Entscheidungen über Durchhalten oder Abbrechen bei Militärmissionen.
Admiral McRaven hat die Militärgeschichte jahrelang studiert (und sein Wissen als Lehrer, Vortragsredner und Autor weitergegeben). Bei seinen Reden deutete er auf ein Regal voller Bücher hinter sich und sagte: »Ungefähr drei Viertel der Bücher hinter mir sind Geschichtsbücher über Kämpfe, die gut ausgingen, und Kämpfe, die schlecht endeten.«
Er erzählte davon, wie diese Geschichtsbücher ihm dabei halfen, Zugang zu Zeitreisenden aus der Vergangenheit zu erhalten. »Ist es Clausewitz, der hervorkommt, um mir etwas mitzuteilen? Ist es Napoleon, der hervorkommt, um mir etwas mitzuteilen? Ist es Norman Schwarzkopf, der hervorkommt, um mir etwas mitzuteilen?«
Admiral McRavens eigene Erfahrungen bei all diesen Missionen ermöglichen es vergangenen Versionen seiner selbst ebenfalls, ihm wichtige Botschaften über die Zeit hinweg zu vermitteln. »Wenn Ihnen zu einem späteren Zeitpunkt Ihrer Karriere ein neues Ziel begegnet, sagen Sie: ›Weißt du was? Vor zwanzig Jahren habe ich schon mal etwas ganz Ähnliches gemacht.‹ Wer neu dabei ist, sagt: ›Unmöglich.‹ Ich sage: ›Doch, klar. Ich hab es getan.‹«
Wenn Sie eine Entscheidung über das Aufhören treffen, müssen Sie auf diejenigen Menschen der Vergangenheit hören, die Ihnen wichtige Ratschläge erteilen. Manchmal handelt es sich dabei um Personen, die schon vor Ihnen einen ähnlichen Weg gegangen sind. Und manchmal ist der Zeitreisende aus der Vergangenheit eine frühere Version Ihrer selbst.
Der Wirtschaftswissenschaftler Steven Levitt, Mitautor des überaus bekannten Buches Freakonomics , erstellte 2013 eine Website, deren Besucher eine virtuelle Münze werfen konnten, um zu einer Entscheidung über das Aufhören oder Weitermachen zu gelangen.
Die Teilnehmer gaben ein, womit sie gerade rangen, und es gab eine Vielzahl von Entscheidungsformen. Viele davon waren große Lebensentscheidungen wie »Soll ich meine Arbeit kündigen oder behalten?« oder »Soll ich meine Beziehung beenden oder fortführen?« oder »Soll ich weiterstudieren oder abbrechen?« Mit anderen Worten, es waren die normalen Entscheidungsarten, die Menschen nun mal Kopfzerbrechen bereiten.
Die Website wies einer Seite der Entscheidung, zum Beispiel die Stelle behalten, Kopf zu und der anderen Seite, zum Beispiel kündigen, Zahl. Wenn die Nutzer das Bild der Münze anklickten, erhielten sie das Ergebnis des virtuellen Münzwurfs angezeigt.
Vielleicht erfüllt es Sie mit Skepsis, dass Menschen auf einer Website eine Münze werfen, um sich Hilfe für eine lebensverändernde Abbruchentscheidung zu holen. Aber im Laufe von einem Jahr taten zwanzigtausend Menschen genau dies.
Sicher empfanden diese Menschen die Entscheidung, ob sie aufhören oder weitermachen sollten, als so knapp, so 50:50, dass ihnen ein Münzwurf als Entscheidungshilfe wie eine vernünftige Option erschien. Es ist fraglich, ob die Münzwerfer mit gleicher Wahrscheinlichkeit zufriedener gewesen wären, wenn die Münze Kopf oder Zahl zeigte, ob sie weitermachten oder aufgaben, wenn die Entscheidungen tatsächlich so knapp waren, wie sie annahmen.
Das ist letztlich die Definition einer knappen Angelegenheit.
Aber das war es nicht, was Levitt herausfand. Als er zwei und sechs Monate später bei den Münzwerfern nachhakte, stellte er fest, dass die Menschen, die bei großen Lebensentscheidungen den Schlussstrich gezogen hatten, im Durchschnitt glücklicher waren als jene, die weitergemacht hatten, ob sie nun aus eigenem Antrieb aufgehört hatten oder weil die Münze zugunsten des Aufhörens gefallen war.
Für die Menschen mögen sich die Entscheidungen knapp angefühlt haben, waren es jedoch eigentlich gar nicht. Nach der Zufriedenheit der Teilnehmer zu beurteilen, war das Aufhören der klare Gewinner.
Dass die Menschen viel glücklicher waren, wenn sie bei etwas den Schlussstrich zogen, das sie als knappe Entscheidung betrachteten, zeigt, dass man im Allgemeinen zu spät ein Ende macht. Genau das war es, was auch Sarah Olstyn Martinez passierte. Sie dachte, es wäre eine knappe Entscheidung, aber nachdem ich es im Hinblick auf die Werterwartung formuliert hatte, erkannte sie, dass es überhaupt nicht knapp war.
Levitts Schlussfolgerung betont diesen Punkt. »Die Ergebnisse dieser Arbeit zeigen, dass Menschen bei lebensverändernden Entscheidungen übertrieben vorsichtig sein können.«
Auch die Konsequenz daraus trifft zu. Wenn man rechtzeitig abbricht, fühlt es sich meistens an wie ein zu frühes Aufhören, weil man die Entscheidung noch lange nicht als knappe Angelegenheit betrachtet.
Das stimmt überein mit der Vorstellung, dass die Waage wider den Abbruch manipuliert ist. Wie sich herausstellt, legt unsere Psychologie so sehr den Daumen auf die Waage, dass es nicht mal annähernd den Tatsachen entspricht, wenn wir die Verteilung der Optionen Aufhören und Weitermachen mit 50:50 einschätzen.
In diesem Buch werfen wir einen genauen Blick auf die kognitiven und motivationalen Kräfte, welche die Waage zugunsten des Durchhaltens beeinflussen, ebenso wie auf die praktischen Strategien zur Neukalibrierung der Waage. Nehmen Sie fürs Erste diese einfache Heuristik als Faustregel: Wenn Sie den Eindruck haben, dass die Wahl zwischen Aufhören und Weitermachen eine ganz knappe Angelegenheit ist, dann ist Aufhören wahrscheinlich die bessere Entscheidung .
In den 1990er-Jahren unterhielten sich zwei Studenten der Universität Michigan, Jon Hein und Sean Connolly, welche Anzeichen es gegeben hatte, dass ihre ehemalige Lieblings-Fernsehsendung einen unaufhaltsamen Abstieg begonnen hatte. Diese Diskussion brachte die im amerikanischen Sprachraum bekannte Redewendung »über den Hai springen« hervor.
Der konkrete Augenblick, den sie identifizierten, betraf die beliebte klassische Fernsehserie Happy Days , die seit Januar 1974 ausgestrahlt wurde. Auf ihrem Höhepunkt hatte sie mehr als 30 Millionen Zuschauer. Hein und Connolly entschieden, dass Happy Days in Folge 91 (fünfte Staffel, September 1977) über den Hai gesprungen war, als Fonzie, die Lederjacken tragende Verkörperung der Coolness, sprichwörtlich über einen Hai sprang.
Um so eine Story zu entwickeln, musste die Serie Fonzie von Milwaukee nach Kalifornien bringen. Das wurde arrangiert, indem ein paar Talentsucher aus Hollywood durch das Städtchen fahren. Ihr Auto bleibt liegen, und sie »entdecken« Fonzie und laden ihn zum Vorsprechen nach Hollywood ein. Die restliche Besetzung der Serie macht sich mit ihm auf die Reise.
Das Ganze gipfelt darin, dass Fonzie in Hollywood mit Wasserskiern im Stil von Evel Knievel über einen Hai hinwegspringt. Als wäre das noch nicht lächerlich genug, trägt er außerdem seine Markenlederjacke und eine Badehose.
So wurde »über den Hai springen« zum ultimativen Popkultur-Begriff und häufig für die Bezeichnung eines Punktes verwendet, an dem etwas Gutes schlecht wird. Heute nutzt man ihn für abgewrackte Fernsehsendungen, Filmfortsetzungen, Schauspieler und sogar Sportler, Musiker und Influencer.
Rückblickend erkennen wir den Zeitpunkt, an dem jemand hätte aufhören sollen. Wenn Ihr Lieblings-Quarterback ein paar Jahre zu lange weitermacht, kann man leicht den exakten Moment bestimmen, an dem sein Abstieg begonnen hat. Es ist leicht, auf eine Beziehung zurückzublicken und zu erkennen, wann alles irreparabel den Bach herunterging. Es ist leicht, zurückzuschauen und den Moment auszumachen, in dem klar war, dass Blockbuster gegen Netflix unterliegen würde.
Wir haben die Erwartung, dass andere im Voraus hätten sehen müssen, was wir rückblickend so einfach erkennen. Und wenn nicht, dann können wir kaum glauben, wie begriffsstutzig sie sind. Darum geht es beim Springen über den Hai. Man macht sich lustig über jemanden, der nicht rechtzeitig aufgehört hat, ungeachtet dessen, dass es viel schwerer ist, den Hai im Voraus zu sehen und wie Stewart Butterfield vorausblickend zu agieren.
Das Traurige ist aber, dass wir uns ebenso sehr über Leute lustig machen, die zu spät abspringen, wie über jene, die es rechtzeitig tun und denen wir dann unterstellen, es sei zu früh gewesen.
Das ist die Absprung-Fessel.
In den 1990er-Jahren wurde Dave Chappelle zu einem bekannten Stand-up-Comedian und Schauspieler. Aufgrund seiner wachsenden Gefolgschaft und eines erfolgreichen HBO -Specials wurde 2003 auf dem Fernsehsender Comedy Central Chappelle’s Show eingeführt. Sie wurde sofort zum Hit und als »einzigartiger Knaller in den Annalen der amerikanischen Fernseh-Comedy« bezeichnet. Nach der ersten Staffel gab ihm Comedy Centrals neuer Mutterkonzern Viacom einen 55-Millionen-Dollar-Vertrag für zwei weitere Staffeln. Darin enthalten waren auch die Freiheit, externe Projekte durchzuführen, und eine Beteiligung am DVD -Umsatz, der Rekordzahlen erreichte.
Chappelles Passion waren Auftritte vor Live-Publikum, deshalb ging er weiterhin auf Tour. Es wurde deutlich, dass ihn die Konflikte zwischen seiner Berühmtheit und seiner Leidenschaft unglücklich machten. Bei einer ausverkauften Aufführung in Sacramento im Juni 2004 verließ er die Bühne, nachdem das Publikum ständig die Pointe seines beliebtesten Sketches brüllte. Als er auf die Bühne zurückkehrte, hielt er dem Publikum eine Strafpredigt und räumte ein: »Die Show ruiniert mein Leben.«
Im Mai 2005 stieg Chappelle aus der Produktion der dritten Staffel von Chappelle’s Show aus. Er stieg aus seinem gigantischen Vertrag (und den Verhandlungen über ein sogar noch größeres Vermögen) aus. Die Unterhaltungsbranche tobte vor Wut über Chappelles Entscheidung, denn keiner verstand, warum jemand, der so viel Erfolg hatte, dessen Sendung ein Knaller war und dem ein so lukrativer Vertrag angeboten worden war, einfach aufhörte.
In so einer Situation aufzugeben, schien so verwirrend, dass sich die wildesten Gerüchte verbreiteten: Etwas musste mit Chappelle nicht stimmen. Die Show war geplatzt. Er war verschwunden. Er hatte ein Drogenproblem. Er hatte sich selbst in die Psychiatrie eingeliefert.
Nichts davon stimmte.
Dave Chappelle hörte auf, weil er in die Zukunft reisen konnte und dort zwei Dinge sah. Erstens war er in dieser Zukunft unglücklich. Chappelle wusste, dass eine Fortsetzung der Fernsehshow sich zunehmend negativ auf seine Lebensqualität auswirken würde.
Zweitens sah er den Hai. Er spürte, dass er kurz davor stand, die Linie zu überqueren, hinter der sein Publikum nicht mehr mit ihm, sondern über ihn lachte. Die Show würde den Bach runtergehen, und seine wachsende Unzufriedenheit würde dazu beitragen.
»Ich will sicherstellen, dass ich nicht herumschlurfe, sondern tanze«, formulierte Chappelle es zwei Wochen später in einem Interview. Gegen Ende des neunzigminütigen Gesprächs fragte er: »Reicht das, um zu beweisen, dass ich kein Crack rauche oder in einer Nervenklinik sitze?«
Dieselbe Enttäuschung war zu spüren, als Phoebe Waller-Bridge 2019 mitteilte, sie würde Fleabag beenden. Mit ihren zwei Staffeln (sechs Folgen 2016 und sechs 2019) hatte die Serie weltweit großen Beifall geerntet. Nach der zweiten Staffel gewann sie sechs Emmys, darunter für Comedyserien, für Hauptdarstellerin in einer Comedyserie, für Regie für eine Comedyserie und für Drehbuch für eine Comedyserie. Obwohl Waller-Bridge erklärte, das Ende der Serie stimme mit dem Erzählbogen der Titelfigur überein, fühlten sich die Fans im Stich gelassen und bettelten unablässig um eine dritte Staffel.
In der Geschichte des Fernsehens gab es noch eine Handvoll weiterer Serien, die auf ihrem Höhepunkt Schluss machten, darunter I Love Lucy und Seinfeld . Für gewöhnlich war die Öffentlichkeit der Meinung, dass die Serien hätten fortgesetzt werden sollen. Ob es nun um Lucille Ball und Desi Arnaz geht, um Jerry Seinfeld, um Phoebe Waller-Bridge oder um Dave Chappelle, im Allgemeinen finden die Leute, dass die Schöpfer zu früh aufhören, wenn sie noch gar nicht über den Hai gesprungen sind.
Dave Chappelle zog mit seiner Familie wieder in die Kleinstadt in Ohio, in der er aufgewachsen war. Er trat wieder auf, allmählich und gelegentlich, aber zu seinen eigenen Bedingungen. Im Jahr 2013 ging er wieder auf Tournee. Mit Netflix einigte er sich 2016 auf einen Vertrag, der ihm 20 Millionen Dollar pro Stand-up-Special einbrachte. In der Woche nach der Präsidentschaftswahl 2016 moderierte er Saturday Night Live und gewann dafür 2017 einen Emmy. Den Mark-Twain-Preis für amerikanischen Humor erhielt er 2019.
Man kann viele Ähnlichkeiten zwischen Dave Chappelle und Stewart Butterfield ausmachen. Beide hörten zu einem Zeitpunkt auf, als ihre Vorhaben gut liefen, denn beide hatten genügend Voraussicht, um zu erkennen, dass die Zukunft nicht rosig aussah, egal wie glänzend sich die Gegenwart dem ungeschulten Auge darbot.
Der Ausstieg machte Chappelle ebenso wie Butterfield frei für das Ausloten anderer Chancen, die ihm mehr Glück und kreative Zufriedenheit verschafften.
Es gab sogar Gemeinsamkeiten darin, wie ihr Ausstieg wahrgenommen wurde (oder wie sie dachten, dass er wahrgenommen werden würde). Chappelle musste natürlich damit klarkommen, dass die ganze Welt dachte, er nehme Drogen oder habe einen Nervenzusammenbruch. So etwas erlebte Butterfield nicht, aber er sorgte sich, dass man seine Entscheidung als launenhaft wahrnehmen könnte, und ließ seine Investoren vorsorglich wissen: »Nur um das klarzustellen: Ich mache das nicht, weil ich rastlos oder gelangweilt bin.«
Dieses Verhalten, gekonnt die Ausstiegsoption zu nutzen, verblüfft uns. Im Bemühen, der Welt einen Sinn zu geben, unterstellen wir ihm alles Mögliche. Die Aussteiger sind Feiglinge oder verrückt oder auf der Flucht. Das ist die menschliche Neigung, wenn wir etwas nicht begreifen. Wir versuchen, seinen Sinn zu entschlüsseln.
Häufig ist das dem Aufgebenden gegenüber nicht besonders nett.
Zusammenfassung Kapitel 2