Das Ich lässt sich am schwersten aufgeben – Identität und Dissonanz
D ER AUFSTIEG UND FALL DER FIRMA SEARS , ROEBUCK und Co. vom Erscheinen ihres ersten Sears-Versandhauskatalogs im Jahr 1896 bis zu ihrem Bankrott im Jahr 2018 ist wohlbekannt. In den ersten dreißig Jahren ihres Bestehens verkaufte Sears ausschließlich per Versandbestellung. Die Entstehung des Sears-Katalogs profitierte von der Entwicklung von Trends, die dem neuen Unternehmen bei der Revolutionierung des Einzelhandels halfen.
Zwei Drittel der Amerikaner lebten in ländlichen Gebieten und hatten praktisch keinen Zugang zu massenproduzierten Waren. Die Ausbreitung von Eisenbahnstrecken sowie ein Projekt des U.S. Postal Service von 1896 mit dem Namen Rural Free Delivery ließ den Postdienst enorm zunehmen. Dank dem anfangs sogenannten Book of Bargains (532 Seiten) hatten Menschen in Kleinstädten und auf abgelegenen Farmen plötzlich die Möglichkeit, Fahrräder, Kinderwagen, Kleidung, Möbel, landwirtschaftliche Geräte, Nähmaschinen, nicht verschreibungspflichtige Medikamente und anscheinend alles andere auf der Welt zu kaufen.
Rasch wurde Sears zu einem phänomenal erfolgreichen Anbieter von Bestellware. Als der Gründer Richard Sears 1908 in den Ruhestand ging, wurde sein Vermögen auf 25 Millionen Dollar geschätzt.
Um das enorme Wachstum von Sears zu fördern, sponserte Goldman Sachs den 40-Millionen-Dollar-Börsengang des Unternehmens im Jahr 1906. Sears war das erste amerikanische Einzelhandelsunternehmen, das an die Börse ging. Sein Wachstum galt als so eindrucksvoll, dass es dabei als einer der Ersten sein Kurs-Gewinn-Verhältnis veröffentlichte. Als Goldman Sachs 2019 ihren 150. Geburtstag feierten, bezeichneten sie den Sears-Börsengang als historisches Highlight und erwähnten auch dessen beeindruckende Größe: »Nach heutigem Maßstab betrug der Unternehmenswert damals 26,2 Milliarden Dollar.«
In den folgenden fünfzehn Jahren wuchs Sears weiterhin rapide, bis die 1920er-Jahre eine Reihe von Herausforderungen für sein Geschäftsmodell schufen: die durch das Automobil entstandene Mobilität, mehr Wettbewerb, eine landwirtschaftliche Depression und eine demografische Verlagerung in Richtung der Städte.
Sears reagierte durch eine Kehrtwende bei seinem Verbrauchergeschäft vom Katalogversand zu Ladengeschäften.
Bis 1929 betrieb Sears über dreihundert Kaufhäuser. Sogar während der Weltwirtschaftskrise florierte das Unternehmen und verdoppelte beinahe die Zahl seiner Filialen. Zwischen 1941 und 1954 verdreifachten sich die Jahresumsätze auf 3 Milliarden Dollar. In den folgenden zwanzig Jahren verdoppelten sich die Jahresumsätze erneut auf 10 Milliarden Dollar, da Sears zu einem wichtigen Ankermieter in Hunderten Einkaufszentren überall in den amerikanischen Vorstädten wurde.
Bis Anfang der 1970er-Jahre war Sears das Aushängeschild der amerikanischen Konsumkultur. Sein Jahresumsatz betrug rund 1 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Zwei von drei Amerikanern gingen mindestens einmal pro Quartal bei Sears einkaufen.
Im Jahr 1969 kündigte Sears Pläne an, eine neue Hauptniederlassung zu bauen, die das höchste Gebäude der Welt werden sollte. Der 110-stöckige Sears Tower wurde 1973 fertiggestellt.
Kaum war Sears in den gleichnamigen Wolkenkratzer gezogen, stand es vor Problemen für sein Einzelhandelsgeschäft, die ernster waren als alles, was ihm im letzten halben Jahrhundert begegnet war. Wie schon in den Zwanzigerjahren waren demografische Veränderungen und eine verstärkte Konkurrenz in hohem Maße daran beteiligt.
Sears hatte sein Image bei den amerikanischen Verbrauchern seit den 1890er-Jahren kultiviert und gepflegt, nun wurde ihm eben dies zum Verhängnis. Zum einen kratzte die Ausbreitung von Niedrigpreis-Warenhäusern (besonders Walmart, Kmart und Target) am Image von Sears als günstigste Bezugsquelle. Sears war zu kopflastig, um preislich mit den neuen Ketten mithalten zu können, und führte einen aussichtslosen Kampf um dieses Geschäft, während die Ketten sich ausbreiteten. Zum anderen tendierten die wohlhabenderen Verbraucher zu dem gehobenen Image von Kaufhäusern wie Saks Fifth Avenue, Nordstrom, Macy’s und Neiman Marcus.
Paradoxerweise war es gerade die Ausdehnung des Unternehmens in Richtung Shoppingmalls, die viele Einkäufer mit diesen Mitbewerbern in Berührung brachte. Darüber hinaus war die Angebotsbreite von Sears von einem Vorteil zu einem Nachteil geworden. Die Einkaufszentren öffneten ihre Türen nicht nur für konkurrierende Kaufhäuser, sondern boten auch Fachgeschäften (zum Beispiel Gap und Limited) eine Chance, den riesigen Verbrauchermarkt zu erreichen.
Sears geriet in einen verlustreichen Kampf um die Kunden.
Die jährlichen Merchandising-Einnahmen sanken von 1978 auf 1979 um 13 Prozent und dann noch mal um 43 Prozent von 1979 auf 1980. Zwischen 1978 und 1980 stürzte der Return on Investment der Einzelhandelsabteilung von mehr als 15 Prozent über dem Branchenmedian auf 31 Prozent darunter . Die Kapitalrendite lag fast 40 Prozent unter der von Walmart.
Sears versuchte sein wohlbekanntes Einzelhandelsproblem auf verschiedenste Arten zu lösen, von denen keine den fortgesetzten Untergang aufhalten konnte. Das Unternehmen war nicht mehr der erfolgreichste Einzelhändler und Anfang der Neunzigerjahre auch nicht mehr der größte. Im Februar 1991 überholten es sowohl Walmart als auch Kmart und wurden die Nummern eins und zwei unter den Einzelhändlern.
Die letzten Kapitel des Untergangs von Sears sind besonders gut bekannt: veraltete, heruntergekommene oder geschlossene Ladenlokale; wiederholte Versprechungen, die Geschäfte instand zu setzen oder zu modernisieren; die katastrophale Fusion mit Kmart von 2005 (die von mindestens einer Quelle als »doppelter Suizid« bezeichnet wurde); die Aufzehrung des Investitionskapitals und schließlich der lang erwartete Bankrott im Jahr 2018.
Das ist die vertraute Geschichte von Leben und Sterben eines einstmals großen Handelsunternehmens. Weniger bekannt dagegen ist die Geschichte von Sears, dem Finanzdienstleister. Dieses Sears florierte auch dann noch, als das Einzelhandelsunternehmen zugrunde ging.
Diese Geschichte beginnt 1899, nur drei Jahre nach dem ersten Sears-Katalog, als das Unternehmen eine Abteilung für Bankwesen eröffnete. Ab 1911 konnten die Kunden auf Kredit einkaufen.
Als 1931 immer mehr Kunden ein Auto besaßen, erkannte Sears eine Marktgelegenheit darin, ihnen Fahrzeugversicherungen zu verkaufen. Sie gründeten Allstate, dessen Versicherungsprodukte anfänglich über den Katalog und drei Jahre später dann an Standorten innerhalb der Sears-Geschäfte angeboten wurden. Allstate wurde zu einem florierenden Mitglied der Sears-Familie.
Bis zu den Fünfzigerjahren expandierten die Verkaufsstandorte über die Sears-Geschäfte hinaus, und Allstate wurde zu einem breit aufgestellten Versicherungsanbieter einschließlich Auto, Haftpflicht, Leben, Gesundheit, Handel und Eigentum.
Die Siebziger waren ein Zeitraum erheblichen Wachstums für den Finanzdienstleistungsbereich. Die Sears-Kreditkarte war beliebter als Visa oder Mastercard. Fast 60 Prozent der amerikanischen Haushalte besaßen eine. Allstate hatte sich als einer der größten Unfallversicherer des Landes etabliert.
Bis Ende der Siebzigerjahre, als Sears versuchte, seinen schwächelnden Einzelhandelsbereich zu retten, begann Allstate auch aggressiv expandierend seinen Fußabdruck in der Finanzdienstleistungsbranche zu hinterlassen.
Im Oktober 1981 teilte Sears zwei große Akquisitionen mit. Erstens hatten sie für 175 Millionen Dollar Coldwell Banker gekauft, den landesweit größten Immobilienmakler. Zweitens hatten sie für 600 Millionen Dollar Dean Witter gekauft, einen der größten Effektenmakler. Diesen Akquisitionen ließ Sears im Jahr 1985 die Einführung einer neuen, überall einsetzbaren Kreditkarte folgen, die mit Visa und Mastercard konkurrierte, der Discover Card.
Anfang der Neunziger waren Allstate, Dean Witter, Discover und Coldwell Banker erfolgreiche, wachsende, gewinnbringende Tochterunternehmen von Sears. Damals hatten sie einen gemeinsamen Marktwert von über 16,6 Milliarden Dollar. Sie waren und sind (mit Ausnahme von Dean Witter) bekannte Unternehmen, auch wenn kaum jemand wusste, dass sie einmal Sears gehört haben.
Das wirft natürlich die Frage auf, warum Sears insolvent werden konnte, wo ihnen doch so beneidenswerte Marken gehörten?
Schuld daran ist das Aussteigen. Genauer gesagt, das Aussteigen aus den falschen Sachen.
Als die Einzelhandelsgeschäfte immer schlechtere Finanzergebnisse lieferten, setzten die institutionellen Anleger, denen der Großteil der Unternehmensaktien gehörte, das Management unter Handlungsdruck.
Die Reaktion des Managements? Im September 1992 kündigte Sears an, sein Finanzdienstleistungsimperium aufzugeben. Diese Unternehmensbereiche sollten verkauft und das Geld genutzt werden, um Sears »zurück zu seinen Einzelhandels-Wurzeln« zu bringen.
In den folgenden zweieinhalb Jahren entäußerte Sears sich all dieser profitablen Vermögenswerte. Sie verkauften 20 Prozent von Allstate bei einem Börsengang, was über 2 Milliarden Dollar einbrachte. Den restlichen Wert von Allstate verteilten sie in Form einer Aktiendividende in Höhe von 9 Milliarden Dollar an die Anteilseigner. In demselben zweiteiligen Prozess stießen sie auch Dean Witter Discover ab, erzielten 900 Millionen Dollar durch einen Börsengang und verteilten die restlichen Aktien (im Wert von etwa 4,5 Milliarden Dollar) als Dividende. Schließlich verkauften sie Coldwell Banker direkt für 230 Millionen Dollar.
Natürlich gelang es Sears nicht, die Probleme im Einzelhandel zu lösen, und es machte Pleite. Die erfolgreichen Finanzdienstunternehmen, die sie gegründet, klug erworben und mit Sachverstand geführt hatten, gediehen weiter.
Der Börsenwert von Allstate lag im Oktober 2021 bei fast 40 Milliarden Dollar. Es ist der größte börsennotierte private Versicherungsanbieter und versichert rund 16 Millionen Haushalte.
Nicht einmal fünf Jahre nachdem Sears Dean Winter Discover abgestoßen hatte, kaufte Morgan Stanley das Unternehmen für 10 Milliarden Dollar in Aktien, was 40 Prozent des kombinierten Unternehmenswerts ausmachte. Der Börsenwert von Morgan Stanley im Oktober 2021 lag bei über 180 Milliarden Dollar. Darin ist nicht der Wert von Discover enthalten, das 2007 ein eigenes Börsenunternehmen wurde (als Discover Financial Services). Der Börsenwert von Discover betrug im Oktober 2021 fast 40 Milliarden Dollar.
Coldwell Banker fusionierte mit einigen anderen Immobilienfirmen und ging 2012 als Realogy Holdings an die Börse. Realogy war 2020 an 1,4 Millionen Immobilientransaktionen beteiligt und hatte im Oktober 2021 einen Börsenwert von über 2 Milliarden Dollar.
Als Einzelhändler führte Sears von Mitte der Siebzigerjahre an einen aussichtslosen Kampf. Anfang der Neunzigerjahre war die Lücke zwischen Sears und seinen Konkurrenten auf allen Seiten noch weiter gewachsen. Im selben Zeitraum führte Sears auch ein unglaublich erfolgreiches Finanzdienstleistungsunternehmen.
Als Sears sich entscheiden musste, welche Assets sie verkaufen und welche sie behalten wollten, wäre das für einen Außenstehenden wohl eine einfache Entscheidung gewesen. Ob es sich dabei um einen rational denkenden Finanzprofi gehandelt hätte oder um einen der Unternehmensplünderer, von denen Sears sich umkreist fühlte, die Antwort hätte gelautet, mit dem Finanzdienstleistungsbereich von dem zugrunde gehenden Einzelhandelsbereich wegzurennen.
Doch Sears machte das Gegenteil. Sie eskalierten ihr Commitment für die Ladengeschäfte und opferten alle anderen Besitztümer, um den Kampf zu finanzieren.
Warum passierte das?
Ein Teil des Problems ist, dass Sie Sears wahrscheinlich nur als Einzelhandelsunternehmen kennen (oder in Erinnerung haben). »Sears« und »Einzelhandel« sind Synonyme. Einzelhandel war ihre Identität.
Hätten sie an den Finanzdienstleistungen festgehalten und den Einzelhandel dichtgemacht oder verkauft, dann hätten sie in gewisser Weise aufgehört, Sears zu sein, zumindest das Sears, das jeder kannte. Das ist die Entscheidung, vor der sie standen.
Wenn es ums Aufgeben geht, so lässt sich das am schwersten aufgeben, was man ist.
Leon Festinger, einer der bekanntesten Psychologen des 20. Jahrhunderts, las 1954 einen Zeitungsartikel über eine Weltuntergangssekte.
Ein interessantes Merkmal einer Weltuntergangssekte ist, dass sie das genaue Datum voraussagt, an dem der Weltuntergang eintreten wird, in diesem Falle der 21. Dezember 1954. Aus diesem Grunde interessierte Festinger sich für den Artikel, weil er wissen wollte, was mit den Mitgliedern der Sekte passierte, wenn der Tag kam und die Welt nicht unterging, wenn sie klar und unmissverständlich erfuhren, dass die Überzeugungen, die sie der Sekte und allem, was dazugehört, hatten beitreten lassen, falsch waren. Würden sie sie aufgeben oder daran festhalten?
Festinger sowie seine Kollegen Henry Riecken und Stanley Schachter gehörten zu den ersten Psychologen, die diese Frage aufwarfen, als sie 1956 ihre klassische Feldstudie When Prophecy Fails veröffentlichten.
Die Geschichte, die die Forscher lasen, handelte von der Vorstadthausfrau Marian Keech, die Botschaften von einer außerirdischen überlegenen Intelligenz von einem Planeten namens Clarion erhalten hatte. Diesen Botschaften zufolge würde eine verheerende Flut am 21. Dezember große Teile der westlichen Hemisphäre auslöschen.
Die Psychologen nahmen Kontakt mit Keech auf und erfuhren, dass sie eine der Führerinnen der Seekers war, deren Mitglieder glaubten, die Welt würde an diesem Tag untergehen, und Aliens würden um Mitternacht ein Raumschiff schicken, um die wahren Gläubigen zu retten.
Die Anhänger dieser Sekte trafen eine Reihe von lebensverändernden Maßnahmen. Sie kündigten ihre Stellen, gingen nicht mehr zur Schule und brachen die Beziehungen zu Freunden und Angehörigen ab, falls diese Skeptiker waren und der Sekte nicht folgten. Sie verkauften oder verschenkten ihr Hab und Gut.
Die Psychologen schleusten sich in die kleine Gruppe der Sektenanhänger ein, um beobachten zu können, wie Menschen sich in dieser lebensechten Situation verhielten, nachdem ihre Überzeugungen als Irrtum entlarvt worden waren. Festingers Team verbrachte in den Tagen vor dem 21. Dezember möglichst viel Zeit mit Keech und ihren Anhängern.
Am frühen Abend des 20. Dezember hatten sich fünfzehn Menschen in Marian Keechs Haus versammelt, um auf das Raumschiff und das Ende der Welt zu warten. Als es auf Mitternacht zuging, saßen alle im Wohnzimmer, die Mäntel auf dem Schoß liegend, die Stille nur durchbrochen vom Ticken zweier Kaminuhren.
Als eine der Uhren Mitternacht schlug und die Aliens nicht kamen, gab es einen Augenblick der Verwirrung, bis einer der Gläubigen darauf hinwies, dass die andere Uhr noch nicht geschlagen habe, also gehe die erste wohl vor.
Ein paar Minuten darauf schlug auch die zweite Uhr zwölf, und immer noch waren keine Außerirdischen gekommen. Zwei der Seekers waren vom Ausbleiben des mitternächtlichen Flugs nach Clarion hinreichend überzeugt, um nicht länger auf die Flut zu warten. Sie gingen nach Hause und kehrten nicht zurück, ein Verhalten, wie man es von einem rationalen Menschen erwarten würde, dessen Überzeugungen (egal wie schrullig) gerade so unverkennbar widerlegt worden sind.
Damit blieben noch acht echte Gläubige und Festingers Beobachter.
Das in When Prophecy Fails berichtete, hinlänglich bekannte Ergebnis war, dass die anderen acht Mitglieder nicht bereit waren, ihren Glauben an die Prophezeiung abzulegen, obwohl sie nachweislich falsch gewesen war. Im Gegenteil, die Anhänger eskalierten sogar ihr Commitment.
Obwohl die Seekers die Medienaufmerksamkeit bisher gescheut hatten, suchten sie sie nun aktiv. Während Keech eine Vielzahl neuer Botschaften von Clarion erhielt, welche die Situation erklärten, neue Vorhersagen machten und weitere bevorstehende Erscheinungen versprachen, gaben die Anhänger häufige und ausführliche Interviews und gaben Neuigkeiten über den jüngsten Kontakt mit den Außerirdischen preis. Sie nahmen jeden auf, der neugierig auf ihre Gruppe geworden war, ungeachtet seiner Interessen oder seiner potenziellen Motive.
Überraschenderweise waren die beiden Gruppenmitglieder, die vor dem prophezeiten Ende der Welt am skeptischsten gewesen waren, Cleo Armstrong und Bob Eastman, jetzt die fanatischsten, vor allem Cleo. Ihr Vater, Dr. Thomas Armstrong, Arzt in einer kleinen Universitätsstadt, war gemeinsam mit Keech einer der Anführer der Seekers geworden. Auch ihre Mutter Daisy war eine Gläubige. Bob Eastman betrachtete Dr. Armstrong als seinen Mentor und lebte bis Dezember praktisch mit der Familie zusammen.
Eine Reihe von Ereignissen in den letzten Tagen vor dem Weltuntergang ließ Cleo und Bob daran zweifeln, worauf sie sich eingelassen hatten. Sie besuchten und hörten die Aufzeichnung von zwei Séancen eines Mediums namens Ella Lowell. Das Ganze entwickelte sich zu einer stümperhaften Abfolge von verwirrenden, unzusammenhängenden und widersprüchlichen Prophezeiungen und Botschaften. Cleo und Bob waren auch desillusioniert von der Leichtgläubigkeit der anderen Seekers, die blindlings an die Echtheit der Botschaften glaubten, die angeblich von Clarion stammten, aber offensichtlich Streiche der ortsansässigen Jugendlichen waren.
Doch »in den Tagen nach dem 21. erfuhr ihr Verhalten eine erstaunliche Wende. Obwohl es höchst plausibel gewesen wäre, dass sie ihre Überzeugungen nach dem Ausbleiben des Ereignisses aufgaben, geschah genau das Gegenteil.«
Bei der PR -Offensive der Sekte am 22. Dezember und die ganze Woche hindurch übernahm Cleo häufig das Beantworten der Reporterfragen für ihren Vater und für Marian Keech. Anders als bei ihrem vorherigen Verhalten den Journalisten gegenüber (nämlich ihnen gänzlich aus dem Weg zu gehen oder sie anzulügen, um sie loszuwerden), wurde sie nun bereitwillig zur Stimme der Überzeugungen der Sekte.
Fünf Monate später wartete sie in der Tiefgarageneinfahrt eines örtlichen Hotels erneut die ganze Nacht auf das Eintreffen der Außerirdischen. Ella Lowell hatte sich an Dr. Armstrong gewandt und ihm gesagt, seine Familie würde an diesem Tag an diesem Ort abgeholt. Cleo, die jetzt an der Uni studierte, hatte in ihrem Wohnheim keine Erlaubnis für nächtliches Wegbleiben eingeholt, vielleicht weil sie glaubte, es würde keine Rolle spielen, wenn sie erst auf dem Weg zu Clarion sei.
Für jemanden, dessen Glaube im Dezember noch geschwankt hatte, ehe die Außerirdischen nicht auftauchten, war dieses eskalierende Commitment bis hin zu nächtlichem Warten auf ein Raumschiff in einer Tiefgarage einigermaßen bizarr.
Einer Sekte anzugehören, wird zu einem integralen Bestandteil der Identität. Man ist ein Seeker. Man glaubt an die Prophezeiung. Die Mitgliedschaft wird zu dem, was man ist, besonders weil die Überzeugungen, denen man anhängt, so extrem sind, ebenso wie die Handlungen, die man aufgrund dieser Überzeugungen ausführt. Den Kontakt zu Familie und Freunden abbrechen. Alle Besitztümer aufgeben. Sich selbst zum Gespött der restlichen Welt machen.
Wir wünschen uns eine beständige Identität. Da unsere Glaubenssätze die Beschaffenheit dieser Identität prägen, sind wir auch motiviert, unsere Überzeugungen intakt zu halten. Wenn die Sekte Ihre Identität ist, wie können Sie dann Beständigkeit wahren, falls Sie Informationen erhalten, die mit den Überzeugungen kollidieren, die Sie überhaupt erst zum Anhänger dieser Sekte gemacht haben?
Sie könnten jetzt natürlich verächtlich auf die Seekers herabsehen und sagen: »Diese Leute haben nichts mit mir zu tun, die sind ja offensichtlich verrückt. Die haben eine Sekte gegründet. Wie soll man da erwarten, dass sie rational denken?«
Aber Sie müssen begreifen, dass wir alle in einer Sekte unserer eigenen Identität sind.
Warum beschloss Sears, die profitablen Unternehmensbereiche zu verkaufen und den Einzelhandelsbereich zu retten, der seit über fünfzehn Jahren in Schieflage war? Sears war in seiner Identität als Einzelhändler gefangen. So definierte sich das Unternehmen, und so wurde es auch von der Welt betrachtet.
Hätte Sears den Einzelhandelsbereich abgestoßen, so hätte es in diesem Moment aufgehört, Sears zu sein, zumindest das Sears, wie es die Öffentlichkeit kannte.
Sasha Cohens Identität war ohne jeden Zweifel »Sasha Cohen, die Eiskunstläuferin«. Mit fünfundzwanzig hatte sie achtzehn Jahre ihres Lebens dem Eislauf gewidmet, schlimme Verletzungen durchgestanden und war weltberühmt. So sah sie sich selbst, und so wurde sie von der Öffentlichkeit gesehen. Zum Teil erklärt das, warum sie bereit war, zu leiden, unglücklich mit der Schinderei eines endlosen Kreislaufs von Eisshows und Vorführungen. Aufhören hätte in gewisser Weise bedeutet, sich selbst aufzugeben.
Sie müssen nicht weltberühmt sein, damit diese Identitätsproblematik sich intensiv auf Ihre Fähigkeit der Schadensbegrenzung auswirkt. Das gilt für jeden. Wenn Sie sagen: »Ich bin Lehrer«, oder: »Ich bin Programmierer«, oder: »Ich bin Arzt«, oder: »Ich bin Gamer«, dann treffen Sie eine Aussage darüber, wer Sie sind.
Erwachsene fragen Kinder: »Was willst du mal werden, wenn du groß bist?« Sie fragen nicht: »Welchen Beruf möchtest du haben?«
Wir fragen, wer sie werden wollen, nicht was sie tun wollen. Das ist ein Unterschied mit einer großen Abgrenzung.
Und Kinder verstehen das. »Ich werde Feuerwehrmann«, oder: »Ich werde Ärztin«, oder: »Ich werde Basketballer.«
Wenn Ihre Identität das ist, was Sie tun, dann lässt sich das, was Sie tun, schwer aufgeben, denn es bedeutet, dass Sie aufgeben, wer Sie sind.
Festinger setzte voraus, dass das Verhalten der Seekers nach dem Ausbleiben der Außerirdischen durch kognitive Dissonanz zu erklären war. Er stellte die Theorie auf, dass wir eine Dissonanz erleben, wenn neue Informationen unseren vorherigen Überzeugungen widersprechen. So etwas flößt uns Unbehagen ein, und wir wollen dieses Unbehagen beenden. Daher argumentieren wir die neuen Informationen weg, um unsere vorherigen Glaubenssätze zu verteidigen.
Elliot Aronson, einer von Festingers ersten Studenten und selbst Pionier der Sozialpsychologie, erklärte, was bei solchen Konflikten geschieht: »Wir bringen uns selbst oft in ein verwirrendes Durcheinander von Selbstrechtfertigung, Leugnung und Verzerrung.«
Wenn die Welt uns mitteilt, dass unsere Überzeugungen überholt werden müssen, wenn neue Informationen mit etwas kollidieren, an das wir glauben, sagt uns unsere Intuition, dass wir diesen Konflikt lösen, indem wir unsere Überzeugung ändern. Doch allzu oft reden wir wie die Sektenanhänger die neuen Informationen klein, um unsere vorherige Überzeugung zu verteidigen und daran festhalten zu können.
So brauchen wir nicht einzugestehen, dass wir einen Fehler gemacht oder an etwas geglaubt haben, das gar nicht stimmt.
»Ich habe nicht grundlos meine Familie verlassen und all meine weltlichen Besitztümer abgegeben.«
Nehmen wir ein einfaches Beispiel. Sie stellen ein Wahlplakat für einen bestimmten Kandidaten in Ihrem Vorgarten auf, weil Sie ihn unterstützen. Seine Politik deckt sich mit Ihren Wertvorstellungen. Sie helfen im Wahlbüro mit. Sie werben für ihn um Stimmen. Sie kleben Sticker auf Ihr Auto. Dann kommt ans Licht, dass der Kandidat in einen schlimmen Skandal verwickelt war. Der Skandal ist gravierend genug, dass Sie den Kandidaten niemals unterstützt hätten, wenn Sie das schon vor Beginn des Wahlkampfs gehört hätten, bevor Sie Ihre Entscheidung getroffen haben.
Aber jetzt haben Sie Ihre Unterstützung des Kandidaten schon öffentlich gemacht. Ihre Nachbarn wissen, dass Sie für ihn eintreten. Genau wie jeder, der Sie zu Hause besucht hat oder vorbeigefahren ist und das Schild in Ihrem Vorgarten gesehen hat.
Was machen Sie jetzt?
Die Dissonanztheorie sagt, Sie reißen nicht das Schild aus der Wiese und knibbeln nicht die Autoaufkleber ab. Stattdessen setzen Sie Ihre Unterstützung fort, eskalieren sogar Ihr Commitment, indem Sie die neuen Informationen kleinreden. Die Gegenseite versucht, Ihren Kandidaten fertigzumachen. Das Establishment will ihn nicht hochkommen lassen. Das ist es ja gerade, was Sie an ihm mögen, dass er dem Establishment eine lange Nase dreht.
Es sind nicht nur neue Informationen, die mit Ihren vorherigen Überzeugungen in Konflikt geraten können. Manchmal können auch Ihre eigenen Handlungen Dissonanz erzeugen.
Stellen Sie sich vor, Sie halten sich für einen wahrheitsliebenden Menschen, und eines Tages kommen Sie zu spät zur Arbeit, weil Sie verkatert sind und den Wecker nicht gehört haben. Als Ihr Chef fragt, warum Sie zu spät sind, sagen Sie, Sie hätten im Stau gestanden.
Diese Handlung des Lügens verstößt gegen Ihre Überzeugung, ein wahrheitsliebender Mensch zu sein. Das schafft Dissonanz. Halten Sie sich jetzt also plötzlich für einen Lügner? Nein. Sie relativieren die Unwahrheit, die Sie Ihrem Chef erzählt haben.
»Es hat ja keinem geschadet. Ich mach das ja nicht regelmäßig. Das war bloß eine Ausnahme.«
Ob es nun Ihr eigenes Handeln ist oder eine neue und widerlegende Information – wenn es zu einem Kampf zwischen den Fakten und der Veränderung Ihrer Überzeugungen kommt, verlieren allzu oft die Fakten.
Wie die anderen von uns betrachteten Kräfte fügt die kognitive Dissonanz dem Katamari neues Volumen hinzu und macht den Ausstieg noch schwerer. Jedes Mal, wenn Sie neue Informationen wegargumentieren, um an einem Glaubenssatz festhalten zu können, wird dieser Glaubenssatz fester in Ihre Identität verwoben. Der Vorgang des Zurückweisens von Fakten wird zu etwas Wiederkehrendem. Wenn Sie das nächste Mal auf widerlegende Informationen stoßen oder Ihr Handeln nicht mit Ihren Überzeugungen übereinstimmt, sind Sie sogar noch stärker motiviert, an diesen festzuhalten.
Das erklärt, warum einige der Seekers so eindeutige Signale dafür zurückweisen konnten, dass Marian Keech keinen direkten Draht zu superintelligenten Wesen von einem anderen Planeten hatte. Sie waren gezwungen, das Ausbleiben der Außerirdischen und der Flut mit ihrer Entscheidung in Einklang zu bringen, den Kontakt zu ihren Familien und Freunden abzubrechen und ihr Hab und Gut abzugeben, also relativierten sie das Ausbleiben des Weltuntergangs.
Ihre Hingabe könnte das Ende der Welt abgewendet haben. Das war alles nur ein Test, und die Seekers haben ihn bestanden. Es gab kein Raumschiff, weil die Außerirdischen bereits auf der Erde waren und sich bald zu erkennen geben würden.
So lösten sie den Konflikt, genau wie wir alle es tun.
Wenn es um Identität geht, wollen wir alle ein positives Selbstnarrativ aufrechterhalten. Wir wollen gut über uns denken. Wir wollen glauben, dass wir beständig und rational sind, dass wir keine Fehler machen, dass es stimmt, was wir über die Welt glauben.
Wenn wir in den Spiegel sehen, wollen wir jemanden sehen, über den wir gut denken können.
Wir wollen auch, dass andere uns genauso sehen. Wir fürchten, wenn andere Ungereimtheiten zwischen unseren gegenwärtigen und unseren früheren Entscheidungen oder Handlungen erkennen, halten sie uns für im Irrtum, irrational, launenhaft und fehleranfällig.
Der Wunsch, ein positives Selbstbild aufrechtzuerhalten, trägt zu dem Problem mit dem Aufhören bei. Wenn Sie aufhören, schließen Sie ein mentales Konto, und wir wissen, dass wir diese Konten nicht gerne mit Verlust abschließen.
Wenn Sie eine Überzeugung aufgeben, ist dies der Moment, in dem Sie eingestehen, dass Sie sich geirrt haben. Wenn Sie eine Richtung einschlagen und dann Ihre Meinung ändern, bewegen Sie sich von »scheiternd« zu »gescheitert«. Und wenn Sie gescheitert sind, heißt das nicht, dass es ein Fehler war, überhaupt erst damit anzufangen?
Die Antwort lautet natürlich nein. Aber so fühlt es sich für uns nicht an.
Wenn Sie einem Kult angehören und aussteigen, warum sind Sie dann überhaupt erst beigetreten? Warum haben Sie Ihr ganzes Geld weggegeben? Warum haben Sie mit Ihrer Familie gebrochen?
Wenn Sie den Eiskunstlauf aufgeben, was bedeutet das für all die Zeit, die Sie in dieses Vorhaben gesteckt haben? Heißt das, alle diese Entscheidungen waren falsch? Heißt das, Sie haben Ihr Ziel verfehlt?
Der Wunsch, die interne Folgerichtigkeit aufrechtzuerhalten, hindert uns am Aufhören, wie wir bereits gesehen haben. Das gilt auch für die Sorge, dass andere uns mehr verurteilen als wir uns selbst.
Barry Staw zeigte, wie viel schwerer der Ausstieg ist, wenn man sich Sorgen über das Urteil anderer macht. Denken Sie an Big Muddy , wo die Teilnehmer, die einer von zwei Abteilungen eines Unternehmens ein Budget zuteilten und dann erfuhren, dass diese anschließend schlecht abschnitt, ihr finanzielles Engagement für dieselbe Abteilung verstärkten im Vergleich zu Personen, die diese Entscheidung unvoreingenommen trafen. Während diejenigen, die ganz neu an die Verteilung der 20 Millionen Dollar herangingen, der verlustreichen Abteilung, die zuvor ein zusätzliches Budget erhalten hatte, 9 Millionen Dollar zuteilten, gaben diejenigen, die vorher die Zuteilungsentscheidung getroffen hatten, ihr unter ansonsten identischen Umständen 13 Millionen Dollar.
Diese Eskalation scheint deutlich beeinflusst zu sein von dem Wunsch, eine innere Folgerichtigkeit zu bewahren. Wenn ich dieser Abteilung erst Geld zuteile und dann den Kurs ändere, würde das nicht bedeuten, dass die ursprüngliche Entscheidung ein Fehler war?
Wird dieses eskalierende Commitment schlimmer, wenn man die Motivation hinzufügt, von anderen in einem positiven Licht gesehen zu werden?
Gemeinsam mit Frederick Fox von der University of Illinois ging Staw 1979 genau dieser Frage nach, ob der Wunsch nach äußerer Bestätigung die Zuteilungen für die Abteilung noch weiter erhöht, die schon bei der vorherigen Entscheidung bevorzugt wurde.
Dazu wurde einigen der Studienteilnehmer gesagt, ihre Stelle als Financial Officer des Unternehmens sei befristet. Ihre Zuteilung von 20 Millionen Dollar könne darüber entscheiden, ob sie bleiben konnten oder nicht. Man sagte ihnen auch, nachdem sie die erste Budgetentscheidung getroffen hätten, habe der Vorstand dies mit einiger Skepsis aufgenommen und nur zögerlich genehmigt.
Diese Teilnehmergruppe erhöhte ihr Commitment noch stärker und teilte nun der zuvor gewählten Abteilung 16 Millionen Dollar zu. Das ist eine gewaltige Schadwirkung, eine fast 25-prozentige Steigerung gegenüber denen, die der Abteilung schon zuvor Geld zugewiesen hatten, und eine rund 75-prozentige Steigerung gegenüber den unvoreingenommenen Entscheidern.
Warum erfährt dieses irrationale Verhalten eine solche Stärkung, wenn man den Teilnehmern sagt, dass andere ihre Entscheidung beurteilen werden?
Wir alle versuchen uns dagegen zu verteidigen, wie andere uns unserer Vorstellung nach beurteilen. In unseren Köpfen macht es einen negativen Eindruck, wenn wir nicht an unserer ursprünglichen Entscheidung festhalten.
Die Ironie an der Sache ist: Der Wunsch, von anderen für rational gehalten zu werden, lässt uns in unseren Entscheidungen weniger rational werden.
Wenn jemand weiß, dass er beurteilt wird, nimmt er vernünftigerweise an, dass seine Entscheidung mit dem Standard dessen verglichen wird, wie ein rationaler Mensch sich in dieser Situation verhalten würde.
Sie könnten nun annehmen, das würde Ihre Entscheidungen angemessener machen, doch das Gegenteil ist der Fall. Darüber nachzudenken, wie Sie eingeschätzt werden, wenn Sie aufgeben, lässt Sie noch weiter von dieser Benchmark der Vernunft abweichen.
Am Ende geben Sie weniger auf und engagieren sich stärker.
Es erweist sich, dass die Beliebtheit Ihrer Überzeugungen im umgekehrten Verhältnis zu Ihrer Entschlossenheit steht, unter allen Umständen dafür zu kämpfen. Wie Katy Milkman, Professorin an der Wharton School und Autorin des Bestsellers How to Change von 2021, und John Beshears, der jetzt an der Harvard Business School lehrt, gezeigt haben, erhöht eine Position abseits des Mainstreams die Wahrscheinlichkeit, dass Sie Ihr Commitment angesichts von gegenteiligen Informationen verstärken.
Die Forscher betrachteten dafür nichts so Exzentrisches wie Weltuntergangssekten. Stattdessen untersuchten sie achtzehn Jahre Gewinnschätzungen von Konzernen und die Aktualisierungen von über sechstausend Börsenanalysten.
Ein wichtiger Bestandteil der Arbeit eines Börsenanalysten ist es, Gewinnschätzungen für Konzerne vorzunehmen und zu aktualisieren. Wenn wir an Finanzanalysten denken, stellen wir uns einen sehr rationalen und sehr analytischen Beruf vor. Der Begriff »Analyst« steckt ja schon in der Berufsbezeichnung.
Milkman und Beshears wollten wissen, was mit Analysten passiert, die Gewinnschätzungen weit außerhalb des allgemeinen Konsens vorgenommen hatten, wenn sich diese Schätzungen später als sehr weit von den tatsächlichen Gewinnen entfernt entpuppten.
Würden die Analysten stur an ihren ursprünglichen Prognosen festhalten, oder würden sie die Vorhersagen aufgrund der neuen Informationen anpassen?
Die Leser dieses Buches wird es kaum überraschen, dass sie sehr oft stur blieben. Die Analysten eskalierten ihr Commitment für ihre extreme Position, und das trotz der Information, dass die tatsächlichen Ergebnisse nicht mit der Prognose übereinstimmten.
Das scheint kognitive Dissonanz und Identität in Aktion zu sein. Sie machten eine Prognose, die vom allgemeinen Konsens abwich. Sie machten dies öffentlich. Wenn die tatsächlichen Gewinne ihrer Prognose widersprachen, legten sie noch einen drauf, genau wie die Sektenanhänger, als die Außerirdischen nicht auftauchten.
Börsenanalysten haben keinen finanziellen Anreiz dafür, an fehlerhaften Schätzungen festzuhalten. Genau genommen ist das Gegenteil der Fall. Die Autoren stellten fest, dass die Analysten nicht von der Aufmerksamkeit als Querdenker oder einsame Wölfe profitierten. Vielmehr wurden sie für ihre Sturheit bestraft, wenn sie falsche Gewinnvorhersagen trafen.
Wenn sie für die Aufrechterhaltung solcher Prognosen bestraft wurden, warum machten sie das dann?
Das Bedürfnis nach Folgerichtigkeit ist stark und scheint sich noch zu verstärken, wenn man einmal vom Status quo abgewichen ist. Wenn Sie diese extremen Positionen einnehmen, vergrößern Sie die Distanz zwischen sich und der breiten Masse. Diese Distanz verknüpft Ihre Position stärker mit Ihrer Identität, ein Teil dessen, wie Sie sich selbst im Vergleich zu anderen definieren.
Um diesen Punkt hervorzuheben, untersuchten Milkman und Beshears, wie Analysten auf aktualisierte Gewinninformationen reagierten, je nachdem, ob ihre Schätzungen von denen der Allgemeinheit abwichen oder ihnen entsprachen. Wenn extreme Positionen stärker definieren, wer wir sind, sollte man bei denjenigen mit eher angepassten Positionen weniger eskalierendes Commitment erleben.
Genau das fanden sie auch heraus.
Analysten, die angepasste Prognosen getroffen hatten, die sich später als weit von den tatsächlichen Gewinnen entfernt erwiesen, schienen vollkommen bereit, diese Prognosen zu revidieren. Nur die Analysten mit den extremen Vorhersagen waren so stur.
Das war eins der Probleme, die Andrew Wilkinson bei der Schadensbegrenzung mit Flow hatte. Er nahm eine nicht dem allgemeinen Konsens entsprechende, sehr öffentliche Position bezüglich der Überlegenheit von Eigenfinanzierung gegenüber der Venture-Capital-Unterstützung ein. Das brachte ihn dazu, die Flut von Angeboten an Venture-Capital abzulehnen. Später räumte er die Wichtigkeit ein, die er dieser Position und seinen Aussagen beigemessen hatte. »Ich habe das glorifiziert, und das war meine Identität. Ich habe wirklich Wert darauf gelegt.« Als seine fremdkapitalgestützten Mitbewerber ihn zu überflügeln begannen, hatte dies vermutlich Einfluss auf sein fortgesetztes Engagement, lange nachdem die Welt ihm gezeigt hatte, dass seine Investitionen keine positive Werterwartung hatten.
Die Lektion des Ganzen ist, dass wir unsere Identität nicht zu sehr an eine einzige Sache binden sollten, an die wir glauben. Und besonders vorsichtig müssen wir sein, wenn die Überzeugung vom Mainstream abweicht und öffentlich ist, denn so ist es viel schwerer, von ihr abzulassen, zur Hölle mit den Tatsachen.
Das Tragische an der Sache ist, dass wir uns oft falsche Vorstellungen davon machen, wie andere uns sehen. Das heißt, einige der irrationalen Entscheidungen, die wir über das Aufgeben treffen, beruhen auf einer falschen Angst davor, wie das für andere aussehen mag.
Diese Vorstellungen sind ehrlich gesagt oft unfreundlich und wenig großzügig unseren Mitmenschen gegenüber, weil wir annehmen, dass andere uns für gescheitert halten, wenn wir aufgeben, selbst wenn dies offensichtlich die richtige Entscheidung ist. Dass sie uns für wankelmütig oder schwach halten. In diesen Szenarios glauben wir nicht, dass es irgendeine Form von Empathie oder Verständnis dafür geben wird, warum wir so entschieden haben, wie wir entscheiden haben.
Doch diese Einschätzung anderer ist für gewöhnlich nicht gerechtfertigt. Wie sich zeigt, denken andere oft überhaupt nicht so, wenn wir aufgeben. Diese Sorgen, die wir auf andere projizieren, sind nur das Kopfkino, mit dem wir uns herumplagen.
So war es auch bei Sarah Olstyn Martinez. »Ich fürchtete, meine Notarztkollegen würden mich für einen Schwächling halten, für ein Weichei, das nicht klarkam. Ich machte mir Sorgen darüber, wie meine Supervisoren mich sehen würden.« Sie fürchtete sich davor, ihrem Chef Bescheid zu sagen, weil sie annahm, er würde verärgert oder traurig sein.
Als Olstyn Martinez es ihm endlich sagte, war ihr Chef tatsächlich sehr verständnisvoll. Am Ende des Gesprächs entschuldigte er sich dafür, bei ihr versagt zu haben, ihr die Arbeit nicht weniger stressig gemacht zu haben, sodass sie hätte weitermachen können. Ihr Einsatzleiter sagte dasselbe, was eine große Bestätigung für sie war.
Wir wachsen vielleicht rasch über die ausgedachten Kindergeschichten von Furcht einflößenden Monstern, Drachen und Hexen hinaus. Die Gruselgeschichten über das Urteil anderer, die an ihre Stelle treten, quälen uns jedoch als Erwachsene weiterhin und sind genauso wenig real.
Auch wenn es zahlreiche Geschichten über Menschen gibt, die einfach nicht aufhören können, sei es aufgrund von Identität, versunkenen Kosten, Status-quo-Fehler oder einer anderen der Kräfte, welche die Waage manipulieren, so sind Sie doch nicht dazu verurteilt, es genauso zu halten. Wir wissen, dass Stewart Butterfield, Sarah Olstyn Martinez und Alex Honnold nur drei Beispiele sind, die uns Hoffnung geben.
Bei Unternehmen wie Sears, Blockbuster oder ABC Stores erkennen wir die Handschrift der Identität in ihrem Untergang. Doch auch hier gilt: Nicht jedes Geschäft ist zu diesem Schicksal verdammt. Es gibt beachtenswerte Beispiele für Firmen, die sich von dem Kerngeschäft getrennt haben, das ihre Identität bestimmte, und damit einen nachhaltigen Erfolg schufen.
So sehr, wie Sears in der Öffentlichkeit als Einzelhändler wahrgenommen wurde, galt Philips als die Firma, die Glühbirnen verkaufte. Das war ihre Identität. In unserer Jugend stand der Name »Philips« auf der Packung, wenn eine Glühbirne gewechselt werden musste, und auch auf der Birne selbst war »Philips« aufgedruckt.
Sowohl Sears als auch Philips wurden in den 1890ern gegründet. Im Jahr 2012, Jahrzehnte nach dem Einsetzen der Todesspirale von Sears, war Philips der weltweit größte Hersteller von Leuchtmitteln und verkaufte in 180 Länder. Seit den 1960er-Jahren war Philips zudem bekannt für Verbraucherelektronik und erfand Kassetten, CD s, VCR s und DVD s. Sie waren nicht nur eng mit diesen Produkten verbunden, weil sie die Technologie entwickelt hatten, sondern auch hier stand ihr Name direkt darauf.
Obwohl die Unternehmensidentität jegliches Potenzial dafür hatte, sich dem Wandel zu widersetzen, verkaufte Philips ab 2020 überhaupt keine Leuchtmittel mehr. Seine drei Geschäftsbereiche, die 98 Prozent der Umsätze schaffen, sind Diagnose & Behandlung, Connected Care und Personal Health.
Philips ist nun ein Unternehmen des Gesundheitswesens mit fast 20 Milliarden Euro Jahresumsatz.
Genau wie Sears mit den Finanzdienstleistungen begann Philips schon früh, seine medizinischen Abteilungen aufzubauen, in Verbindung mit dem besser bekannten Beleuchtungsgeschäft.
Die Brüder Philips gründeten 1914 etwas, das man heute als Innovations-Hub bezeichnen würde, ein Labor zur Entwicklung neuer Produkte. Im Jahr 1919 begann Philips, Röntgengeräte herzustellen. Seither nahm das Unternehmen immer weiter große Investitionen in die Forschung vor und stieß in den Bereich Gesundheitswesen vor. Bis 2014, fast ein Jahrhundert nach dem Beginn der Produktion von Röntgengeräten, machte die Medizintechnik 40 Prozent ihrer Geschäfte aus.
So wie die allermeisten Menschen keine Ahnung hatten, dass Sears Allstate oder eins der anderen Finanzdienstleistungsunternehmen besaß, galt das auch für Philips und die Medizintechnik. Wenn man vor zehn Jahren jemanden auf der Straße gefragt hätte: »Was stellt Philips her?«, so hätte er gesagt: »Glühbirnen und Fernsehapparate.«
Während Sears seine profitablen Geschäftsbereiche verkaufte, um das Commitment für seine Kernidentität zu eskalieren, tat Philips genau das Gegenteil und kündigte 2014 an, das Kernbeleuchtungsgeschäft zu verkaufen, um sich auf das Gesundheitswesen zu konzentrieren. Im Jahr 2016 stieß das Unternehmen 25 Prozent von Philips Leuchtmittel durch einen Börsengang ab. Auch der Verkauf der restlichen 75 Prozent wurde angekündigt und bis Ende 2019 durchgeführt.
Anders als Sears teilte sich Philips in zwei Unternehmen auf und hielt an dem Teil fest, der weniger bekannt war, aber für die Zukunft eine höhere Werterwartung hatte.
Wir kennen die kognitiven und identitätsbezogenen Fallstricke, wenn es ums Aufhören geht. Irgendwie haben diese bemerkenswerten Personen und Unternehmen es geschafft, diese Hindernisse zu überwinden. Mit dem Verständnis für den damit verbundenen wissenschaftlichen Hintergrund können wir aus diesen Beispielen lernen und uns ein Vorbild für bessere Ausstiegsentscheidungen schaffen.
Wir haben bereits einige Strategien dafür ausgelotet: als Erstes den schwierigen Teil bestimmen und bearbeiten, um falsche Fortschritte zu vermeiden; über die Umstände nachdenken, unter denen man aussteigen kann, bevor man mit dieser Entscheidung konfrontiert wird; Vorbindungsverträge und K.-o.-Kriterien schaffen.
Richten wir unsere Aufmerksamkeit nun auf eine andere Strategie: sich externe Hilfe holen.
Zusammenfassung Kapitel 8