EINSCHUB 1

Ausstieg vor aller Augen

El Capitan ist der berühmteste – und eindrucksvollste – Felsen der Welt. Er liegt im Yosemite-Nationalpark und hat enorme Ausmaße sowie über siebzig anerkannte Aufstiegsrouten. Vom Fuß bis zum Gipfel misst »El Cap« 900 Meter.

Die erste Besteigung 1958 gelang einem Team, das innerhalb von sechzehn Monaten sechsundvierzig Tage damit zubrachte, Bolzen in den Granit zu bohren, um sich an Seilen hochzuziehen.

Achtundfünfzig Jahre später, im Jahr 2016, beschloss der Spitzenkletterer Alex Honnold, den Felsen auf eine verrückte, fast unvorstellbare Weise zu besteigen. Auf einer extrem schwierigen Route namens Freerider wollte er »free solo« aufsteigen. Ganz allein. An einem Tag. Vom Fuß bis zum Gipfel, ohne Haken oder Kletterhilfen einzuschlagen oder auch nur zu verwenden außer den von der Natur gegebenen. Und ohne Seile zu verwenden, um seinen Aufstieg zu unterstützen oder, was noch wichtiger ist, die Folgen eines Absturzes zu vermeiden oder zu begrenzen.

Honnold vertraute ein paar Leuten – fast alle ebenfalls Spitzenkletterer – an, dass er die Absicht hatte, via Freerider allein und ohne Hilfsmittel hochzusteigen. Er willigte ein, dass sein Freund Jimmy Chin die Aktion filmte, und Chin nahm an, dass dies eine fantastische Dokumentation werden würde, nicht nur weil Honnold einer der wenigen war, die etwas so Gefährliches überhaupt in Betracht zogen, sondern auch, weil noch nie jemand einen Einzelaufstieg ohne Hilfsmittel auf den El Capitan versucht hatte.

Fast alle Kletterer nutzen Sicherheitsseile, wenn sie Felsen besteigen. Der menschliche Körper kann einen Sturz aus mehr als 25 Metern Höhe kaum überleben. Bei Felsformationen von Dutzenden oder sogar Hunderten Metern Höhe bedeutet ein Absturz den Tod.

Selbst die erfahrensten Kletterer der Welt (die sich selbst als »Freeclimber« betrachten) erkennen die Unvermeidlichkeit der Schwerkraft an und richten sich danach. Freeclimber bleiben aus Sicherheitsgründen an Seilen befestigt, nutzen diese jedoch nicht als Aufstiegshilfen, ebenso wie Trapez- oder Drahtseilkünstler Netze (oder Seile) nur verwenden, um sie im Falle eines Absturzes aufzufangen. Freeclimbing gilt als Test für die Kletterfähigkeiten, hat aber den Vorteil des Verzeihens, wenn man aus mehr als 25 Metern Höhe stürzt.

Freeclimbing ohne Seil ist derselbe Eignungstest, doch man stirbt beim ersten Fehler, weil kein Seil einen Sturz aus tödlicher Höhe bremst. Deshalb gibt es so wenige Solo-Freeclimber, und die meisten der bekannten weilen nicht mehr unter uns.

So eine Meisterleistung ist die ultimative Ja-/Nein-Prüfung. Tommy Caldwell, ein weiterer Hardcore-Kletterer der Spitzenklasse und Freund Honnolds, der ihm beim Training half, sagte: »Stellen Sie sich eine sportliche Leistung auf olympischem Goldmedaillen-Niveau vor, bei der Sie sterben, wenn Sie die Goldmedaille nicht gewinnen. Ungefähr so ist es, allein und ohne Hilfsmittel auf den El Cap zu klettern. Da muss man schon perfekt sein.«

Auch Honnold dabei zu filmen, war ein schwieriges, teures und heikles Unterfangen. Chin stellte ein Kamerateam aus erfahrenen Kletterern zusammen. Wie Chin und Caldwell waren die meisten davon mit Honnold befreundet. Sie mussten zehn Kameras an verschiedenen Punkten der Route platzieren, einrichten und bedienen. Das musste außerdem unsichtbar erfolgen, um den Klettervorgang weder zu behindern noch zu unterstützen.

Mehrere Monate des Jahres 2016 übte Honnold – mit Seilen – die Tücken aller dreißig Abschnitte (als »Pitches« bezeichnet) der Freerider-Route. Sein Training vor Ort wurde häufig von der Filmcrew dokumentiert, darunter auch sein Ausrutscher beim Training auf Pitch 6, Freeblast Slab (146 Meter Höhe). Er war an einem Seil befestigt, deshalb stürzte er »nur« 9 Meter tief, doch das war immer noch genug, um sich den Knöchel zu verstauchen und eine Bänderzerrung zuzuziehen.

Drei Wochen nach seiner Verletzung nahm er, nur teilweise genesen, das Training wieder auf und beschloss, bald seinen Solo-Aufstieg zu versuchen, ehe der herannahende Winter das Zeitfenster für 2016 schloss.

Die Dokumentarcrew filmte alles.

Am Morgen seines Vorhabens erwachte er um 3.30 Uhr und begann in der Dunkelheit aufzusteigen. Das Kamerateam musste gleichzeitig außer Sicht bleiben und auf seine Positionen gelangen. Als er Pitch 6 erreichte, filmte ihn eine Kamera aus der Entfernung, seine Stirnlampe war die einzige Lichtquelle.

Während er an Pitch 6 im Fels hing, spürte Honnold, dass er seinen Füßen nicht trauen konnte.

Das war die perfekte Voraussetzung, um eine schlechte Entscheidung über die Fortsetzung des Aufstiegs zu treffen. Er hatte Monate in die Vorbereitung investiert. Geld war ausgegeben worden. Etliche andere Kletterer hatten Zeit aufgewendet, um ihm bei der Vorbereitung zu helfen, einige hingen im Fels, um ihn zu filmen. Mit vielen davon war er eng befreundet, darunter Jimmy Chin, der Honnolds Versuch filmte.

Chin hatte eine Menge Material, aber daraus eine Dokumentation zu machen ohne einen großen Gipfelaufstieg wäre, als wolle man einen Rocky -Film verkaufen, der mit einer Trainingsszene endet. Es gab keine Doku, wenn Honnold nicht weiter als 146 Meter auf Pitch 6 hochstieg und dann umkehrte.

Schlimmer noch, es war das Ende der Saison. »Bis zum nächsten Jahr warten« kann dasselbe heißen wie »nie«, wenn es um die Frage geht, ob ein Freeclimber das im folgenden Jahr immer noch will – oder überhaupt noch am Leben ist, um es zu probieren.

Trotz all der Kräfte, die gegen ein Aufgeben Honnolds in diesem Moment wirkten, sabotierte er sein Vorhaben absichtlich, indem er sich an einem nahe gelegenen Sicherungshaken festhielt. Über ein Mikrofon in seiner Kreidetasche sagte er: »Das ist ätzend. Ich will hier nicht sein. Ich bin raus.«

Er kletterte abwärts. Die ganze Crew kletterte abwärts. Die Gruppe ging auseinander, und Honnold kehrte zurück zu seinem Van (in dem er auch gelebt hatte) und fuhr 560 Kilometer heim nach Las Vegas.

Im nächsten Juni kehrte Alex Honnold zurück, die Crew fand wieder zusammen, und er bestieg erfolgreich den Gipfel, allein und ohne Hilfsmittel. Die New York Times bezeichnete das als »eine der größten sportlichen Leistungen jeglicher Art und aller Zeiten«. Jimmy Chin und Mitregisseurin Elizabeth Chai Vasarhelyi brachten die Dokumentation Free Solo 2018 heraus. Diese gewann den Oscar für den besten Dokumentarfilm.

Fast jeder, der Free Solo sieht, ist fasziniert von der Schwierigkeit dessen, was Honnold tat, der Gefahr und den notwendigen Fähigkeiten (ganz zu schweigen von dem Aufwand, das alles zu filmen). Als körperliche Leistung war Alex Honnolds Solo-Aufstieg im Juni 2017 natürlich tatsächlich eindrucksvoll und suchte ihresgleichen.

Weniger offensichtlich war jedoch die mentale Leistung, bei Pitch 6 aufzugeben und zurückzukehren. Als er die Entscheidung gefällt hatte, es zu wagen und an diesem Morgen im Jahr 2016 aufzusteigen, drängte jede Kraft – außer natürlich der Schwerkraft – ihn zum Durchhalten. Er hatte Monate in das Training investiert. Seine Freunde hatten nicht nur Zeit und Geld in das Vorhaben gesteckt, sondern riskierten im wahrsten Sinne des Wortes ihr Leben , um es zu filmen. Ein gesamtes Filmprojekt stand auf dem Spiel.

Zu verstehen, was Honnolds Entscheidung so außergewöhnlich machte, vermittelt uns einen Einblick in die Kräfte, die uns alle dazu treiben, zu lange durchzuhalten, und in die Strategien, mit denen wir mehr wie Honnold werden könnten, wenn es um unsere Entscheidungen über das Weitermachen und das Aufhören geht.